Kirchengeschichte

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aventinus bavarica Nr. 10 (Winter 2007) 

 

Rainald Becker 

Das Inselbistum Chiemsee – ein vergessenes Kapitel bayerischer Geschichte 

Verloren, versunken, vergessen – diese Assoziationen stellen sich ein, wenn die Rede auf das 1817 aufgelöste Bistum Chiemsee kommt. Trotz intensiver wissenschaftlicher Forschungsbemühungen ist das Bistum eine historische Unbekannte geblieben. Trotz aller Bestrebungen, den bedeutendsten Überrest der ehemaligen Diözese im Voralpenland, den nach der Säkularisation schwer entstellten Domkomplex auf der Chiemseer Herreninsel zu restaurieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, beschränkt sich die Erinnerung an die Ecclesia Chimensis auf den Expertenkreis. Jedenfalls könnte der Kontrast zu dem gleichfalls auf der Insel gelegenen Schloß König Ludwigs II. nicht schärfer ausfallen: Das Neu-Versailles des exzentrischen Monarchen hat sich zu einem Identitätsanker des populären Geschichtsverständnisses entwickelt. Mehr noch: Als Symbol eines märchenhaft übersteigerten monarchischen Ideals führt das Schloß das Spitzenfeld der welthistorischen lieux de mémoires an. Längst gehört die Stippvisite in Ludwigs Prunkbau zum Standardrepertoire der internationalen Bildungsreise, während das benachbarte Kloster – als ehemaliger Tagungsort des Chiemseer Verfassungskonvents von 1948 immerhin auch ein Erinnerungsort der deutschen Nachkriegsgeschichte [1] – allenfalls als Anlegestelle der Seeschiffahrt Aufmerksamkeit findet.

Freilich ergibt sich ein ganz anderer Eindruck, wenn man die historische Wahrnehmung der Ecclesia Chimensis oder genauer formuliert: wenn man jene Bilder und Vorstellungen untersucht, die während des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit über die Bischofskirche von Chiemsee in Umlauf waren. Begonnen sei die kurze Bestandsaufnahme mit den Bildern des Bistums, mit den Darstellungen von Kathedrale und Domkloster. Dabei fällt auf, daß selbst der bedeutendste geographisch-topographische Atlas der Frühen Neuzeit, die weitverbreitete „Topographia Germaniae“ von Matthäus Merian, eine Abbildung des Inselklosters enthält: 


Matthäus Merian, Kloster Herrenchiemsee, 1644 

Der Stich von 1644 gibt die beiden Klosteranlagen im Chiemsee von Süden aus wieder. Im Vordergrund erhebt sich der doppeltürmige, gotische Dom auf der Herreninsel, im Hintergrund der Benediktinerinnenkonvent auf der Fraueninsel. Allerdings ist diese Darstellung nicht ganz korrekt. Das Turmpaar der Kathedrale war nach Westen, nicht nach Osten ausgerichtet. Gleichwohl vermittelt das Ensemble auf dem Herrenwörth einen repräsentativen Gesamteindruck. Es erscheint – gewiß idealisiert – eine vielfältig gestufte sakrale Baugruppe, die durchaus mit den Kathedralen der übrigen Reichskirche mithalten konnte.

Stich des Klosters Herrenchiemsee von Michael Wening, 1701

(Webseite des Landesvermessungsamtes Stand 23.5.2010) 

In ein Gartenparterre eingebettet, von Wirtschaftsgebäuden umgeben, ästhetisch wirkungsvoll auf einer Anhöhe über dem See positioniert, so präsentiert sich dagegen der Kirchenkomplex auf einer jüngeren Vedute des Münchner Kupferstechers Michael Wening. Die 1722 entstandene Darstellung zeigt das Domstift aus der Vogelperspektive im Zustand seines barocken Ausbaus. Im Hintergrund sind die Ketten der Chiemgauer Berge zu erkennen. Markant stellt Wening die für die bischofskirchliche Qualität von Chiemsee konstitutiven Elemente heraus: In der linken oberen Ecke sind unter einer Mitra, zwei Bischofskrümmen und einem Kardinalshut die Wappen von Domstift und Kloster zu sehen; in der rechten Ecke des Stichs ist die massive frühbarocke Fassade des im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts neu errichteten Doms abgebildet. Deutlich tritt für den zeitgenössischen Betrachter die Funktion Chiemsees als kirchlicher Zentralort in siedlungsloser Natur hervor: Die in den Mittelpunkt gerückten Türme der Kathedrale verweisen auf eine geistliche civitas im Miniaturformat, die sich über das Inselrund, den Seerand hinaus bis an den Alpenhorizont erstreckt. 

Nicht weniger bemerkenswert als die Resonanz der Künstler ist das Echo der Gelehrten auf das Phänomen im Chiemsee, so vor allem der Historiographen. Zu denken ist nicht so sehr an die humanistische und barocke Landesgeschichtsschreibung. Daß Herrenchiemsee bei Johannes Aventinus und Wiguläus Hund, den beiden wichtigsten bayerischen Exponenten der historischen Gelehrsamkeit im 16. Jahrhundert, auf ein lebhaftes Interesse stieß, ist nicht verwunderlich. Schließlich lag das Stift im unmittelbaren Einzugsbereich der bayerischen Landesherrschaft und damit im Untersuchungsraum der Landeshistorie. Überraschend ist vielmehr die überregionale, ja europäische Beachtung, die das kleine Bistum während seines über 600-jährigen Bestehens zwischen 1215 und 1817 auf sich gezogen hat. Auch hier sollen nur wenige Beispiele das vielschichtige Gesamtbild ausloten: Enge Beziehungen zu einzelnen Vertretern des Chiemseer Episkopats unterhielt etwa der aus der Toskana stammende, später zum Papst aufgestiegene italienische Humanist Enea Silvio Piccolomini. So zählte der nachmalige Pius II. den Chiemseer Bischof Silvester Pflieger zu seinem deutschen Freundeskreis [2]. Wohl aus dieser Verbundenheit heraus erwähnte er das Inselbistum in seiner „Germania“, einem Brieftraktat über die Geschichte Deutschlands. Dabei stellt er die Kleindiözese in eine Reihe mit so bedeutenden reichskirchlichen Zentren wie Köln, Mainz, Trier und Salzburg. Zusammen mit den Vorständen dieser bekannten Reichsbistümer erscheinen ihm die Chiemseer Ordinarien als „reiche und mächtige Bischöfe, im Vergleich mit denen unsere italienischen eher Plebanen als Bischöfe zu nennen sind“ [3].

