Republik (500-30 v.Chr.)

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aventinus antiqua Nr. 9 (Winter 2006) 

 

Waltraud Künstler 

Ciceros orator perfectus – ein realisierbares Rednerideal? 

 

Wer im alten Rom als Politiker Erfolg haben wollte, musste sich, frei nach dem Motto "reden will gelernt sein", zum Redner ausbilden lassen. Ob dazu mehr als natürliche Begabung und Beherrschung der Rhetorik gehörten, wurde vor allem im 1. Jahrhundert v. Chr., der Zeitspanne der sich diese Arbeit widmet, kontrovers diskutiert. Welche Richtungen es gab und vor allem welchen Standpunkt Cicero vertrat, soll in dieser Arbeit untersucht werden. 

Der Arbeit liegt als Hauptquelle Ciceros Werk de oratore [1] zu Grunde. Für die Wahl dieser Quelle sind folgende Gründe anzuführen: Im Jahre 92 v. Chr. erließen die Censoren Lucius Licinius Crassus, einer der Gesprächsteilnehmer in Ciceros Dialog, und Gnaeus Domitius Ahenobarbus ein Edikt gegen die Rhetorikschulen [2]. Ein Jahr später (91 v. Chr.) begann die von Livius Drusus ausgelöste politische Krise [3], die letztlich für Cicero in den 50er Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. den Entzug der Redefreiheit bedeutete [4].  In ebendiesem Jahr, 91 v. Chr., lässt Cicero die Unterredung, welche er im Jahre 56 oder 55 v. Chr. geschrieben hat [5], stattfinden. Des Weiteren ist die Schrift fast vollständig erhalten geblieben. [6] Somit kann der heutige Leser Ciceros Gedankengang in seiner Gänze folgen. Außerdem spricht für die Wahl, dass in de oratore die beiden wichtigsten Richtungen im Streit um die Rednerausbildung sowie der Standpunkt Ciceros dargelegt werden.

In der neueren Forschung stellt die tiefgreifende politische und kulturelle Veränderung Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. einen wichtigen Faktor im Streit um die richtige Rednerausbildung dar [7]. Immer mehr Plebejer drangen durch ihren politischen Aufstieg in den Kreis der Aristokratie ein [8]. Ermöglicht wurde dies durch Kenntnisse im bürgerlichen Recht und vor allem in der Rhetorik. Dabei wurde die Erlernung der Rhetorik unter anderem durch das Aufkommen von Rhetorikhandbüchern erleichtert [9].

De oratore, das nur im zweiten und dritten Buch die Redetechnik behandelt [10], stellt in dieser Reihe eine Ausnahme dar. Durch die Vermischung von "rhetorical and (the) political theory" [11] versucht Cicero griechische Philosophie mit römischer Geschichte und Ethik in Einklang zu bringen [12].

Als Erstes werden mit einem kurzen historischen Abriss über die Entwicklung der Rednerausbildung ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. die Hintergründe, die zum Verbot der Rednerschulen führten, sowie der Inhalt des Edikts dargelegt. Nach der Vorstellung des Werkes de oratore, werden anhand dessen die beiden wichtigsten Standpunkte herausgearbeitet. Anschließend soll Ciceros Position genauer untersucht werden. In einem letzten Schritt wird diese dann in den historischen Kontext eingeordnet. 

Das censorische Edikt aus dem Jahre 92 v. Chr. 

Die Censoren Licinius Crassus und Domitius Ahenobarbus verboten im Jahre 92 v. Chr. [13] die von sogenannten rhetores Latini geführten Rednerschulen. Den Sittenwächtern missfiel das von den Redelehrern eingeführte novum genus disciplinae, bei dem die Schüler angeblich den ganzen Tag mit Nichtstun beschäftigt seien. Dieser Müßiggang widersprach dem mos maiorum und wurde somit als rechtswidrig erklärt [14]. Um zu verstehen was diese neue Lehrart war und wieso sie den Zorn der Censoren erregte, muss die historische Entwicklung der Rednerausbildung, ausgehend vom 2. Jahrhundert v. Chr., erläutert werden.

