Klassik (508/7-338 v.Chr.)

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aventinus antiqua Nr. 20 [30.11.2012] 

 

Harald Richter 

Gewaltdarstellung bei Thukydides 

 

I. Einleitung 

Geschichtsschreibung ist Konstruktion von Wirklichkeit. Das ist kein Geheimnis und gilt heute noch wie vor über zweitausend Jahren, als die Historiographie in Griechenland begründet wurde. [1] Diese Feststellung sollte dabei nicht als negative Kritik missverstanden werden – letztlich kann Geschichtsschreibung nichts anderes sein als eine Deutung der erzählten Wirklichkeit und gerade dadurch ermöglicht sie es überhaupt, das Geschehen mit Blick auf bestimmte Besonderheiten zu untersuchen und diese erst sichtbar zu machen. [2]

Diese Eigenart von Historiographie macht es aber auch erforderlich, bei der Lektüre historiographischer Texte nach deren Perspektive zu fragen. Insbesondere die antike Historiographie ist ohne kritische Untersuchung nicht zu verstehen, denn gerade Autoren wie Thukydides, dessen „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ Gegenstand dieser Arbeit sein wird, betrieben mehr als nur das Sammeln von Fakten. Mit ihrer Darstellung der Vergangenheit verbanden die antiken Historiographen stets Wirkungsabsichten für ihre Gegenwart. [3]

Die Stilmittel, mit denen der Historiograph seine „Botschaft“ ausdrückte, waren vielfältig. Bei Thukydides gehören zu den offensichtlichsten etwa die zahlreichen Reden, die sein Werk durchziehen und längst zum Gegenstand zahlloser Untersuchungen geworden sind. Ein weiteres, weniger beachtetes Stilmittel ist jedoch auch die Darstellung von Gewalt. 

Die Schilderung expliziter Gewalt ist ein starkes Stilmittel, das auf die Erzeugung von Affekten beim Leser abzielt. Die Meinung des Rezipienten soll nicht mehr auf logischer, sondern auf der Ebene der Gefühle beeinflusst werden. Wenn also explizite Gewalt in historiographischen Texten geschildert wird – insbesondere bei Autoren wie Thukydides, die mit Gewaltdarstellungen insgesamt sehr sparsam sind – dann verfolgt der Autor mit diesen Stellen mit größter Wahrscheinlichkeit eine Absicht, die über das bloße Wiedergeben des Geschehens hinausgeht. [4]

Diese Arbeit soll daher die Darstellung von Gewalt in Thukydides’ „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ erörtern und die Funktion der von Thukydides gewählten Art der Gewaltdarstellung im Gesamtkontext des Werkes untersuchen. Nach einer kurzen Vorstellung des Autors wird zunächst die generelle, sehr nüchterne Gewaltdarstellung zu betrachten sein, bevor die bemerkenswerten Ausnahmen, bei denen Thukydides die Gewalt deutlicher und detaillierter als sonst schildert, genauer untersucht werden. Am Ende soll schließlich die Frage beantwortet werden, welche Absicht Thukydides mit seiner spezifischen Art der Gewaltdarstellung verfolgte.

II. Thukydides – der Autor und seine Zeit 

Über die Person des Thukydides ist relativ wenig bekannt; am wichtigsten sind die Angaben zu seinem Leben, die er in seinem Werk über sich selbst gibt. Daraus geht hervor, dass er um 460 (spätestens 454) geboren sein dürfte; er entstammte einer alten athenischen Adelsfamilie mit verwandtschaftlichen Verbindungen nach Thrakien, wo Thukydides denn auch über erhebliche Besitzungen und Goldminen verfügte. [5] Als der Peloponnesische Krieg 431 v. Chr. ausbrach, begann Thukydides seinen eigenen Angaben zu Folge bereits mit der Aufzeichnung der Ereignisse des Krieges, „in der Erwartung, er werde bedeutend sein und denkwürdiger als alle vorangegangenen.“ (Thuk. I 1). 430 v. Chr. erkrankte der Historiker an der Seuche, die Athen heimsuchte, überlebte sie und wurde schließlich 424 zum Strategen gewählt. Als es ihm aber in dieser Position nicht gelang, den Zugriff des spartanischen Feldherren Brasidas auf die strategisch wichtige thrakische Stadt Amphipolis zu verhindern, wurde er für 20 Jahre aus Athen verbannt. In der Zeit seiner Verbannung unternahm er wohl zahlreiche Reisen, um für sein Geschichtswerk zu recherchieren; er selbst gibt an, er habe auch Nachrichten von der Gegenseite sammeln können (Thuk. V 26). 404 konnte Thukydides schließlich nach Athen zurückkehren, wenige Jahre später – zwischen 399 und 396 v. Chr. [6] – verstarb er;  ob er ermordet wurde, wie von manchen vermutet, darüber lässt sich nur noch spekulieren. [7]