Dieses schwungvolle Lob aus päpstlichem Humanistenmund fand einen Widerhall selbst in den nüchternen Deduktionen der Rechtsgelehrsamkeit, beispielsweise in jener Reichspublizistik, wie sie im 18. Jahrhundert etwa der Göttinger Jurist Johann Jakob Schmauß betrieb. In dessen „Allerneuestem Staat des Erzbisthums Salzburg“, einer historisch-statistischen und juristischen Beschreibung des Erzstifts Salzburg und seiner vier Eigenbistümer Chiemsee, Gurk, Lavant und Seckau, widmet sich der protestantische Gelehrte ausführlich der Inseldiözese. Schmauß sieht in dem Kleinbistum einen Eckpfeiler der Salzburger Kirche: Dessen Existenz trage wesentlich zum politischen und religiösen „Splendeur“ der Salzburger Erzbischöfe bei. Salzburgs hervorgehobener Rang in der Germania Sacra, ja darüber hinaus in der ganzen Papstkirche gründe sich auf die vier genannten Mediatbistümer, zu denen eben auch die Ecclesia Chimensis gehöre [4].

Das Große im Kleinen, das Besondere im vermeintlich Randständigen – in diese Formeln läßt sich das Ergebnis dieser einführenden Betrachtung zur Wahrnehmungsgeschichte von Chiemsee zusammenziehen. Eine gewisse Prominenz konnte das Bistum beanspruchen, immerhin so herausragend, daß es zu allen Zeiten die Phantasie der Künstler und die Neugier der Gelehrten zu erregen vermochte. Für den Historiker, der sich nicht allein mit dem Konstatieren von Phänomenen begnügen darf, sondern auch die Ursachen für bestimmte Entwicklungen und Bewertungen erforschen soll, fängt damit indes erst das Problem an. Noch pointierter formuliert: Was macht genau die spezifische historische Bedeutung von Chiemsee, seine von den Zeitgenossen immer wieder betonte Besonderheit aus? Um welches politische und juristische Konstrukt handelte es sich bei dem sogenannten Inselbistum? Und in welchen größeren reichskirchengeschichtlichen Zusammenhänge stand die Chiemseer Kirche? 

Es ist klar, daß die Fülle des hier zur Diskussion Stehenden nur in großen historischen Längsschnitten bewältigt werden knn: Im generalisierenden Zugriff ist dabei zunächst auf die Entstehungsgeschichte des Bistums, seine innere und äußere Verfassung, seine Funktion einzugehen. In einem letzten Schritt sind dann mit den Bischöfen die Hauptakteure der Chiemseer Bistumsgeschichte zu betrachten. Dabei soll der Episkopat aus übergreifender gruppenbiographischer Perspektive in den Blick genommen werden. Das sozialgeschichtliche Profil der Chiemseer Prälaten muß im Vordergrund stehen. Denn es waren wohl gerade die Bischöfe, die mit ihren internationalen Verbindungen – das Beispiel von Silvester Pflieger und Enea Silvio Piccolomini scheint bereits darauf hinzudeuten – für das überregional ausstrahlende Prestige des Kleinbistums in der universalen Kirche sorgten. 

Die Entstehung des Bistums Chiemsee ging auf eine Initiative des Salzburger Erzbischofs Eberhard II. zurück [5]. 1215 errichtete dieser am bereits bestehenden Augustiner-Chorherrenstift Herrenchiemsee eine Diözese. Dabei wurde die Stiftskirche zur Kathedrale erhoben und das Kanonikerstift in ein Domkapitel umgewandelt. Der Salzburger Ordinarius hatte zunächst das Benediktinerinnenkloster auf der Fraueninsel als Standort des neuen Bistums vorgesehen, was freilich die Auflösung dieses traditionsreichen Konvents, man könnte auch sagen: dessen Säkularisierung zugunsten der neuen kirchlichen Institution zur Folge gehabt hätte. Es kann daher kaum überraschen, daß die Äbtissin der Fraueninsel dem Vorhaben scharfen Widerstand entgegensetzte und die römische Kurie erfolgreich gegen das erzbischöfliche Projekt mobilisierte. Eberhard II. rückte deshalb von seiner ursprünglichen Absicht ab und wich auf die benachbarte Herreninsel aus. Noch 1215 bestätigte Papst Innozenz III. auf dem IV. Laterankonzil in Rom die Gründung des neuen Bistums.

