Stadtgeschichte

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aventinus bavarica Nr. 13 (Winter 2008) 

 

Waltraut Künstler 

Das Ruethenfest in Landsberg am Lech – Ein historisches (Kinder-)Fest? 

Einleitung 

„Die kleine Stadt mit ihrem großen Feste - als eins der schönsten weit bekannt - grüßt ihre Bürger - und die vielen Gäste aus nah und fern, aus Stadt und Land! Geschichte, die sich einst begeben, von uns´rer Jugend dargestellt, erwacht durch sie zu neuem Leben. Ich hoff, dass Euch ihr Spiel gefällt! ...“ [1] Mit diesen Worten eröffnete der Ruethenfestherold am 14. Juli 2007, auf dem Hauptplatz der Lechstadt, das alle vier Jahre stattfindende Ruethenfest. Wie sich unter anderem aus dem Internetauftritt ablesen lässt, erhebt dieses Fest für sich den Anspruch „historisch“ zu sein. [2] Aber sind dafür ein von Kindern in historisch anmutenden Gewändern dargestellter Festumzug, Tänze und Lagerleben ausreichend? Sind nicht auch historische Zeugnisse sowie eine Festtradition nötig, um einer Festveranstaltung das Attribut „historisch“ zu verleihen?

Bevor diese Fragen beantwortet werden können, ist es zunächst notwendig zu klären, welche Chancen und Risiken bei der Geschichtsvermittlung durch historische Festveranstaltungen bestehen. Daran schließt sich die Definition des Begriffes „historisches Fest“ an. Hierbei folgt diese Arbeit dem Vorschlag des im Jahre 1982 erschienen Aufsatzes „Die gegenwärtige Konjunktur historischer Feste in Bayern. Bemerkungen zu Phänomenologie und Genese“ von Hubert Glaser. [3] Anschließend wird das Ruethenfest auf die im Aufsatz geforderten Charakteristika, die ein historisches Fest ausmachen, hin untersucht. Die hierbei zum Teil von Glaser abweichende Anordnung der Merkmale, dient einzig der Lesefreundlichkeit und sagt nichts über deren Gewichtung aus. Abschließend werden die Charakteristika des Ruethenfestes mit den Vorgaben Glasers verglichen.

Vor allem um die Fragen bezüglich des Ursprungs und der Entwicklung des Festes zu beantworten, dienen die im Stadtarchiv Landsberg aufbewahrten Akten zum Ritten- bzw. Ruethenfest als Quellen. Sie beinhalten neben Einladungen und Programmen des Stadtmagistrates auch Artikel des Wochenblattes des königlichen Bezirksamtes Landsberg und der königlichen Landbezirke. Ebenso wurde die Satzung des 1926 gegründeten „Ruethenfestvereins e. V. Landsberg a. L.“ berücksichtigt. Um die Wirkung des Festes in der Gegenwart zu ergründen, wurden Zeitungsartikel des „Landsberger Tagblattes“ und die Homepage des Ruethenfestvereins herangezogen. 

Die Forschungslage ist zweigeteilt. Bezüglich historischer Feste im Allgemeinen gibt es nur wenig Literatur. Demgegenüber gibt es eine ganze Reihe von Beiträgen zur Ruethenfestforschung. Jedoch widmen sich die Wissenschaftler bislang nur den historisch-chronologischen Aspekten des Festes. Vor allem die Frage nach dem Festursprung steht hierbei im Vordergrund. Inwieweit das Landsberger Fest historisch ist bzw. welche Chancen und Risiken es bei der Geschichtsvermittlung birgt, wird in dieser Arbeit untersucht.

1. Chancen und Risiken der Vermittlung von Geschichte via historische Feste 

„Geschichte als Anlass für ein Spektakel“ [4]. Nicht nur Wissenschaftler wie Pöschko stehen historischen Festen mit Vorbehalten gegenüber. Zumal nicht von der Hand zu weisen ist, dass einigen historisch anmutenden Festveranstaltungen jegliches gesichertes historisches Ereignis fehlt. Hinzu kommt, dass bei Veranstaltungen dieser Art nicht die Geschichtsvermittlung selbst im Vordergrund steht. Vielmehr besteht das Ziel darin, dass die Darsteller in eine Rolle schlüpfen. [5] So scheint sich zum Beispiel während der Kaltenberger Ritterspiele das Rad der Geschichte auf dem gesamten Schlossareal zurückgedreht zu haben und der Besucher wähnt sich auf einem mittelalterlichen Turnier, nebst gauklerischen Kunststücken. Auf dem Markt werden Waren und Speisen feilgeboten, so wie sie im Mittelalter hergestellt wurden. Tatsächlich aber etablierte Prinz Luitpold von Bayern diese „historische“ Veranstaltung erst vor 26 Jahren auf Schloss Kaltenberg bei Geltendorf. [6] Bei den Ritterspielen werden also historische Phänomene aus dem Zusammenhang gerissen, stark vereinfacht und oftmals stilistisch überhöht dargestellt. [7]