Wichtiger als die Biographie Thukydides’ ist für das Verständnis des Werkes jedoch das ereignis- und geistesgeschichtliche Umfeld, in dem er schrieb. Im Zuge der Perserkriege hatte Athen zur mächtigsten Polis neben Sparta aufsteigen können; der attische Seebund, einst als Bündnis gleichberechtigter Poleis zum Kampf gegen die Perser gegründet, wurde von Athen als Hegemon dominiert, welches die übrigen Städte bald nur noch wie Kolonien behandelte. [8]

Der Aufstieg Athens, den es in erster Linie seiner Flotte verdankte, hatte zugleich weitreichende politische Folgen – die Einführung der Demokratie. Die untersten Schichten der attischen Bürgerschaft, die Theten, waren als Ruderer von großer Bedeutung für die militärische Schlagkraft Athens und konnten daher nicht mehr von der Teilhabe am politischen Leben ausgeschlossen werden. [9]

In enger Verbindung zur Demokratie stand die Sophistik. In einem politischen System, in dem Macht auf der Fähigkeit zur Überzeugung basierte, [10] boten die Sophisten als Lehrer der Rhetorik die Ausbildung in eben jener Fähigkeit an; außerdem stellten sie Überlegungen zur Natur der Macht und zur Machtpolitik an. Damit ist nicht gemeint, dass die Sophisten grundsätzlich das Recht des Stärkeren als ein Naturrecht und damit per se als auch moralisch gerechtfertigt betrachtet hätten; diese Position stellte auch innerhalb der Sophistik ein Extrem dar. [11] Stattdessen akzeptierten sie schlichtweg die Realität, nämlich dass Macht- und Gewaltausübung in der Politik eine bedeutende Rolle spielen. Platon versuchte, den Faktor „Macht“ aus seinen Vorstellungen von Politik zu eliminieren – die Sophisten hingegen akzeptierten diesen Faktor als gegeben und versuchten, mit ihm umzugehen.

In diese Denkströmung ist auch Thukydides einzuordnen. [12] Sein „Peloponnesischer Krieg“ ist zu großen Teilen eine Anleitung zum richtigen Gebrauch von Macht, eine Warnung vor Hybris und Allmachtphantasien. Damit ist Thukydides weit entfernt von einer Philosophie des „Naturrechts des Stärkeren“. [13]

Die ethisch-moralische Reflexion über Macht und Machtausübung bildet den roten Faden von Thukydides’ gesamtem Werk, der Beschreibung der Ereignisgeschichte mindestens neben-, wenn nicht gar übergeordnet. [14] Um eine stilistische Analyse des Werkes vornehmen zu können, muss man diesen Punkt stets im Auge behalten, auch und insbesondere bei der Analyse von Gewaltszenen – ist doch Gewalt nichts anderes als der offensichtlichste, unmittelbarste Phänotypus von Machtausübung.

III. Gewaltdarstellung bei Thukydides 

1. Allgemeine Gewaltdarstellung 

a) Das Methodenkapitel 

Das Methodenkapitel des Thukydides, in dem er die Absichten darlegt, die er mit seinem Geschichtswerk verfolgt, und auf seine Arbeitsweise eingeht, enthält selbst zwar noch keine Darstellung von Gewalt, ist aber dennoch von großer Wichtigkeit für die Analyse. Thukydides grenzt sich nämlich schon programmatisch von seinen Vorgängern ab, was schließlich auch Auswirkungen auf seine allgemeine Darstellungsweise hat. [15]