Die Erhebung Chiemsees zum Bischofssitz war in vielschichtige Entwicklungen eingebunden. Unterschiedliche theologische und politische, weltliche und geistliche Motive standen im Hintergrund seiner Gründung. An erster Stelle zu nennen ist das Movens innerkirchlicher Reform. Im Umfeld des Laterankonzils drängten Reformkreise auf eine Vertiefung der Seelsorge, auf den Ausbau der diözesanen Pastoral. Gerade die Erzdiözese Salzburg, einer der flächenmäßig ausgedehntesten Jurisdiktionsbezirke der Germania Sacra, ließ eine Reorganisation der pastoralen Strukturen geboten erscheinen. Deren Einzugsbereich erstreckte sich vom Inn im Westen bis zur ungarischen Grenze im Osten, von der Drau im Süden bis zum Dachstein und den niederösterreichischen Kalkalpen im Norden. Die Unwegsamkeit des Geländes – der östliche Alpenhauptkamm durchschnitt das Erzbistum in seiner ganzen Länge – mußte die Kommunikation zwischen den einzelnen Teilräumen der Salzburger Kirche besonders erschweren. Um die Salzburger Zentrale mit den Rändern des Diözesangebiets stärker zu verzahnen, setzte Eberhard eine Reihe von Bischöfen ein, die ihn bei der Ausübung seines Hirtenamts vor Ort vertreten sollten. Denn nicht nur in Chiemsee, sondern auch in Seckau und Lavant, also in den steiermärkischen Teilen der Erzdiözese Salzburg, kam es 1218 und 1225 zur Errichtung von Bistümern. Vorbild aller dieser Bistumsgründungen war die Diözese Gurk, die bereits im 11. Jahrhundert für die Salzburger Anteile in Kärnten durch die Erzbischöfe eingerichtet worden war. 

Mit dieser spektakulären Gründungswelle von Bistümern waren auch herrschaftliche Aspekte verbunden. Über ihre pastorale Nützlichkeit hinaus boten sie sich dem Salzburger Ordinarius als politische Instrumente an. Sie bildeten eine Machstütze, mit deren Hilfe der Erzbischof seine geistliche und weltliche Prärogative im zunehmend territorialstaatliche Formen gewinnenden Raum der österreichischen und bayerischen Länder wirkungsvoll zur Geltung bringen konnte. Besonders markant treten diese politischen Funktionsbezüge im Chiemseer Beispiel hervor: Der Bistumsgründer Eberhard wies dem Chiemseer Ordinarius einen fünf bis 20 Kilometer breiten und etwa 60 Kilometer langen Landkorridor im Westen seiner Erzdiözese als neuen Sprengel an. Er umfing fast das gesamte Nordufer des Chiemsees bei Eggstätt, ließ die Fraueninsel im Chiemsee jedoch außen vor und zog sich über das Tal der Tiroler Ache bis zum Kamm der Kitzbühler Alpen hin. Im Südwesten umfaßte der Sprengel das Brixental. Auffälligerweise berührte der aus der Erzdiözese Salzburg herausgelöste Bezirk nie den Inn und damit die Bistumsgrenze nach Freising. Die Kleindiözese bestand als von Salzburg gänzlich umschlossener Binnenraum ohne Anschluß an das Gebiet der unmittelbar benachbarten Reichsprälaten, der Bischöfe von Brixen und Freising.

Wenn man den geographischen Befund mit den langfristigen wirtschaftlichen und politischen Determinanten des ostbayerisch-salzburgischen Raums in Beziehung setzt, dann wird das Kalkül deutlich, auf das die Salzburger Erzbischöfe mit diesem Gebietszuschnitt abzielten: Herrschaftlich gesehen lag das Bistum zunächst zwar fast gänzlich in der Interessensphäre der bayerischen und Tiroler Herzöge, während nur ein kleinere Zone um Brixen im Tal zum Erzstift, also zum weltlichen Herrschaftsbereich der Salzburger Oberhirten gehörte. Aber immerhin erschloß das Bistum mit der über Kitzbühl führenden Straße zum Paß Thurn einen Hauptverkehrsweg im Alpentransit nach Italien. Neben der ökonomischen Bedeutung war das geopolitische Gewicht Chiemsees nicht zu verachten: Als Landbrücke in der Westflanke des späteren Erzstifts gelegen, sicherte der Sprengel den salzburgischen Einfluß bis tief nach Bayern hinein. Aus erzbischöflicher Sicht kam Chiemsee eine strategische Aufgabe zu, die der weiter nördlich situierten Salzburger Nebenresidenz Mühldorf am Inn vergleichbar war. Beide Stützpunkte sollten die Präsenz der bayerischen Herzöge neutralisieren, die mit Reichenhall eine Schlüsselstellung am Rand der Ostalpen in unmittelbarer Nähe zu Salzburg besetzt hielten. 

II 

Die starke Einbindung der Ecclesia Chimensis in die kirchen- und territorialpolitischen Konzeptionen der Salzburger Erzbischöfe wirkte sich auch auf deren innere Struktur aus. Institutionell und verfassungsrechtlich war das Bistum eng an die Salzburger Kirche angelehnt. Insbesondere in der ungewöhnlichen Tatsache, daß der Ordinarius nicht vom Domkapitel gewählt wurde, sondern vom Salzburger Erzbischof nominiert, konsekriert und in seine weltlichen Güter investiert wurde, deutet sich ein hoher Grad an Abhängigkeit an. Zusammen mit Gurk, Seckau und Lavant, wo der Salzburger Erzbischof ebenfalls über das alleinige oder doch ein weitgehendes Nominationsrecht verfügte, gehörte Chiemsee zur Gruppe der sogenannten Mediatbistümer, also zu einem kirchlichen Verfassungstypus, der in der Germania Sacra eher selten anzutreffen war [6]. In der Regel beruhte die Diözesanorganisation im Reich auf zwei Säulen, nämlich einmal der korporativen Autonomie der Bischofskirche. Vor allem in dem sich seit dem Hochmittelalter verfestigenden Recht der Domkapitel, den Bischof selbständig aus eigenen Reihen zu bestimmen, fand dieses gegen päpstliche und kaiserliche, aber auch gegen landesfürstliche Ansprüche verfochtene Freiheitsprinzip seinen Ausdruck. Zum anderen stützte sich die Bischofsmacht auf die Tatsache weltlicher Herrschaftsausübung. Im Hochstift, dessen Ausdehnung nie mit den Grenzen der Diözese im engeren Sinn übereinstimmte, das also nicht mit dem Amtsbezirk der geistlichen Jurisdiktion zu verwechseln ist, war der Bischof selbst Landesherr, damit fürstengleich und reichsunmittelbar.