Die Vorgeschichte 

Im Jahre 161 v. Chr. wurden die griechischen Philosophen und Rhetoriker, welche im Zuge der östlichen Eroberungsfeldzügen nach Rom gekommen waren [15], ausgewiesen, aber offenbar ohne Erfolg, wie unter anderem die Ausbildung des Scipio zeigt [16]. Die Aristokratie vertraute die Erziehung ihrer Kinder griechisch-stämmigen gebildeten Sklaven an [17] und spätestens ab der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. erfreute  sich diese Praxis bei der nobilitas allgemeiner Beliebtheit. So wurden etwa Tiberius und Gaius Gracchus - beiden bescheinigt Cicero großes Redetalent und fundierte Theoriekenntnisse in der Rhetorik [18] - von den  Griechen Diophanes von Mytilene und Menelaos von Marathon unterrichtet [19].

Auch bei den homines novi hatte die Expansion Roms ihre Spuren hinterlassen. Reich geworden, etwa durch Einnahmen als publicani [20], strebten sie den politischen Aufstieg in Rom an. Dafür bot der Erfolg einer Anklage oder Verteidigung eines Klienten vor Gericht den richtigen Ausgangspunkt [21]. Zunehmend wurde dieser Weg auch vom Nachwuchs der nobilitas genutzt. Die notwendige Beredsamkeit wurde in römischen Rhetorikschulen [22] erlernt. Jeder, der das dafür nötige Schulgeld aufbringen konnte, hatte die Möglichkeit sich in der Rhetorik nach griechischem Vorbild unterweisen zu lassen. Auf die Lehre der Philosophie, ein wichtiger Bestandteil der griechischen Ausbildung, wurde in dem auf Griechisch und Lateinisch abgehaltenen Unterricht verzichtet. [23]

Durch dieses Unterrichtskonzept verlor die Aristokratie nicht nur ihren alleinigen Anspruch griechisch gebildet zu sein, sondern auch das Privileg die Politiker zu stellen [24]. Das Edikt aus dem Jahre 92 v. Chr. ist also als Versuch zur Bewahrung des mos maiorum zu sehen.

Ciceros Werk de oratore 

Die Ausbildung des homo novus  Marcus Tullius Cicero, der Verfasser der Schrift de oratore, verband beide Unterrichtskonzepte.  

Cicero [25] wurde im Jahre 106 v. Chr. als Sohn eines Ritters in Arpinum, ca. 100 km südöstlich von Rom gelegen, geboren. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Quintus besuchte er mit großem Erfolg in Rom eine Rednerschule. Beide sahen Crassus und Antonius als Vorbild an. [26] Daneben hörte der junge Cicero auf dem Forum den Rednern zu und ließ sich von Quintus Mucius Scaevola, einem bedeutenden Juristen und Freund seines Vaters, im römischen Privatrecht unterweisen. Nach Beendigung seines Militärdienstes lernte Cicero unter anderem bei den beiden großen griechischen Rednern Apollonios Molon und Philon aus Larissa. [27]

Im Jahre 81 v. Chr. begann Ciceros Tätigkeit als Anwalt. Seine Erfolge ermöglichten ihm bald in der Politik Fuß zu fassen. Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte er als Konsul 63 v. Chr. mit der Aufdeckung der Verschwörung des Catilina. Die Hinrichtung der Verschwörer ohne Gerichtsverfahren zwang Cicero jedoch, 58 v. Chr. in die Verbannung zu gehen. Nach seiner Rückkehr geriet er in den politischen Wirren der Triumviratszeit zwischen die Fronten. Der Versuch, die res publica zu erhalten, kostete dem homo novus schließlich am 7. Dezember 43 v. Chr. das Leben. [28]

Von der Politik enttäuscht, verfasste Cicero in der Zeit von 47 bis 44 v. Chr. eine Vielzahl rhetorischer und philosophischer Schriften, wie zum Beispiel im Jahre 46 v. Chr. Orator und Brutus oder nach dem Tod seiner Tochter Tullia im Jahre 45 v. Chr. Consolatio. [29]

Im Jahre 56 oder 55 v. Chr. [30] entstand de oratore. Cicero stellt darin seinem Bruder Quintus die gesamte Redekunst, welche für Cicero universale Bildung, für Quintus aber Talent und Übung voraussetzt, als Dialog eloquentissimorum [31] dar. Achard ist der Auffassung, Ciceros Absicht sei es gewesen, sich selbst ein Denkmal zu setzen und durch die Wiedervereinigung von Rhetorik und Philosophie den orator perfectus zu schaffen [32]. Das Werk wird also als eine verschlüsselte politische Botschaft gesehen [33]. Auf diese politische Komponente wird in dieser Arbeit zu einem späteren Zeitpunkt genauer eingegangen.