Thukydides stellt hohe Ansprüche an sein eigenes Werk, vor allem den Anspruch auf Wahrheit und Genauigkeit; diesen formuliert er als Erster in einer Weise, dass er zum Anspruch einer historischen Wissenschaft wird. [16] Bewusst grenzt sich Thukydides damit von den Dichtern und auch von Herodot ab, bei dem epische Traditionen noch eine große Rolle spielten. [17] Indem er die „Geschichtenerzähler“ kritisiert, die „in ihren Berichten mehr auf die Befriedigung der Hörlust achten als auf die Wahrheit“ (Thuk. I 21), wendet er sich auch gegen deren Darstellungsweise: „Zum bloßen Anhören wird vielleicht durch das Fehlen des erzählerischen Elements meine Darstellung weniger erfreulich erscheinen.“ (Thuk. I 22)

Diese Wahrheitsfindung dient bei Thukydides weiterhin einem übergeordneten Ziel, sie ist nicht Selbstzweck: [18] „Wer aber klare Erkenntnis des Vergangenen erstrebt und damit auch des Künftigen, das wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird, der wird mein Werk für nützlich halten, und das soll mir genügen. Als ein Besitz für immer, nicht als Glanzstück für einmaliges Hören ist es aufgeschrieben.“ (Thuk. I 22)

b) Gewaltdarstellung 

Thukydides Darstellung von Gewalt ist im Großen und Ganzen außerordentlich zurückhaltend, selbst im Vergleich mit anderen Historikern vor und auch nach ihm, als seine Erzähltechnik vielfach aufgegriffen wurde. Obwohl er die Geschichte eines Krieges verfasst und auch zahlreiche Gefechte und Schlachten beschreibt, fehlen explizite Gewaltdarstellungen – abgesehen von den noch näher zu behandelnden Ausnahmen – völlig. [19] Stattdessen handelt Thukydides kleinere Scharmützel meist mit einer knappen Angabe von Sieger und Besiegtem ab; große Schlachten hingegen schildert er mit einer geradezu detailverliebten Exaktheit, bei dem er die geographischen Gegebenheiten der Schlachtfelder ebenso ausführlich beschreibt wie die Zusammensetzung und Aufstellung der Truppen und schließlich den Schlachtverlauf selbst. Der Leser kann sich den Ablauf der Schlachten anhand von Thukydides‘ Beschreibungen oftmals minutiös vorstellen – und dennoch fehlen blutige Einzelheiten komplett, die Darstellung bleibt bei aller Genauigkeit äußerst nüchtern und ohne jede Emotion vorgetragen.

Hier zeigt sich deutlich der Bruch mit der epischen Tradition; in der Ilias etwa stehen die Taten einzelner Heroen im Vordergrund, deren Mut und Tapferkeit sie im Sinne der agonistischen Gesellschaft der archaischen Zeit vor allen Anderen auszeichnen. [20] Aus eben diesem Grunde werden in den zahlreichen Zweikämpfen der Ilias Tod und Gewalt detailliert beschrieben; im Kampf verdienen sich die homerischen Helden ihren Ruhm, ihre Unsterblichkeit. Das Töten wird zum Selbstzweck, der Ruhm eines Helden bemisst sich an der Zahl der von ihm besiegten Gegner und der Gefahr für sich selbst, der er sich dabei aussetzt. [21] Hinzu kommt, dass es auch die Taten Einzelner sind, die – neben den immer wieder eingreifenden Göttern – den Verlauf des Trojanischen Krieges bestimmen. Die häufigen expliziten, zum Teil völlig übertriebenen Gewaltszenen der Ilias sollen also die Individuen hervorheben.

Herodot, der erste große Historiker der Antike, geht bereits andere Wege, orientiert sich aber noch immer in mancher Hinsicht an der epischen Tradition; er verwendet explizite Gewaltdarstellung und mythische Motive vor allem, um einen Gegensatz von Griechen und Barbaren zu konstruieren sowie um einzelne Herrscher als Tyrannen zu charakterisieren. [22] Bei der Beschreibung der Perserkriege kommt schließlich noch die Hervorhebung einzelner Griechen hinzu, die im Kampf gegen die Perser Großes leisten und damit von Herodot in die Tradition der homerischen Heroen gestellt werden. Im Unterschied zu Homer will Herodot damit allerdings weniger den Ruhm der spezifischen Individuen begründen, als vielmehr den Ruhm aller Griechen im Perserkrieg an einzelnen Beispielen verdeutlichen. [23]