Im Gegensatz dazu besaß der Chiemseer Bischof kein eigenes Territorium. Seine Kathedrale lag im Territorium der Herzöge und späteren Kurfürsten von Bayern. Auch fehlten ihm die sonstigen Attribute fürstbischöflicher Würde: Er verfügte zunächst über keinen festen Sitz. So kam es weder auf der Herreninsel selbst noch im Bistumsgebiet zu einer dauerhaften Residenzbildung, ein entscheidendes Merkmal spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Staatswerdung. Im 13. Jahrhundert übte der Bischof sein geistliches Amt im Rahmen einer ‚Reiseherrschaft’ aus. Wahlweise von Bischofshofen an der Salzach oder von den Burgen Fischhorn und Anif, aber immer von außen aus dem Erzbistum Salzburg heraus, regierte der Oberhirte seinen gerade einmal aus elf Pfarreien bestehenden Sprengel. Zwar ist ab dem 14. Jahrhundert eine topographische Zentrierung der Residenzfunktionen zu beobachten. So nahm der Bischof seinen dauerhaften Aufenthalt in der Stadt Salzburg, in einer eigenen Kurie, dem sogenannten Chiemseehof, der heute der Salzburger Landesregierung als Amtssitz dient [7]. Gleichwohl unterstrich diese Entwicklung nur die Abhängigkeit der Chiemseer Ordinarien von den Salzburger Erzbischöfen, denen sie zwar im strikten Sinn des Kirchenrechts gleichgeordnet, aber aus historischen und politischen Gründen eben doch untergeordnet waren.

Der Eindruck kleiner, zugleich höchst komplexer Lebensverhältnisse verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, daß auch die Pontifikalgewalt des Chiemseer Bischofs eingeschränkt war. In Gestalt des Dompropsts von Herrenchiemsee stand ihm ein Konkurrent gegenüber. Aus der Tatsache, daß die alte Chiemseer Stiftspropstei von jeher mit dem Archidiakonat verknüpft war, leitete dieser weitgehende geistliche Aufsichtsrechte über die westlichen Teile der Erzdiözese ab. Mit anderen Worten: Die Dompröpste erkannten zwar das neugegründete Bistum an, weil dies ihrem Prestigestreben entgegenkam. Aber sie bestritten dem neuen Ordinarius unter Berufung auf ihre angestammte archidiakonale Würde sämtliche jurisdiktionellen Rechte [8]. In der Praxis mußte dieser Zwiespalt zu einem Dauerkonflikt um die Kompetenzen führen. Nur einige Beispiele: Sich gegenseitig konkurrenzierend, beanspruchten sowohl Bischöfe als auch Pröpste das Visitationsrecht für die diözesanen Pfarreien. Wie der Bischof berief auch der Propst regelmäßig den Seelsorgeklerus zu Synoden ein. Erst mit den kirchlichen Reformen des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts entspannte sich diese schwierige Situation für den Chiemseer Episkopat. Vor allem das Tridentinum zielte unter Zurückdrängung mittelalterlicher kirchlicher Rechtsbestände auf eine juristische und ideelle Aufwertung des Bischofsamts.

Dennoch konnte der Gegensatz zwischen Bischof und Propst nie aufgehoben werden. In ihm ist auch der Hauptgrund dafür zu sehen, warum sich auf der Herreninsel keine bischöfliche Residenz ausbilden konnte. Nach seiner Erhebung zum Domstift blieb das Kanonikerstift im Chiemsee eine völlig eigenständige geistliche Korporation, stets auf seine größtmögliche wirtschaftliche und rechtliche Unabhängigkeit bedacht, während der Bischof – von seiner Diözese räumlich getrennt – vorwiegend in Salzburg residiert und hier vor allem den Erzbischof in der geistlichen Administration seiner weiträumigen Diözese unterstützt hat. Die Durchführung von Kirchweihen, Firmreisen, die Visitation von Pfarreien und Klöstern in Vertretung des Salzburger Reichsprälaten, dieses Aufgabenfeld bestimmte das Tätigkeitsprofil der Chiemseer Bischöfe. Sie hatten damit – und so hätte eine erste Bilanz zu lauten – den Status von Salzburger Weihbischöfen inne. Es ist kein Zufall, daß dieses Amt in der alten Salzach-Metropole in regulärer Form nie existiert hat. Man griff bei Bedarf auf die Chiemseer Ordinarien zurück, deren Residenz sich in Reichweite der Salzburger Erzbischöfe befand [9].

III 

Wie aber ist – angesichts dieser nur schwach entwickelten Strukturen – die vergleichsweise hohe Reputation des Inselbistums in Spätmittelalter und Frühneuzeit zu erklären? – Grundsätzlich ist zu bedenken, daß sich der Stellenwert kirchlicher Institutionen nicht nur nach der Valenz ihrer wirtschaftlichen und rechtlichen Ausstattung bemaß. Eine entscheidende Rolle spielte auch immer der sie stützende Klerus. Dessen Rekrutierung war – im kirchlichen Bereich historisch früher als im weltlichen – besonderen Regularien unterworfen. Aus der einerseits römischrechtlich, andererseits biblisch abgeleiteten Idee des bischöflichen Amts entwickelte sich eine Berufsvorstellung, die man durchaus als einen Vorläufer moderner Professionalität bezeichnen kann. Überzeugungen, Fähigkeiten, Wissen, überregionale und internationale Kontakte, mit einem Wort: Qualifikationen waren es, die man von den Kandidaten für das Bischofsamt erwartete [10]. Damit waren ältere Formen des Ämterzugangs – zu denken ist nur an das Ausleseprinzip nach ständischer Herkunft (Adel versus Bürgertum) – grundsätzlich ausgeschaltet. Freilich darf man diese relative soziale Offenheit des geistlichen Amts nicht überschätzen. Daß für die Rekrutierung des bischöflichen Nachwuchses häufig doch die Geburt, nicht die Leistung ausschlaggebend war, ist nicht zu leugnen.