Historische Feste bergen aber auch Chancen für die Geschichtsvermittlung. Bauer ist der Ansicht, dass Feste, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufen wurden, politische Absichten verfolgten: Die „nationalen Volksfeste“ dienten den politisch Verantwortlichen zur Legitimationsstiftung des 1806 neu gegründeten Königreichs. Selbst wenn ein solches Fest nur eine einzelne Region oder gar Stadt umfasste, war der Inhalt stets mit der gesamten deutschen Nation verwoben. [8] Pöscko verfolgt einen anderen Ansatz: Er ist der Ansicht, dass die moderne Industriegesellschaft durch das Überwinden der ständischen Ordnung vielfach zersplittert ist und Orientierung sucht. Demzufolge können heutige historische Feste das Bedürfnis sowohl des aktiven, als auch passiven Teilnehmers nach Identifikation befriedigen. [9]

Des Weiteren ahmen Kinder gerne Erwachsene nach, die in ein Kostüm bzw. in eine Rolle schlüpfen. Auf diese Weise wird spielerisch das Interesse der Kinder an Geschichte geweckt. Derartige Erfahrungen können im Unterricht mit einbezogen werden. Durch die kritische Auseinandersetzung mit dem Fest können Schüler den reflektierten Umgang mit historischem Bewusstsein erlernen. [10] Gleichzeitig sollten aber auch die Organisatoren deutlich machen, dass es sich bei historischen Festveranstaltungen nicht um ein reales Abbild der Vergangenheit handelt, sondern ausschließlich um eine Rekonstruktion. Dass dabei die unschönen Seiten der Vergangenheit ausgespart werden – wie etwa bei der Landshuter Fürstenhochzeit die mittelalterlichen Abwasserkanäle durch die Altstadt [11] – ist nicht zwangsläufig negativ zu beurteilen. Im 21. Jahrhundert ein originalgetreues Abbild der mittelalterlichen Lebensumstände zu projizieren ist schlichtweg nicht möglich. Zum einen ist selbst die getreueste denkmalpflegerisch wiederhergestellte historische Stätte gewissen modernen Zwängen unterworfen. [12] Zum anderen führen die zum Teil fehlenden Quellen dazu, sich bei der Umsetzung eines Themas anderer – zum Teil späterer – Überlieferungen zu bedienen. In der Wissenschaft ist diese Methode aber durchaus üblich! Ein historisches Fest kann also ebenso exakt bzw. fälschlich ein wirklichkeitsgetreues Abbild der Vergangenheit liefern wie eine wissenschaftliche Arbeit. Sehr wohl aber kann ein solches Fest einen ersten Eindruck über die früheren Lebensumstände vermitteln. Das Hauptproblem liegt dabei nicht darin, dass Geschichte verändert wird, sondern wie diese verändert wird. [13]

2. Definition: „historisches Fest“ 

In seinem eingangs erwähnten Aufsatz über die gegenwärtige Festkultur fordert Glaser als Grundvoraussetzung für ein „historisches Fest“ – unter Zuhilfenahme verschiedener namhafter bayerischer Feste zur Veranschaulichung – die Imitatio Historiae [14]. Das bedeutet, dass „die feierliche Erinnerung an ein konkretes historisches Ereignis in der Form der Vergegenwärtigung“ [15] dargestellt werden soll. Liturgische Feste klammert Glaser hierbei, aufgrund der in erster Linie religiösen Zielsetzung, aus. [16]

Die Vergegenwärtigung des geschichtlichen Ereignisses kann mithilfe eines historischen Umzuges, eines Rollen- oder auch eines Kostümspieles erzielt werden. Entscheidend dabei ist die Umsetzung des Ereignisses in einer „assoziativ-aussagekräftigen, als Original verstandenen Kulisse“. [17]