Die Kontexte, in denen Homer und Herodot extreme Gewalt überliefern und darstellen, passen aber schon prinzipiell nicht zum Geschichtsbild Thukydides’. Für ihn sind es nicht Individuen, „große Männer“ oder Heroen, die den Verlauf der Geschichte letztlich bestimmen, auch die Götter spielen für Thukydides keine Rolle – für ihn ist die treibende Kraft hinter der Geschichte die „menschliche Natur“, das den Menschen innewohnende Streben nach Macht. [24] Der Peloponnesische Krieg hat für Thukydides seine Bedeutung somit auch weniger als singuläres Ereignis denn als ein exemplarischer Modellfall für Kriege, die so und in ähnlicher Form immer und immer wieder vorkommen werden – aufgrund der „menschlichen Natur“. [25]

Insofern spielen Individuen für Thukydides auch eine weit weniger bedeutende Rolle als für Homer und Herodot. [26] Selbst diejenigen Personen, die Thukydides näher charakterisiert – Perikles, Kleon, Brasidas und Alkibiades – stehen weniger für sich selbst, als für jeweils einen bestimmten Typus von Politiker und dessen Umgang mit der „menschlichen Natur“. [27]

Ein Herausheben der Individuen durch explizite Gewaltdarstellung erübrigt sich, so dass Thukydides dies selbst dann unterlässt, wenn es sich angeboten hätte, etwa bei der Schlacht von Amphipolis, wo beide Feldherren, Kleon und Brasidas, den Tod finden. Beide Männer waren von gewisser Bedeutung für den Kriegsverlauf, und vor allem seine Verachtung für Kleon lässt der sonst meist neutral berichtende Thukydides immer wieder durchscheinen. [28] Kleons Tod ist dann zwar nicht gerade der eines Heroen – er wird auf der Flucht von einem Peltasten getötet – aber Thukydides belässt es dennoch bei einer kurzen, trockenen Bemerkung (Thuk. V 10,9). Nicht einmal die genaue Todesart erfährt man. Ebenso trocken wird der Tod des Brasidas geschildert, der verwundet wird und noch vom Sieg seiner Männer erfährt, bevor er stirbt (Thuk. V 10,11). Beide Tode hätten sich für Ausschmückungen angeboten – worauf Thukydides aber verzichtet. Trotz ihrer Bedeutung für den Verlauf des Krieges sind sie für die Geschichte als Ganzes unwesentlich.

Wenn Thukydides also zu expliziten Gewaltdarstellungen greift, liegt die Vermutung nahe, dass er damit Ereignisse akzentuieren wollte, die über das bloße Kriegsgeschehen hinaus eine Bedeutung haben, [29] also nicht nur für den Peloponnesischen Krieg von Wichtigkeit sind, sondern exemplarisch stehen für den Verlauf der Geschichte, wie er sich nach Thukydides’ zyklischem Geschichtsbild wiederholen wird. [30] Insgesamt enthält das Werk zwei bemerkenswerte Ausnahmen von der nüchternen Darstellungsweise: Die Stasis von Kerkyra und die sizilische Expedition. [31] Beide sollen nun näher untersucht werden.

2. Explizite Gewaltdarstellung 

a) Die Stasis von Kerkyra 

Der erste Abschnitt, der sich durch die genaue Schilderung von Gewalt von der Erzählweise des übrigens Werkes abhebt, ist Thukydides’ Beschreibung des Bürgerkrieges auf der Insel Kerkyra:  

Als Folge des großen Krieges kam es innerhalb der Bürgerschaft zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen einer demokratischen und einer oligarchischen Partei, die in mehreren blutigen Exzessen endeten. Die in einer ersten Phase des Bürgerkrieges siegreichen Demokraten töten ihre Gegner auf jede erdenkliche Weise, wobei sie weder auf Moral noch Tradition Rücksicht nehmen: Schutzflehende werden von den Heiligtümern weggezerrt, in ihnen getötet oder gar im Tempel eingemauert (Thuk. III 81,5). Vor allem aber betrifft das Wüten des Mobs bald nicht nur rein politische Gegner: „Als Anschuldigungen brachten sie vor, diese wollten die Demokratie zerstören, einige aber fanden den Tod einer persönlichen Feindschaft wegen, andere, denen man Geld schuldig war, starben unter den Händen ihrer Schuldner.“ (Thuk. III 81,4)