Dennoch konnte sich an manchen Stellen der Reichskirche das Kompetenzprinzip unter bestimmten Bedingungen historisch durchsetzen. Vor allem war dies in den Salzburger Mediatbistümern, insbesondere in Chiemsee der Fall. Gerade weil die Inseldiözese unter politischen und materiellen Aspekten kaum als attraktives Ziel einer kirchlichen Spitzenkarriere gelten konnte, war sie dem Machtspiel um Mitra und Hirtenstab ringender Aristokratensöhne entzogen. Hingegen bot sie sich den Klerikern, die zwar keinen Geburtsvorteil, wohl aber berufliche Lebenserfahrung und universitäre Bildung aufweisen konnten, als interessantes Arbeitsfeld dar. Bürgersöhne, Patrizier, Niederadlige – sozialgeschichtlich betrachtet also jenes Element, auf das sich die Akademisierung der alteuropäischen Gesellschaft seit dem späten Mittelalter stützte – konnten sich hier, unbeschadet der Konkurrenz durch den Hochadel, frei entfalten. Mit ihnen fand eine internationale Intellektualität, eine juristisch, humanistisch, später auch barock-tridentinisch geprägte Gelehrsamkeit Eingang in die süddeutsche Reichskirche. Sie wirkten als Vermittler einer universalen akademischen und literarischen Kultur. Wegen ihrer Herkunft aus dem kaiserlichen oder päpstlichen Diplomatenmilieu, aufgrund ihrer beruflichen Prägung durch den Verwaltungsdienst in den österreichischen und bayerischen Territorialstaaten, standen die Chiemseer Oberhirten häufig im internationalen Rampenlicht, etwa als Gesandte auf den Reichstagen, als Emissäre der Salzburger Erzbischöfe auf den großen Kirchenkonzilien und an der Kurie oder als Theologen auf den Reichsreligionsgesprächen des Konfessionellen Zeitalters. Mit gesteigerten kulturellen Aktivitäten, als Gelehrte, Literaten und Büchersammler, zogen sie eine überregionale Aufmerksamkeit auf sich. Durch besondere seelsorgliche Initiativen fanden sie eine weit über Süddeutschland hinausreichende Beachtung.

Dieser spezifische sozialgeschichtliche Charakter des Chiemseer Episkopats als intellektueller und kultureller Elite läßt sich auch ganz konkret fassen. Man kann das Sozial- und Bildungsprofil der Seebischöfe, ihren Grad an Akademisierung und Professionalisierung, ihre Vernetzung mit der internationalen höfischen Welt der Vormoderne, nicht zuletzt ihre Präsenz auf der kulturellen Ebene quantitativ und qualitativ genau beschreiben. Zum Abschluß seien einige neue Beobachtungen zu diesem bislang im Chiemseer Zusammenhang noch kaum behandelten Problem vorgestellt. Im Mittelpunkt sollen dabei die zwischen 1448 und 1648 amtierenden Bischöfe stehen. Diese zeitliche Fokussierung auf die Schwellenjahrhunderte zwischen Mittelalter und Neuzeit ist aus zwei Gründen gerechtfertigt. Zum einen ist der Forschungsstand für diese Bischofsgenerationen jüngst breit aufgearbeitet worden [11]; zum anderen war in dieser Übergangsepoche die Außenwirkung des kleinen süddeutschen Bistums am intensivsten ausgeprägt.

1.) Soziale Herkunft: Chiemsee gehörte im reichskirchlichen Kontext zu den besonders bürgerlich strukturierten Diözesen: Von den insgesamt 16 Bischöfen, die zwischen 1448 und 1648 die Chiemseer Cathedra innehatten, stammten fast zwei Drittel aus dem Bürgertum oder dem Patriziat. Zum Vergleich: Im Erzbistum Salzburg erwarben im gleichen Zeitraum nur zwei bürgerliche Kleriker die Mitra, was einem Anteil von rund einem Zehntel an der Gesamtzahl aller Erzbischöfe entsprach. Meilenweit war man in Chiemsee zudem von den Verhältnissen in der rheinischen Germania Sacra entfernt, wo – wie in Mainz, Köln oder Trier – der Adel, sogar ausschließlich der reichsunmittelbare Hochadel den Ton angab. Übertroffen wurde die betont bürgerliche Sozialstruktur des Chiemseer Episkopats nur noch von den Verhältnissen in Wien und Wiener Neustadt. Diese beiden Stadtdiözesen, die über kein Hochstift verfügten und dem (österreichischen) Landesherren unterstanden, also verfassungsrechtlich mit Chiemsee zu vergleichen sind, wiesen einen noch höheren Anteil an bürgerlichen Bischöfen auf [12].

Was freilich hat man sich unter der Kategorie des Bürgerlichen vorzustellen? – Das Feld war vielfältig, der Rahmen weitgesteckt. Gleichsam adelsnahe Qualitäten waren hier ebenso zu finden wie ausgesprochene homines novi von äußerst bescheidener Abkunft. Mit Persönlichkeiten wie dem mit den Fuggern und Welsern verwandten Augsburger Patriziersohn Ägidius Rehm oder dem aus dem Nürnberger Stadtpatriziat stammenden Christoph Mendel von Steinfels ist sicherlich das oberste Ende der Skala bezeichnet [13]. Aus unterbürgerlichen Schichten war hingegen der bereits erwähnte Piccolomini-Freund Silvester Pflieger aufgestiegen. Bei ihm kam noch erschwerend hinzu, daß er aus einer illegitimen Verbindung eines Klerikers mit einer Ledigen hervorgegangen war. Trotzdem konnte er später Bischof werden. Deutlich zeigt sich im Beispiel Pfliegers die mobilitätsfördernde, ständesprengende Wirkung klerikaler Lebensläufe [14].