Die wichtigsten Teilnehmer des Dialogs sind Lucius Licinius Crassus, der das bereits erwähnte Edikt erließ [34], sowie der drei Jahre ältere homo novus [35] Marcus Antonius. Beide standen der Senatspartei, wenn auch nicht von Anfang an, wohlwollend gegenüber [36]. Des Weiteren war ihnen der Erfolg vor Gericht, sowie der daraus resultierende politische Aufstieg gemeinsam.

Ein weiterer Teilnehmer tritt im ersten Buch mit dem Augur und Rechtsgelehrten Quintus Mucius Scaevola [37], Anhänger des Scipionenkreises und Konsul des Jahres 117 v. Chr. [38], in Erscheinung.

Sah  Crassus seinen Erfolg in der Erlernung des römischen Privatrechts und der griechischen Bildung sowie in der Kenntnis des mos maiorum, so standen bei Antonius die natürliche Begabung und praktische Übung im Vordergrund [39].

Publius Sulpicius Rufus und Gaius Aurelius Cotta stehen Crassus bzw. Antonius als Schüler zur Seite [40].

Am Gespräch nehmen außerdem der Griechisch sprechende Quintus Lutatius Catulus, und dessen für seinen Witz bekannter Stiefbruder Gaius Julius Caesar Strabo teil [41].

Das in drei Bücher gegliederte Werk beginnt mit dem Prooemium Ciceros. Darin stellt Cicero die Absichten seiner Schrift dar und die Dialogpartner vor. Außerdem erfährt der Leser, dass das Gespräch 91 v. Chr. während der ludi Romani in Crassus' Villa in Tusculum stattfindet. Bestimmt wird das erste Buch von einem Lob der Redekunst aus dem Munde Crassus [42] und der Frage, ob die Rede auf Gericht und Politik beschränkt sei oder nicht [43]. Im Gegensatz zu Crassus befürworten Antonius und Scaevola die Beschränkung [44]. Einig sind sich Crassus und Antonius nur darin, dass Talent, Lerneifer und Übung wichtig sind [45]. Crassus glaubt außerdem an die Notwendigkeit der Erlernung aller Kenntnisse [46].

Im zweiten Buch ist es an Antonius die Redekunst zu loben [47]. Anschließend stellt er die drei Redegattungen dar [48], empfindet das rhetorische System in der Praxis als unpraktikabel [49] und wendet sich schließlich den officia oratoris zu. Nach dem Prooemium des letzten Buches, das diesmal auf die aktuelle politische Lage eingeht [50], behandelt Crassus die noch ausstehenden Aufgaben: Stil, rhetorischer Ausdruck und Ausschmückung, sowie Vortrag der Rede [51]. Durch seine erneute Forderung nach universaler Bildung des Redners ist ein Rückbezug auf das erste Buch zu erkennen [52]. Mit einem kurzen Ausblick in die Zukunft der römischen Beredsamkeit endet der Dialog [53].

Der orator perfectus 

Im Folgenden werden die Standpunkte des Antonius und des Crassus bezüglich des  orator perfectus dargestellt. Da es für dieses Gespräch und somit der darin vertretenden Auffassungen keine Belege gibt, ist davon auszugehen, dass Cicero seinen Dialogpartnern die Worte in den Mund gelegt hat. Trotzdem werden zum leichteren Verständnis bei der Nachzeichnung der Standpunkte sowohl Crassus als auch Antonius als Vertreter der jeweiligen Meinung benannt.

Die Meinung des Antonius 

Antonius stellt den orator perfectus als einen Meister der Rede dar. Dieser beherrscht die Redekunst ebenso, wie er seine Absicht mit wohlgesetzten Worten darzulegen vermag [54]. Erreicht wird dieser Anspruch nur durch kontinuierliches Üben [55], unter der Voraussetzung, dass sowohl eine natürliche Begabung Vorträge zu halten, als auch eine voluminöse Stimme vorhanden sind [56]. Letzteres liegt vor allem in dem von Antonius beschränkten Tätigkeitsbereich des Redners, dem Gericht und der Politik, begründet [57]. Trotz dieser Beschränkung sieht Antonius keine Veranlassung für den Redner ein Rechtsgelehrter [58] oder Philosoph [59] zu sein.

Gegen das wissenschaftliche Rechtsstudium spricht, dass bei kompliziert gelagerten Gerichtsverfahren die Entscheidung durch eine überzeugende Rede, nicht durch Gesetze getroffen wird [60]. Für die übrigen Fälle, sofern sie denn vor Gericht verhandelt werden [61], reicht es den Rat von peritis bzw. von libris depromi hinzuzuziehen [62].