Nach dieser ersten Mordwoche gelingt es einigen überlebenden „Oligarchen“, sich außerhalb der Stadt und auf dem Festland zu verschanzen und den Krieg von dort aus noch eine Weile fortzuführen. (Thuk. III 85). Schließlich aber werden sie zur Aufgabe überredet und gefangen genommen. Obwohl man ihnen einen fairen Prozess in Athen verspricht, fädeln ihre Gegner einen Plan ein, sie als „Vertragsbrecher“ darzustellen und töten in der Folge all ihre Gefangenen. Dieses zweite Massaker wird von Thukydides ebenso eindrücklich geschildert wie das erste: Die Gefangenen verbarrikadieren sich in ihrem Gebäude, woraufhin ihre Feinde das Dach abtragen und beginnen, die Insassen von oben herab mit Pfeilen und Steinen zu töten; in ihrer Verzweiflung begehen viele Selbstmord (Thuk. IV 48). So endet der Bürgerkrieg auf Kerkyra mit der brutalen Vernichtung der oligarchischen Fraktion. 

Auf die Beschreibung des ersten Massakers folgt bei Thukydides sein berühmtes Kapitel über die „Pathologie des Krieges“ (Thuk. III 82 – 84), in dem er den Verfall der Sitten, die Umkehr der Moral im Kriege beklagt. [32] Vor allem aber erlangt die „Pathologie des Krieges“ ihre Bedeutung darin, dass Thukydides auch hier keinen Einzelfall darstellen will, sondern die „menschliche Natur“ ganz allgemein:

„Und bei solcher Zwietracht brach viel Schweres über die Städte herein, wie es nun einmal ist und immer sein wird, solange das Wesen der Menschen gleich bleibt […]; denn in Frieden und Wohlstand leben Städte und Menschen nach besseren Grundsätzen, weil sie nicht in ausweglose Not geraten. Der Krieg aber, der die Annehmlichkeiten des täglichen Lebens raubt, ist ein harter Lehrmeister und gleicht die Leidenschaften der Menge den Gegebenheiten des Augenblicks an.“ (Thuk. III 82,2) 

Der Krieg verdirbt die Menschen nicht eigentlich – er bringt nur die dunklen Seiten ihres Wesens deutlich hervor, die in Friedenszeiten verborgen bleiben. [33]

Kurz gesagt: Thukydides ist der Ansicht, dass solche Gräuel aufgrund der Natur des Menschen immer wieder vorkommen werden, so dass seine explizite Darstellung der ausgeübten Gewalt das Augenmerk des Lesers nicht auf den speziellen Fall Kerkyra, sondern auf die dahinterstehende Gesetzmäßigkeit, die in der „Pathologie des Krieges“ erläutert wird, lenken soll. [34] Zumal Thukydides bereits betont, dass der Bürgerkrieg in Kerkyra nur der Erste einer Reihe von Bürgerkriegen gewesen sei: „Zu so wilder Grausamkeit trieb der Bürgerkrieg, man empfand das noch deutlicher, weil er der erste Krieg dieser Art war. Später geriet sozusagen ganz Hellas in Bewegung.“ (Thuk. III 82,1)

b) Die sizilische Expedition 

Der zweite Kontext, in dem Thukydides ausführlich Gewalt und Leid schildert, ist der des Untergangs der attischen Streitkräfte auf Sizilien. Die Militärexpedition der Athener nach Sizilien mit dem Ziel, Syrakus und die restliche Insel zu erobern, war die mit Abstand größte militärische Aktion des Krieges, an der Tausende von Soldaten und eine Flotte von einhundert Schiffen teilnahmen (Thuk. VI 31). Die Belagerung von Syrakus zieht sich über fast zwei Jahre hin, doch am Ende wird die Flotte der Athener vollkommen vernichtet und das Landheer muss sich zurückziehen, in der Hoffnung, verbündete Städte auf Sizilien zu erreichen. Bereits die unter den Soldaten herrschende verzweifelte Stimmung beim Aufbruch schildert Thukydides in einer für ihn ungewöhnlichen Weise und Eindringlichkeit (Thuk. VII 75). Aber nicht einmal der Rückzug steht für die Athener unter einem guten Stern: Sie werden verfolgt und schließlich von den Syrakusanern endgültig vernichtet. Diese letzte Schlacht der Athener auf Sizilien wird wiederum in ungewöhnlicher Drastik beschrieben – der Fluss, in dem die Durst leidenden Athener angegriffen werden, ist voller Leichen, Blut und Schlamm, und dennoch raufen sich die Soldaten noch um das Wasser (Thuk. VII 84,5). Die Überlebenden werden gefangen genommen und in Steinbrüchen zusammengepfercht, wo viele an Entkräftung und Krankheiten sterben – von allen Leiden, so Thukydides, die Menschen an einem solchen Ort zu erwarten hätten, blieb ihnen kein einziges erspart (Thuk. VII 87). 