Gleichwohl sei hier nicht verschwiegen, daß solche Karrieren konjunkturabhängig waren. Spätestens im 18. Jahrhundert war es mit der bürgerlichen Präsenz auch in Chiemsee vorbei, hatten hier längst die altösterreichischen Adelsfamilien wie Kuenburg, Liechtenstein, Wolkenstein, Spaur, Arco oder Breuner das Regiment übernommen. Das Phänomen der bürgerlichen Bischöfe war bildungsgeschichtlich begründet. Solange die Patriziersöhne aufgrund ihrer ausgeprägteren Studienneigung gegenüber ihren Zeitgenossen aus dem Adel einen Kompetenzvorteil behaupten konnten, solange vermochten sie sich in hohen Kirchenämtern zu halten. Im späten Ancien Régime hatten die Adligen den akademischen Vorsprung des Bürgertums aufgeholt. Das Pendel schlug wieder zugunsten des Adels aus. Es kam zu einer ‚Feudalisierung’ des Chiemseer Bischofsthrons [15].

2.) Bildung und kulturelle Aktivitäten: Auch die akademische Qualität des Chiemseer Episkopats ist mit eindeutigen Daten zu belegen: Zwischen 1448 und 1648 läßt sich bei allen Bischöfen ein Universitätsstudium nachweisen. Mehr als zwei Drittel aller Oberhirten konnten zudem einen höheren akademischen Grad, ein Lizentiat oder einen Doktortitel, vorweisen. Im interdiözesanen Vergleich betrachtet, nahmen sie damit zwar eine Spitzenplatz ein. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß die Akademisierung der geistlichen Führungsschichten auch in den anderen Bistümern der Salzburger Kirchenprovinz weit vorangeschritten war. Seit dem 15. Jahrhundert brachte in Passau, Brixen, Freising und Regensburg, in den Mediatbistümern Gurk, Lavant, Seckau, ferner in Wien und Wiener Neustadt nahezu jeder Amtsträger zumindest ein Minimum an Studienerfahrungen mit [16]. Was den Fall der Chiemseer Bischöfe einzigartig macht, ist ein anderer Umstand. Auffällig ist die Gediegenheit ihrer universitären Laufbahn, die Internationalität ihrer Studienwege. Der Hochschulaufenthalt nicht nur im Reich, an einer der zahlreichen Landesuniversitäten, etwa in Wien oder in Ingolstadt, sondern auch in Italien, dem Zentrum der juristischen Wissenschaften, gehörte zum dominanten Merkmal der Chiemseer Bischofskarriere. Mit Silvester Pflieger, Bernhard von Kraiburg und Ludwig Ebmer an der Universität Padua, mit Georg Altdorfer in Bologna, mit Christoph Mendel in Pavia, mit Berthold Pürstinger in Perugia, schließlich mit Ägidius Rehm an den Hohen Schulen von Paris, Padua, Pavia und Rom sind einige, für die Situation um 1500 charakteristische Beispiele benannt [17]. Nicht weniger vermochten sich die Adelsbischöfe des frühen 17. Jahrhunderts dem Reiz der italienischen Grand Tour zu entziehen, wenngleich sich bezüglich der Studieninhalte bereits eine markante Trendwende abzeichnete. Hatten die Chiemseer Ordinarien des 15. Jahrhunderts noch das juristische Fach bevorzugt, so rückte nun die Theologie in den Vordergrund, wie sie in kompakter Form etwa an der römischen Jesuitenuniversität, dem Collegio Romano, gelehrt wurde [18].

Die Chiemseer Bischöfe artikulierten sich auch in der gelehrten Praxis. Weit verbreitet war etwa das Interesse an literarischer Aktivität. Mehrere Ordinarien traten als Schriftsteller hervor, so etwa Bernhard von Kraiburg als Verfasser eines Brieftraktats über die türkische Eroberung von Konstantinopel 1453 und als Autor einer Leichenklage über den Tod von König Ladislaus von Böhmen 1457 [19]. Zu erwähnen ist das umfangreiche theologische Oeuvre von Berthold Pürstinger, der sich für die anonym erschienene kirchenreformerische Flugschrift „Onus Ecclesiae“ verantwortlich zeichnete und 1527 unter dem Eindruck der Reformation eine altkirchliche Dogmatik in deutscher Sprache, die „Tewtsche Theologey“, herausbrachte [20]. Politisches und Zeitgeschichtliches spiegelt der „Salzburger Bauernkrieg“, ein Bericht über die Bauernaufstände von 1525, von Ägidius Rehm wider [21]. Und auf Silvester Pflieger und dessen sich ebenfalls literarisch-publizistisch äußernde Humanistenfreundschaft mit Enea Silvio Piccolomini wurde bereits hingewiesen.

3.) Präsenz in der höfischen Welt: Am markantesten zeigt sich die weit über das Lokale hinausgehende Bedeutung des Chiemseer Episkopats an seiner engen Verbindung mit der höfisch-politischen Szene. Nicht nur rekrutierten sich zahlreiche bischöfliche Würdenträger aus den Verwaltungsrängen von Kirche, Universität und Staat. Sehr häufig blieben sie auch nach ihrem Eintritt in das Bischofsamt mit ihren ursprünglichen professionellen Lebenszusammenhängen verbunden. Hier ist das in der bisherigen Forschung vielleicht zu stark akzentuierte Bild vom Chiemseer Bischof als Salzburger Weihbischof doch zu revidieren. Die Aufgaben der Inselbischöfe erschöpften sich nicht in der Pastoral. Sie fungierten nicht nur als Vikare der Salzburger Erzbischöfe, die ihren seelsorglichen Belangen aufgrund ihrer reichspolitischen Stellung nicht mehr gerecht werden konnten. Im Gegenteil: Die Chiemseer Bischöfe standen im intellektuellen Zentrum der jeweiligen Macht. Sehr häufig bestimmten sie die Leitlinien der erzbischöflich-salzburgischen Politik, oftmals griffen sie ordnend in den Lauf der kaiserlichen oder landesfürstlichen Regierung ein – eben weil es sich bei ihnen um einen umfassend gebildeten, auf höfisch-diplomatischen Parkett erfahrenen Expertenkreis handelte.