Auch in der Philosophie sind Menschenkenntnis und Allgemeinbildung ausreichend [63]. Vor allem Letzteres erlangt ein zum Referieren begabter Mensch mühelos durch seine ihm angeborene Intelligenz [64].

Die Meinung des Crassus 

In Crassus’ Augen muss sich der orator perfectus auf jedem Gebiet wortgewandt und vielseitig äußern können [65]. Das heißt, dass ein  angeborenes Talent vorhanden [66], die Redekunst [67] beherrscht und viel, unter anderem schriftlich, geübt werden muss [68].

Darüber hinaus sind das Studium des bürgerlichen Rechts [69] und der Geschichte [70] unentbehrlich. Beides wird durch eine Fülle von Beispielen verdeutlicht [71]. So wäre es zum Beispiel ohne Rechtsstudium möglich, dass einem Redner der Erfolg, trotz eloquentia, versagt bleibt, wenn er bei Gericht für etwas plädiert, das den Gesetzen widerspricht [72].

Aber auch mit der Philosophie muss sich der Redner vertraut machen. Hierbei misst Crassus der Ethik den höchsten Stellenwert bei. [73] Denn nur die durch das Geschichts- und Philosophiestudium erworbenen Kenntnisse helfen dem Redner bei Lobreden oder in politischen Versammlungen. So wird etwa vermieden, Gesetzesvorschläge entgegen dem mos maiorum einzubringen [74].

Für Cicero braucht der orator perfectus mehr als Talent und Übung 

Antonius und Crassus sind sich also darin einig, dass die grundlegendste Voraussetzung, um ein Idealredner zu werden, das Talent darstellt. Schließlich gebe es für die Redekunst kein wissenschaftlich erlernbares System [75]. Aber erst durch das ständige Üben kommt das Talent zur Entfaltung. Den Schulen bescheinigen beide, dass die dort vorgetragenen Fälle die Wirklichkeit nur unzulänglich widerspiegeln [76]. Sinnvoller sei es, frühestmöglich den Rednern auf dem Forum oder bei Gericht zuzuhören.

In Verbindung mit einem gesunden Menschenverstand und Allgemeinbildung entspricht der Redner Antonius’ Forderungen nach einen orator perfectus [77].

Crassus gibt sich damit nicht zufrieden. Ein beredter Mensch ist in der Lage Menschen zu beeinflussen. Um den möglichen Missbrauch dieser Tugend zu vermeiden, ist es wichtig talentierte Menschen vor allem in Recht und Philosophie zu unterweisen. [78] Somit stellt das Verbot der Rednerschulen, die auf diese Teile in der Ausbildung verzichten, nur eine logische Konsequenz dar [79].

Auf welcher Seite Cicero im Dialog steht, ist leicht zu erkennen. Im Prooemium zum ersten Buch schreibt Cicero, sein jüngerer Bruder Quintus sei davon überzeugt, dass Talent und Übung ausreichende Voraussetzungen für einen Idealredner seien [80]. Im Dialog lässt Cicero diesen Standpunkt durch Antonius vertreten.  Der orator perfectus nach Ciceros Vorstellung hingegen wird durch Crassus verkörpert. Nur wer auf wissenschaftlichem Gebiet gebildet sei, könne ein vollendeter Redner werden [81].  Dass dies allein der Weg zum Idealredner ist, wird, abgesehen von Crassus ausgedehnten Ausführungen zum bürgerlichen Gesetz, der Geschichte und der Philosophie [82], an drei weiteren Stellen besonders deutlich. Zunächst, als Cicero am Ende des ersten Buches Crassus feststellen lässt, Antonius hätte mit seiner Darlegung nur die Kunst des Widerlegens, was bereits in den Bereich der Philosophie gehöre, unter Beweis stellen wollen [83]. Das Gleiche behauptet Cicero, diesmal aus eigenem Mund, zu Beginn des zweiten Buches. Antonius hätte niemals ohne Bildung griechischer Art eine derartige Wortgewandtheit erlangt [84]. Schließlich verleiht Crassus/Cicero im letzten Buch der universalen Bildung ein weiteres Mal Nachdruck [85].

Die politische Lage Roms in den 50ern 

Um Ciceros Position bezüglich der Rednerausbildung im Allgemeinen und den hohen Anspruch an den orator perfectus im Besonderen besser einordnen zu können, ist es nötig, sich die damals aktuelle politische Situation vor Augen zu führen. 