Die Gewaltdarstellung dient Thukydides offenbar dazu, die Bedeutung des gescheiterten Unternehmens zu unterstreichen, schreibt er doch selbst: „Dieses Unternehmen war sicherlich von allen in diesem Krieg das größte, meiner Meinung nach sogar von allen, die wir aus der hellenischen Geschichte kennen […]“ (Thuk. VII 87,5). 

Wiederum liegt aber die wahre Bedeutung der Ereignisse in Sizilien für Thukydides gerade nicht in ihrer Einzigartigkeit. Der Ausgang der sizilischen Expedition war der Wendepunkt des Krieges und leitete das Ende der Vormachtstellung Athens ein. [35] Der Charakter der Schilderung der Ereignisse auf Sizilien ähnelt einer Tragödie, [36] aber auch in größerem Kontext bedient sich Thukydides hier eines alten Motivs: Aufstieg, Hybris und Fall. Als Athen auf dem Höhepunkt seiner Macht steht, vergisst es jede Mäßigung – die im Melierdialog vorgetragenen Ansichten der Athener über das ungezügelte Naturrecht des Stärkeren lassen jede Moral, jedes Recht vermissen. Der Melierdialog nimmt damit eine Schlüsselposition im Werk des Thukydides ein: hier offenbart sich die Hybris der Athener, die schließlich in der sizilianischen Expedition ihren Höhepunkt findet und letztlich den Fall Athens nach sich zieht. [37]

Wiederum zeichnet Thukydides also ein generelles Bild von der Geschichte: Der Natur des Menschen entspricht es, nach Macht zu streben; doch wenn der Machtgewinn mit Überheblichkeit, mit Hybris einhergeht, als Macht ohne Recht, so ist der Weg in den Untergang bereits vorgezeichnet. [38]

IV. Zusammenfassung

Thukydides beschreitet in Sachen Gewaltdarstellung neue Wege im Vergleich zu seinen, der epischen Tradition verpflichteten Vorgängern. Grund dafür ist insbesondere die Absicht des Historikers Thukydides, nicht nur den aktuellen Krieg als solchen darzustellen, sondern anhand des Kriegsverlaufs generelle Mechanismen zu verdeutlichen. Er geht dabei von der Natur des Menschen aus, gemäß derer der Mensch grundsätzlich nach Macht strebe; aufgrund dieses Machtstrebens sind Konflikte unvermeidlich und die damit verbundenen Ereignisse wie etwa Kriege werden sich wiederholen. Es ist also ein zyklisches Geschichtsbild, das Thukydides vor Augen hat. [39]

Insofern ist Thukydides Machtrealist. [40] Aber er setzt das natürliche Machtstreben der Menschen nicht automatisch als moralisch gerechtfertigt. Vielmehr versucht Thukydides, seine Leser davon zu überzeugen, dass Macht ohne Mäßigung und Recht letztendlich unweigerlich in den Untergang führt. Für ihn sind es Männer wie Perikles, die das begriffen haben, während seine Antipoden, Kleon und vor allem Alkibiades, mit ihrer zügellosen Machtpolitik den Fall Athens verschuldet haben. [41]

Im Dienste dieser Theorie der Macht steht auch die von Thukydides gewählte Darstellung von Gewalt. Er hebt keine Individuen hervor, wie es in der Ilias geschieht, da für ihn letztlich nicht einzelne Individuen den Verlauf der Geschichte maßgeblich bestimmen, sondern nur im Rahmen der Gegebenheiten, der „menschlichen Natur“, die Individuen wie auch Staaten zu einem nicht unwesentlichen Teil determiniert, handeln können. [42] Auch konstruiert er keine Gegensätze, wie Herodot Griechen und Barbaren gegenüberstellt, da die „menschliche Natur“ ihnen allen eigen ist. Thukydides verwendet die Schilderung expliziter Gewalt und menschlichen Leids stattdessen, um Ereignisse hervorzuheben, die eine Bedeutung über das bloße Geschehen hinaus haben, die den Verlauf der Geschichte illustrieren. Die Stasis von Kerkyra bringt die ungezügelte „menschliche Natur“ zum Vorschein, welche die Triebkraft hinter der Geschichte ist; die sizilische Expedition schließlich ist Sinnbild für die Hybris, mit der völlig ungezügelte Machtpolitik einher geht und die schließlich zum Untergang führen muss. [43]