Ein letzter biographischer Ausgriff kann dies verdeutlichen: Bernhard von Kraiburg, ein Kaufmannssohn aus dem gleichnamigen, heute oberbayerischen Marktort am Inn, zwischen 1410 und 1420 geboren, besuchte ab 1437 die Universität Wien. Er studierte hier die artes und übernahm zugleich philosophische Vorlesungen. Noch während seines Studiums wurde er als Rat an den Salzburger Hof gezogen, wo er sehr rasch zum Kanzler aufstieg und damit die Hauptverantwortung für alle Bereiche der erzbischöflichen Politik erlangte. Zeitgleich setzte er seine Ausbildung fort. Für 1460 ist seine Promotion zum Doktor des Kirchenrechts an der Universität Padua belegt. Zugleich war man auf den offenbar hoch begabten Klerikerjuristen am päpstlichen Hof aufmerksam geworden. Denn Kraiburg trat – parallel zu seiner Tätigkeit in Salzburg – in den kurialen Dienst ein. Er wurde vom Papst als Legat ad partes Alamanniae im Rahmen verschiedener diplomatischer Missionen an den Hof Kaiser Friedrichs III. und an mehrere Reichstage gesandt. 1467 erhielt er dann die Chiemseer Bischofsmitra, ohne indes seine weltlichen Amtstätigkeit für die Salzburger Erzbischöfe aufzugeben [22]. Dabei blieb Kraiburg kein Einzelfall. Die Doppelverwendung von Chiemseer Bischöfen in der salzburgisch-erzbischöflichen Verwaltung einerseits und der päpstlichen oder kaiserlichen Administration andererseits läßt sich noch häufiger beobachten.

IV 

Mehrdimensionale Funktionalität, mit diesem Leitbegriff könnte man die Besonderheit des Bistums im Chiemsee resümierend beschreiben: Als pastorales Entlastungsinstrument von den Salzburger Erzbischöfen konzipiert, als Vorposten salzburgischer Interessen – ob nun weltlich-politischer oder geistlich-religiöser Art – im Bayerischen gegründet, entwickelte sich der Diözesansitz zu einem Brennpunkt kirchlicher Intellektualität in der süddeutschen Germania Sacra. Das Seebistum bot zumindest in der Phase des ausgehenden Mittelalters, am Übergang in die Neuzeit zahlreichen Gelehrten, Juristen ebenso wie Theologen, Auskommen und Entfaltungsmöglichkeiten. Über die engere geistliche Funktionsbindung hinaus diente die Herreninsel der kulturellen Grundversorgung. Sie stellte Ressourcen bereit für den Unterhalt von wissenschaftlichen Eliten, ein Element, auf das sich die kontinuierliche Modernisierung, man könnte auch sagen: die stete Innovation der alteuropäischen Gesellschaft stützte. 

Es waren diese vielfältigen, miteinander verwobenen Funktionsebenen, die bei den Zeitgenossen auf Aufmerksamkeit und Bewunderung stießen, die Johann Jakob Schmauß, immerhin einen Repräsentanten der norddeutschen Frühaufklärung, vom besonderen „Splendeur“ bayerisch-österreichischer Kirchlichkeit sprechen ließen. Eine Zukunft sollte diesem Modell freilich nicht beschieden sein. Mit der Säkularisation wurde diese Tradition durchschnitten, wandelte sich die Insel im Chiemsee vom Vorort intellektueller Universalität zum Residuum romantischer Selbstbezogenheit. Damit war der Weg gewiesen in eine programmatische Provinzialität, die zwar einen idealen Rahmen für die architektonischen Eskapaden eines an sich selbst und seiner Zeit zweifelnden Monarchen bot, die sich aber aus dem Lauf der Geschichte längst verabschiedet hatte.

Anmerkungen

  • [1]

     Vgl. etwa März, Peter / Oberreuter, Heinrich (Hg.), Weichenstellung für Deutschland. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, München 1999.

  • [2]

     Vgl. Märtl, Claudia, Liberalitas Baioarica. Enea Silvio Piccolomini und Bayern, in: Dopsch, Heinz / Freund, Stephan / Schmid, Alois (Hg.), Bayern und Italien. Politik, Kultur, Kommunikation (8.-15. Jahrhundert). Festschrift für Kurt Reindel zum 75. Geburtstag (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte. Beiheft 18 B), München 2001, S. 237-260, hier 243 f.

  • [3]

     Piccolomini, Enea Silvio, Deutschland. Der Brieftraktat an Martin Mayer und Jakob Wimpfelings ‚Antwort und Einwendungen gegen Enea Silvio’, übers. und erl. v. Adolf Schmidt (Die Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit, 104), Köln – Graz 1962, S. 107.

  • [4]

     Vgl. Schmauß, Johann Jacob, Der allerneueste Staat des Ertz-Bißthums Saltzburg, Und der darunter gehoerigen Vier Mediat-Stiffter Gurck, Chiemsee, Seckau, Lavant, Halle 1712, S. 140 f.

  • [5]

     Vgl. zum Folgenden: Heim, Manfred, Bistum Chiemsee, in: Gatz, Erwin (Hg.), Die Bistümer des Heiligen Römischen Reiches von ihren Anfängen bis zur Säkularisation, Freiburg/Brsg. 2003, S. 158-163 (Literatur); Ders., Das Bistum Chiemsee in der Germania Sacra, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 68 (2005) (Ackermann, Konrad / Rumschöttel, Hermann (Hg.), Bayerische Geschichte, Landesgeschichte in Bayern. Festgabe für Alois Schmid zum 60. Geburtstag) S. 393-405; ferner Moÿ, Johannes von, Das Bistum Chiemsee, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 122 (1982) S. 1-50.