Noch bevor Caesar im Jahre 59 v. Chr. sein erstes Konsulat antrat, hatte er mit Crassus und Pompeius ein politisches Bündnis mit der Maxime ne quid ageretur in re publica, quod displicuisset ulli e tribus [86] für die Dauer von fünf Jahren geschlossen, das später als erstes Triumvirat bezeichnet wird. Das Ackergesetz und die rechtliche Anerkennung Pompeius’ Verwaltungsmaßnahmen im Osten, setzte Caesar beide Male ohne Zustimmung des Senats durch. Auf ähnliche Weise gelang es ihm, ein außerordentliches Imperium über Gallien zu bekommen. Im Jahre 56 v. Chr. wurden bei der Geheimkonferenz von Luca nicht nur weitere Sonderkommandos für die Dreimänner ausgehandelt, sondern auch die erneute Kandidatur Crassus' und Pompeius' für das Konsulat im folgenden Jahr und die Verlängerung des Triumvirats beschlossen. [87]

Diese Politik, die so völlig im Widerspruch zum mos maiorum stand, musste Cicero missfallen. War es doch die Aufgabe der Volkstribunen dem Volk Gesetzesvorschläge zur Abstimmung vorzulegen und die des Senats über die Finanzen und die Außenpolitik zu wachen. Ganz zu schweigen davon, dass Caesar gewichtige politische Entscheidungen außerhalb der Hauptstadt traf. 

P. Clodius Pulcher – ein populares Redetalent 

Mehr noch musste dem Verfechter des mos maiorum die Politik des Clodius missfallen, unter anderem deswegen, weil Cicero selbst darunter zu leiden hatte.  

Ganz der im 1. Jahrhundert v. Chr. üblichen Praxis entsprechend stieg der junge Patrizier über das Gericht in die Politik ein [88]. Aber erst durch den Religionsfrevel im Jahre 62 v. Chr. sicherte sich Clodius die öffentliche Aufmerksamkeit. Verkleidet als Frau, schlich sich Clodius in das Fest zu Ehren der bona dea ein, das ausschließlich Frauen zugänglich war. Clodius wurde enttarnt, aber es gelang ihm zu fliehen. Der Verurteilung des durch die optimates angestrengten Prozesses entrann der junge Patrizier dank einer groß angelegten Bestechung. Gleichzeitig schwang er sich, unterstützt von einer Schlägertruppe, zum Führer der populares auf [89].

Bereits ein Jahr später erklomm Clodius eine weitere wichtige Sprosse seiner Karriereleiter. Nachdem er von einem Plebejer adoptiert worden war, konnte Clodius sich um das Volkstribunat bewerben. Diese Adoption, die normalerweise ein langwieriger Prozess war, wurde innerhalb weniger Stunden vollzogen. Schlimmer noch musste für Cicero die Tatsache gewesen sein, dass sie sich an seine Rede gegen die damals aktuelle politische Lage anschloss, die er im Zuge eines Gerichtsverfahrens für Gaius Antonius hielt [90].

Während Clodius' Volktribunat im Jahre 59 v. Chr., bekam Cicero die Auswirkungen seiner Demagogie direkt zu spüren. Unter der Vielzahl der durchgepeitschten Gesetze des Volkstribunen  zielte eines speziell auf Cicero ab. Mit der Erneuerung einer lex Sempronia [91] sollten diejenigen geächtet werden, die römische Bürger ohne Gerichtsurteil töten lassen oder ließen. Cicero, der im Jahre 63 v. Chr. die catilinarischen Verschwörer eben ohne ein solches Urteil hatte hinrichten lassen, begab sich noch vor der Urteilsverkündigung freiwillig in die Verbannung. Aus dieser sollte er erst im Jahre 57 v. Chr. zurückkehren, nachdem seine Freunde mit Caesars und Pompeius' Unterstützung die Rückberufung, trotz des von Clodius' Prügelbanden verbreiteten Terrors, durchsetzen konnten [92].

Nach seiner Rückkehr, gelang es Cicero sein Haus auf dem Palatin wieder zu errichten, obwohl Clodius Teile des Grundstücks gekauft und der libertas geweiht hatte [93].