Als einen „Besitz für immer“ hat Thukydides seine Geschichte des Peloponnesischen Krieges verfasst, da nach der menschlichen Natur die Ereignisse sich so oder ähnlich wiederholen werden. Dies zu erkennen und nicht der Verlockung ungezügelter Machtpolitik zu verfallen, ist die Einsicht, die für gute Politik erforderlich ist. [44] Wenn die Menschen sich also eher an einem Perikles orientieren denn an Alkibiades, so hätte Thukydides sein Ziel erreicht.

Literatur 

Quelle: 

Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Übersetzt und herausgegeben von Helmuth Vretska und Werner Rinner. Stuttgart 2009 (= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 1808). 

Sekundärliteratur: 

Burkert, Walter: Geschichtsschreibung. I. Griechische Geschichtsschreibung. A. Klassische Geschichtsschreibung. in: Andresen, Carl u.a. [Hrsg.]: Lexikon der Alten Welt. Band I: A commentariis – Gynaikonomen. Unveränderter Nachdruck der einbändigen Originalausgabe von 1965, Zürich, München 1990; Spalte 1064-1068.

Funke, Peter: Die griechische Staatenwelt in klassischer Zeit (500-336 v. Chr.), in: Gehrke, Hans-Joachim und Schneider, Helmuth [Hrsg.]: Geschichte der Antike. Ein Studienbuch. 3., erweiterte Auflage, Stuttgart 2010; S. 129-194. 

Luschnat, Otto.: Thukydides. In: Andresen, Carl u.a. [Hrsg.]: Lexikon der Alten Welt. Band 3: Rabbi – Zypresse. Unveränderter Nachdruck der einbändigen Originalausgabe von 1965, Zürich, München 1990; Spalte 3075-3080. 

Ottmann, Henning: Die Griechen. Von Homer bis Sokrates. Stuttgart 2001 (= Geschichte des politischen Denkens. Von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit. Band 1, Teilband 1). 

Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Geschichtschreibung bei den Griechen. Herodot, Thukydides. Frankfurt am Main, 1982 (= Tübinger Vorlesungen, Band 2). 

Schwinge, Ernst-Richard: Komplexität und Transparenz. Thukydides: Eine Leseanleitung. Heidelberg 2008 (= Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, Neue Folge, 2. Reihe, Band 121). 

Sonnabend, Holger: Thukydides. Hildesheim (u.a.) 2004 (= Studienbücher Antike, Band 13). 

Will, Wolfgang: Der Untergang von Melos. Machtpolitik im Urteil des Thukydides und einiger Zeitgenossen. Bonn 2006. 

Zimmermann, Martin: Extreme Formen physischer Gewalt in der antiken Überlieferung. in: Zimmermann, Martin [Hrsg.]: Extreme Formen von Gewalt in Bild und Text des Altertums. München 2009 (= Münchner Studien zur Alten Welt, Band 5); S. 155-192. 

Anmerkungen

  • [1]

     Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Geschichtschreibung bei den Griechen. Herodot, Thukydides. Frankfurt am Main, 1982 (= Tübinger Vorlesungen, Band 2), S. 9.

  • [2]

     Schwinge, Ernst-Richard: Komplexität und Transparenz. Thukydides: Eine Leseanleitung. Heidelberg 2008 (= Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, Neue Folge, 2. Reihe, Band 121), S. 9.

  • [3]

     Burkert, Walter: Geschichtsschreibung. I. Griechische Geschichtsschreibung. A. Klassische Geschichtsschreibung. in: Andresen, Carl u.a. [Hrsg.]: Lexikon der Alten Welt. Bd. I: A commentariis – Gynaikonomen. Unveränd. ND d. einbändigen Originalausg. v. 1965, Zürich, München 1990, Sp. 1064-1068, hier Sp. 1064 ff.

  • [4]

     Zimmermann, Martin: Extreme Formen physischer Gewalt in der antiken Überlieferung. in: Zimmermann, Martin [Hrsg.]: Extreme Formen von Gewalt in Bild und Text des Altertums. München 2009 (= Münchner Studien zur Alten Welt, Band 5), S. 155-192, hier S. 155 f.