  • [6]

     Vgl. dazu Becker, Rainald, Wege auf den Bischofsthron. Geistliche Karrieren in der Kirchenprovinz Salzburg in Spätmittelalter, Humanismus und Konfessionellem Zeitalter (1448-1648) (Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, 59), Rom u.a. 2006, S. 53 f.; generell zum Verfassungstypus der Mediatbistümer Seidenschnur, Wilhelmine, Die Salzburger Eigenbistümer in ihrer reichs-, kirchen- und landesherrlichen Stellung, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 9 (1919) S. 177-287.

  • [7]

     Dopsch, Heinz, Salzburg, Erzbischöfe von, in: Paravicini, Werner (Hg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch, Tlbd. 1: Dynastien und Höfe (Residenzenforschung, 15/I), Ostfildern 2003, S. 484-495.

  • [8]

     Vgl. Heim, Manfred, Bischof und Archidiakon. Geistliche Kompetenzen im Bistum Chiemsee (1215-1817) (Münchener Theologische Studien, Historische Reihe, 32), St. Ottilien 1992.

  • [9]

     Vgl. Ders., Der Bischof von Chiemsee als Weihbischof in Salzburg und die Stellung des Archidiakons und Stiftspropstes von Herrenchiemsee, in: Jürgensmeier, Friedhelm (Hg.), Weihbischöfe und Stifte. Beiträge zu reichskirchlichen Funktionsträgern der Frühen Neuzeit (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, 4), Frankfurt/Main 1995, S. 52-65.

  • [10]

     Vgl. Becker, Wege (wie Anm. 6), S. 56-57 und 263-268; zusammenfassend auch Borgolte, Michael, Die mittelalterliche Kirche (Enzyklopädie deutscher Geschichte, 17), München 22004, S. 38 f.; überhaupt zu Professionalisierungsprozessen am Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit Schwinges, Rainer C., Zur Professionalisierung gelehrter Tätigkeit im deutschen Spätmittelalter, in: Boockmann, Hartmut u.a. (Hg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Tl. 2: Bericht über die Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1996 bis 1997 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse III, 239), Göttingen 2001, S. 473-493.

  • [11]

     Die folgenden Ausführungen beruhen auf den Ergebnissen meiner Dissertation (vgl. Anm. 6). Zum weiteren Umfeld der Erforschung kirchlicher Führungsschichten im Reich und in Europa: Gatz, Erwin, Zum Stand der Diözesangeschichtsschreibung im deutschsprachigen Mitteleuropa. Perspektiven und Reflexionen. Mit einer Auswahlbibliographie, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 97 (2002) S. 323-337.

  • [12]

     Vgl. Becker, Wege (wie Anm. 6), S. 91 (Tabelle 2).

  • [13]

     Vgl. ebd., S. 106 f.

  • [14]

     Vgl. ebd., S. 106.

  • [15]

     Vgl. ebd., S. 109; generell zum Prozeß der ‚Rearistokratisierung’ der Reichskirche Kremer, Stephan, Herkunft und Werdegang geistlicher Führungsschichten in den Reichsbistümern zwischen Westfälischem Frieden und Säkularisation. Fürstbischöfe, Weihbischöfe, Generalvikare (Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, 47), Freiburg/Brsg. u.a. 1992, S. 75-125; Hersche, Peter, Adel gegen Bürgertum? Zur Frage der Refeudalisierung der Reichskirche, in: Jürgensmeier (wie Anm. 9), Weihbischöfe, S. 195-208.

  • [16]

     Vgl. Becker, Wege (wie Anm. 6), S. 151 (Tabelle 5).

  • [17]

     Belege zu diesen bischöflichen Akademikerviten ebd., S. 425-428 (Biogramme Nrr. 143: Pflieger, 145: Kraiburg, 146: Altdorfer, 147: Ebmer, 148: Mendel von Steinfels, 149: Pürstinger und 150: Rehm).

  • [18]

     Generell zur römischen Jesuitenuniversität García Villoslada, Ricardo, Storia del Collegio Romano dal suo inizio (1551) alla soppressione della Compagnia di Gésu (1773) (Analecta Gregoriana. Series facultatis historiae ecclesiasticae A, 2), Roma 1954; ferner Romano, Antonella, Il mondo della scienza, in: Ciucci, Giorgio (Hg.), Roma moderna (Storia di Roma dall’antichità a oggi), Roma – Bari 2002, S. 275-305; zum Studium der Chiemseer Bischöfe in Rom vgl. Becker, Wege (wie Anm. 6), S. 316.

  • [19]

     Vgl. zu Kraiburg Bauer, Werner M., in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 1 (1978) Sp. 769-771.

  • [20]

     Vgl. Milway, Michael, Apocalyptic Reform and Forerunners of the End. Berthold Pürstinger, Bishop of Chiemsee († 1543), in: Zeitsprünge 3 (1999) S. 316-327.

  • [21]

     Vgl. zu Rehm Friedhuber, Inge, in: Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation 3 (1987) S. 138; ferner Frisch, Ernst von, Der „Salzburger Bauernkrieg“ des Egidius Rem in seiner ursprünglichen Fassung von 1525, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 82/83 (1942/43) S. 81-91.

  • [22]

     Vgl. Becker, Rainald, Bischof Bernhard von Kraiburg (1410/20-1477). Eine bayerische Kirchenkarriere in Chiemsee zwischen Salzburg und Italien, in: Bayernspiegel. Zeitschrift der Bayerischen Einigung und Bayerischen Volksstiftung (November / Dezember 2003 / 6), S. 20-22.

Empfohlene Zitierweise

Becker, Rainald: Das Inselbistum Chiemsee – ein vergessenes Kapitel bayerischer Geschichte. aventinus bavarica Nr. 10 (Winter 2007), in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7731/

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Erstellt: 23.05.2010

Zuletzt geändert: 28.05.2010

ISSN 2194-198X

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