Im Jahre 56 v. Chr. klagte Clodius, mittlerweile zum Ädilen gewählt, T. Annius Milo wegen Gewaltverbrechen an. Milo war im Jahre 57 v. Chr. ein Amtskollege Clodius' gewesen und hatte seinerseits Prügelbanden organisiert, um dem Terror Clodius' Einhalt zu gebieten. Teile von Clodius' Reden zum Prozess, der nie zu einem Abschluss kam, sind bis heute erhalten geblieben. Das geschickt inszenierte Frage – Antwort – Spiel zwischen Clodius und  dem Volk [94] beweist seine Beherrschung der Redekunst. [95]

Mit Hilfe seiner eben beschriebenen rhetorischen Fähigkeit, sowie der Rekrutierung seiner Knüppelbanden und der breiten Unterstützung der plebs urbana und der Sklaven [96], gelang es Clodius seine Gegner politisch kaltzustellen – neben Cicero wurde zum Beispiel auch Cato durch ein Sonderkommando im Osten des Reiches zeitweilig außer Gefecht gesetzt – und in der Politik Roms Fuß zu fassen.

Schlussbemerkung 

Für den politischen Erfolg galt es, bis zum Aufkommen griechischer Bildung in Rom ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. und verstärkt in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr., der nobilitas und einer politisch einflussreichen Familie anzugehören, sowie für die Bewahrung des mos maiorum einzutreten.

Mit dem zunehmenden Aufstieg junger Männer, die häufig aus politisch wenig einflussreichen Familien stammten und durch den Erwerb rhetorischer Kenntnisse in Rednerschulen in der Politik Fuß fassen konnten, änderte sich die römische Gesellschaft und Politik grundlegend. Die plebs wurde als politisches Instrument entdeckt. Die "Politiker" köderten diese durch Selbstinszenierung und vor allem durch Überredungskunst. Wie das Zustandekommen von Caesars Ackergesetz zeigt, wurden dazu nicht nur die Aufhebung langjähriger Aufgabenbereiche politischer Institutionen, sondern auch Religionsfrevel, Gewalt oder sogar gesellschaftlicher Abstieg, wie es Clodius praktizierte, in Kauf genommen. 

Unter dem Eindruck dieser so völlig dem mos maiorum widersprechenden Politik ist Ciceros orator perfectus folgendermaßen einzuordnen: Wer dem von Antonius skizzierten Rednerideal zuspricht, das die politisch – populare Realität in den 50er Jahren der römischen Republik widerspiegelt, fordert den Missbrauch der Beredsamkeit heraus. 

Wer aber dem von Crassus - dem Sprachrohr Ciceros - entworfenem Rednerideal, gleichsam einer Symbiose aus Rhetorik, Philosophie und Recht, also der Verbindung von römischen Redetalent gepaart mit griechischer Bildung, zuspricht, verhindert ihren Missbrauch.  

Cicero, der selbst ein homo novus war, stand also für die traditionellen Werte der Aristokratie ein. Dabei vermischte er aber bei seiner eigenen Ausbildung traditionelle Komponenten, etwa das Studium bei griechischen Lehrern, mit modernen Komponenten, wie etwa den Besuch einer Rednerschule, die er in de oratore so vernichtend kritisierte. Gerade mit dieser modernen Komponente kam er seinem hochgestecktem Rednerideal ziemlich nahe. Konnte er sich doch dabei ganz unbefangen in ersten Deklamationen üben. 

Dass aber selbst bei der Befolgung dieses fast unerreichbaren Anspruchs, wie Cicero selbst zugibt, trotzdem der Missbrauch der Beredsamkeit nicht verhindert werden kann, zeigt das Beispiel von Gaius und Tiberius Gracchus. Beide kamen aus "gutem Hause", wurden durch ihre Redelehrer griechisch gebildet und dennoch: aus optimatischer Perspektive "missbrauchten" sie die Beredsamkeit, indem sie damit populare Politik betrieben. Hier sei zum Beispiel an die Übergehung des Senats bei der Abstimmung zur lex Sempronia agraria [97], sowie die rechtliche Stärkung römischer Bürger durch die bereits erwähnte  lex Sempronia de provocatione [98] erinnert.

Im Gegensatz zu Cicero erkannten aber sowohl Caesar als auch Clodius - beide gehörten ebenfalls der nobilitas an - dass die einmal an die plebs gemachten Zugeständnisse nicht mehr rückgängig gemacht werden können, sondern verstanden es zum Teil durch Erneuerung bzw. Erweiterung dieser Zugeständnisse, eben diese Bevölkerungsschicht als Machtinstrument zu nutzen. 

Folgendes bleibt also festzuhalten: Ciceros Anspruch an den orator perfectus war nicht nur zu hoch, sondern auch im Bezug auf seine eigene Biografie in sich widersprüchlich und fern jeglicher politischer Realität. 