  • [5]

     Sonnabend, Holger: Thukydides. Hildesheim (u.a.) 2004 (= Studienbücher Antike, Band 13), S. 9-12.

  • [6]

     Sonnabend: Thukydides, S. 10 f.

  • [7]

     Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Übers. u. hrsg. v. Helmuth Vretska u. Werner Rinner. Stuttgart 2009 (= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 1808), S. 784 f.

  • [8]

     Funke, Peter: Die griechische Staatenwelt in klassischer Zeit (500-336 v. Chr.), in: Gehrke, Hans-Joachim und Schneider, Helmuth [Hrsg.]: Geschichte der Antike. Ein Studienbuch. 3., erw. Aufl., Stuttgart 2010, S. 129-194, hier S. 148 f.

  • [9]

     Ottmann, Henning: Die Griechen. Von Homer bis Sokrates. Stuttgart 2001 (= Geschichte des politischen Denkens. Von den Anfängen bei den Griechen bis auf unsere Zeit. Bd. 1, Teilbd. 1), S. 92-112.

  • [10]

     Funke: Staatenwelt, S. 192.

  • [11]

     Ottmann: Griechen, S. 216.

  • [12]

     Sonnabend: Thukydides, S. 32 f.

  • [13]

     Ottmann: Griechen, S. 141 f.

  • [14]

     Schadewaldt: Anfänge, S. 374 ff.

  • [15]

     Schadewaldt: Anfänge, S. 287.

  • [16]

     Luschnat, Otto: Thukydides. In: Andresen, Carl u.a. [Hrsg.]: Lexikon der Alten Welt. Band 3: Rabbi – Zypresse. Unveränd. ND d. einbändigen Originalausg. v. 1965, Zürich, München 1990, Sp. 3075-3080, hier Sp. 3078.

  • [17]

     Schadewaldt: Anfänge, S. 278 f.; Ottmann: Griechen, S. 138.

  • [18]

     Thukydides ist damit nicht nur Geschichtsschreiber, sondern auch Geschichtsdenker, was ihn zum ersten Historiker in einem modernen Sinne werden lässt; vgl. Sonnabend: Thukydides, S. 50.

  • [19]

     Zimmermann: Gewalt, S. 168-170.

  • [20]

     Ottmann: Griechen, S. 21 f.

  • [21]

     Zimmermann: Gewalt, S. 161 f.

  • [22]

     Zimmermann: Gewalt, S. 164 ff.

  • [23]

     Zimmermann: Gewalt, S. 167 f.

  • [24]

     Will, Wolfgang: Der Untergang von Melos. Machtpolitik im Urteil des Thukydides und einiger Zeitgenossen. Bonn 2006, S. 118.

  • [25]

     Sonnabend: Thukydides, S. 50 ff.

  • [26]

     Sonnabend: Thukydides, S. 74 f.

  • [27]

     Sonnabend: Thukydides, S. 76; Ottmann: Griechen, S. 151 ff.

  • [28]

     Sonnabend: Thukydides, S. 53.

  • [29]

     Zimmermann: Gewalt, S. 170.

  • [30]

     Sonnabend: Thukydides, S. 50.

  • [31]

     Zimmermann: Gewalt, S. 169.

  • [32]

     Schadewaldt: Anfänge, S. 368 ff.

  • [33]

     Zimmermann: Gewalt, S. 169.

  • [34]

     Will: Melos, S. 117 f.

  • [35]

     Ottmann: Griechen, S. 149.

  • [36]

     Schadewaldt: Anfänge, S. 377 ff.

  • [37]

     Ottmann: Griechen, S. 149-151.

  • [38]

     Ottmann: Griechen, S. 151.

  • [39]

     Sonnabend: Thukydides, S. 50.

  • [40]

     Will: Melos, S. 119.

  • [41]

     Ottmann: Griechen, S. 148 f.

  • [42]

     Will: Melos, S. 118.

  • [43]

     Zimmermann: Gewalt, S. 170.

  • [44]

     Schadewaldt: Anfänge, S. 380 f.

Empfohlene Zitierweise

Richter, Harald: Gewaltdarstellung bei Thukydides. aventinus antiqua Nr. 20 [28.11.2012], in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/9751/

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Erstellt: 28.11.2012

Zuletzt geändert: 01.12.2012

ISSN 2194-1947