Anmerkungen

  • [1]

     Tullius Cicero, M., De oratore, ed. u. trans. Merklin, H., Stuttgart 20035.

  • [2]

     Pina Polo, F., Contra arma verbis. Der Redner vor dem Volk in der späten römischen Republik, Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien, Stuttgart 1996, 82.

  • [3]

     Fantham, E., The Roman World of Cicero's De Oratore, Oxford 2004, 305.

  • [4]

     Fantham, 9–10.

  • [5]

     Fantham, 14–15.

  • [6]

     Fantham, 49–50.

  • [7]

     Zetzel, J.E.G., Rez. zu: Fantham, E., The Roman World of Cicero's De Oratore, Oxford 2004, BMCR 2005.09.05, o. S.

  • [8]

     Jehne, M., Rednertätigkeit und Statusdissonanzen in der späten römischen Republik, in: ed. Neumeister, C./ Raeck, W., Rede und Redner. Bewertung und Darstellung in den antiken Kulturen, Kolloquium Frankfurt a. M., 14.-16. Oktober 1998, Paderborn 2000, 173–177 u. Pina Polo, contra arma verbis, 81–82.

  • [9]

     Pina Polo, 66–67.

  • [10]

     Zetzel, o. S.

  • [11]

     Fantham, 161.

  • [12]

     Achard, G., Pourquoi Cicéron a-t-il écrit le De oratore?, Latomus 46, 1987, 318.

  • [13]

     Clarke, M.L., Die Rhetorik bei den Römern. Ein historischer Abriß, Göttingen 1968, 23.

  • [14]

     Suet., gramm., 25 u. Schmidt, P.L., Die Anfänge der institutionellen Rhetorik in Rom, in: ed. Lefèvre, E., Monumentum Chiloniense. Studien zur augusteischen Zeit. Kieler Festschrift  für Erich Burck zum 70. Geburtstag, Amsterdam 1975, 190.

  • [15]

     Clarke, 21.

  • [16]

     Fuhrmann, M., Geschichte der römischen Literatur, Stuttgart 1999, 106–107 u. Schmidt, 190–191.

  • [17]

     Funke, P. u.a., Res Romanae. Begleitbuch für die lateinische Lektüre, Berlin 1997, 140.

  • [18]

     Cic., De orat., I 38.

  • [19]

     Clarke, 22.

  • [20]

     Beard, M./ Crawford, M., Rome in the late Republic, London 1985 (ND o. O. 1989), 75.

  • [21]

     Pina Polo, 65–66 u.81–82.

  • [22]

     In Rom ist einzig, die von L. Plotius Gallus Anfang des 1. Jh. v. Chr. geführte Schule, belegt. Die Existenz griechischer Redeschulen wird als unwahrscheinlich angesehen. Vgl. hierzu Clarke, 23. u. Schmidt, 187–189.

  • [23]

     Funke, 140 u. 145–147; Hölkeskamp, 78–82 u. Schmidt, 187.

  • [24]

     Beard/ Crawford, 48 – 49 u. Andersen, Ø., Im Garten der Rhetorik. Die Kunst der Rede in der Antike, Darmstadt 2001, 294.

  • [25]

     Zur Unterscheidung wird Marcus Tullius Cicero mit seinem Cognomen Cicero –     der heutzutage geläufige Name – genannt. Sein Bruder wird mit seinem Praenomen Quintus bezeichnet.

  • [26]

     Fuhrmann, M., Cicero und die römische Republik. Eine Biographie, München 19993, 1–21.

  • [27]

     Fuhrmann, M., Geschichte der römischen Literatur, Stuttgart 1999, 143–144.

  • [28]

     Fuhrmann, Geschichte, 144–147.

  • [29]

     Fuhrmann, Cicero, 220–222.

  • [30]

     Clarke, 30–31; Fuhrmann, Cicero,157 u. Fantham, 9–15.

  • [31]

     Cic., De orat., I 23.

  • [32]

     Cicero ist bei der Wortstellung inkonsequent. Vgl. Cic., De orat., I 197 u. III 143. Die Arbeit folgt der Wortstellung von attributiv gebrauchten Adjektiven mit objektiver Bestimmung. Vgl. Rubenbauer, H./ Hofmann, J.B., Lateinische Grammatik, München 1989, 327.

  • [33]

     Achard, 329.

  • [34]

     Clarke, 23.

  • [35]

     Fantham, 29.

  • [36]

     Cic., De orat., 26 (Einleitung) u. Cic., De orat., I 24.

  • [37]

     Cic., De orat., I 39.

  • [38]

     Pina Polo, 91 u. Cic., De orat., 28 (Einleitung).

  • [39]

     Cic., De orat., I 48; I 234; I 248 u. III 74.

  • [40]

     Fantham, 40 u. Cic., De orat., I 25 u.II 88–89.

  • [41]

     Cic., De orat., II 12–13; II 98 u. II 216.

  • [42]

     Cic., De orat., I 30–34.

  • [43]

     Cic., De orat., I 30–73.

  • [44]

     Cic., De orat., I 260 u. I 35–44.

  • [45]

     Cic., De orat., I 113–159.

  • [46]

     Cic., De orat., I 214–255 u. I 166–203.

  • [47]

     Cic., De orat., II 32–38.

  • [48]

     Cic., De orat., II 40–50.

  • [49]

     Cic., De orat., II 65–84.

  • [50]

     Cic., De orat., III 1–16.

  • [51]

     Cic., De orat., III 37–55; III 96–143 u. III 148–227.

  • [52]

     Cic., De orat., III 55 89.

  • [53]

     Cic., De orat., III 228–230.

  • [54]

     Cic., De orat., I 94.

  • [55]

     Cic., De orat., I 260.

  • [56]

     Cic., De orat., I 127 u. I 213.

  • [57]

     Cic., De orat., I 260.

  • [58]

     Cic., De orat., I 236.

  • [59]

     Cic., De orat., I 219.

  • [60]

     Cic., De orat., I 238–239.

  • [61]

     Cic., De orat., I 241.

  • [62]

     Cic., De orat., I 252.

  • [63]

     Cic., De orat., I 218 u. I 220.

  • [64]

     Cic., De orat., I 223.

  • [65]

     Cic., De orat., I 59 u. I 64.

  • [66]

     Cic., De orat., I 113.

  • [67]

     Cic., De orat., I 73.

  • [68]

     Cic., De orat., I 149–150.

  • [69]

     Cic., De orat., I 159; I 197 u. I 201.

  • [70]

     Cic., De orat., I 201.

  • [71]

     Cic., De orat., I 60–63 u. I 167–200.

  • [72]

     Cic., De orat., I 167.

  • [73]

     Cic., De orat., I 67–69.

  • [74]

     Cic., De orat., I 60.

  • [75]

     Cic., De orat., I 83 u. I 107–110.

  • [76]

     Cic., De orat., II 99–101 u. III 56–73.

  • [77]

     Cic., De orat., I218 u. I 220.

  • [78]

     Cic., De orat., III 55.

  • [79]

     Cic., De orat., III 93.

  • [80]

     Cic., De orat., I 5.

  • [81]

     Cic., De orat., I 5 u. I 17–18.

  • [82]

     Cic., De orat., I 167–200 u. I 67–69.

  • [83]

     Cic., De orat., I 263.

  • [84]

     Cic., De orat., II 6.

  • [85]

     Cic., De orat., III 55–89.

  • [86]

     Suet., Iul., 19.2.

  • [87]

     Christ, K., Krise und Untergang der römischen Republik, Darmstadt 20004, 291 – 296 u. 308–309.

  • [88]

     Brenner, H., Die Politik des P. Clodius Pulcher. Untersuchungen zur Denaturierung des Clientelwesens in der ausgehenden römischen Republik, Historia 50, 1987, 37.

  • [89]

     Christ, 284–285.

  • [90]

     Christ,, 301–302.

  • [91]

     Christ präzisiert diese lex nicht genauer. Es muss sich aber um die von Gaius  Gracchus i. J. 123 v. Chr. durchgesetzte lex Sempronia de provocatione handeln. Vgl. Christ, Krise und Untergang, 139–140.

  • [92]

     Christ, 301 – 302 u. Brenner, 136.

  • [93]

     Fuhrmann, Cicero, 137–138.

  • [94]

     Cassius Dio, 39, 19, 1.

  • [95]

     Fuhrmann, Cicero, 141–142.

  • [96]

     Brenner, 64–65.

  • [97]

     Christ, 120–132 u. 137–138.

  • [98]

     Christ, 139–140.

Empfohlene Zitierweise

Künstler, Waltraud: Ciceros orator perfectus – ein realisierbares Rednerideal?. aventinus antiqua Nr. 9 (Winter 2006), in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7753/

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Erstellt: 24.05.2010

Zuletzt geändert: 25.05.2010

ISSN 2194-1947