Durch den Vergleich verschiedener namhafter bayerischer Feste [18] kristallisieren sich weitere, für ein historisches Fest typische, Merkmale heraus. Oftmals haben die Feste ihren Ursprung in einem Kinder- oder Schulfest. Vor allem in Klein- oder Mittelstädten wurden diese im 19. Jahrhundert, unter der Trägerschaft eines Vereins, überformt. Die Kommerzialisierung und Historisierung [19] der Feste sollte dem wirtschaftlichen Niedergang der spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Wirtschafts- und Handelszentren entgegenwirken. [20]

In der häufigen Verwendung einer dynastischen oder militärischen Leitfigur erkennt Glaser eine starke Orientierung der Thematik an der Reichsgeschichte. Abgesehen von der (lokal)politischen Bedeutung eines solchen Themas (die Städte verdankten ihren Reichtum dem Reich), ist die integrierende Wirkung hervorzuheben. Kaiser und Feldherren des Heiligen Römischen Reiches scheinen nicht nur im 19. Jahrhundert bei der Bevölkerung beliebte historische Identifikationsfiguren gewesen zu sein, sondern sind es bis heute. Darüber hinaus ist durch die zentrale Darstellung des Militärwesens die Teilnahme von großen Teilen der Stadtbevölkerung gewährleistet. [21] Wenngleich auch die Hauptfiguren des Festes zumeist überregionale Bekanntheit genießen, so beschränkt sich der Bekanntheitsgrad der einzelnen Feste dennoch eher auf die einzelnen Regionen.

3. Die geopolitische Lage Landsbergs 

Bevor das Fest an sich analysiert wird, ist es notwendig, den Ort des Geschehens genauer zu betrachten. Die an der oberbayerischen Grenze zu Schwaben gelegene Kleinstadt erfuhr – dank ihrer verkehrspolitisch günstigen Lage an der Salzstraße und den von Ludwig dem Bayern verliehenen Privilegien – zu Beginn des 14. Jahrhunderts eine wirtschaftliche Blüte. [22] Als aber Mitte des 19. Jahrhunderts die Allgäubahn München-Buchloe geplant wurde, erwies sich Landsberg, aufgrund seiner Lage im Lechtal, als verkehrspolitisch ungünstig. Anstelle einer Hauptstrecke, musste sich die Stadt mit einer rund 4,5 Kilometer langen, von Kaufering abzweigenden, Nebenstrecke begnügen. Dieser bis in die Gegenwart ungünstige Eisenbahnanschluss war einer der Hauptgründe für die zunehmende wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit der Stadt. [23] Hatte Landsberg im Mittelalter eine florierende Handelsstadt dargestellt, so verlor sie, spätestens mit Beginn des „Eisenbahnzeitalters“, ihre wirtschaftliche Prosperität. Demzufolge war es für die Stadt nötig, auf einem anderen Gebiet neue Einnahmequellen zu erschließen. Die Kleinstadt begann somit im 19. Jahrhundert ihr Ruethenfest historisch zu überformen. Dies zog nicht nur Touristen, sondern vor allem deren Geld nach Landsberg.

4. Das Ruethenfest 

4.1 Die Entstehung 

Die Entstehung des Ruethenfestes ist mangels Quellen nur schwer greifbar. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Theorien. An dieser Stelle sollen nur die bekanntesten vorgestellt werden. 

Die erste, mittlerweile als widerlegt geltende Theorie, geht davon aus, dass das Landsberger Fest seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges besteht. Diese Annahme basiert auf einem am 20. Juli 1839 im „Landsberger Tagblatt“ veröffentlichten Artikel des Stadtmagistrats, in dem es heißt: „Die Stadt Landsberg gibt schon seit dem Jahre 1647 zum Gedächtnis des Abzugs der feindlichen Schweden ihrer Schuljugend alle 3 Jahre ein Fest, welches man ‚Ritten’ zu nennen pflegt.“ [24] Aber bereits Krallinger, der sich Ende des 19. Jahrhunderts eingehend mit der Entstehungsgeschichte des Ruethenfestes befasst hat, weist darauf hin, dass eine derartige Bekanntmachung kein Beweis sei. Er ist vielmehr der Ansicht, dass der Schwedeneinfall eine Unterbrechung einer bereits bestehenden Tradition eines Kinderfestes dargestellt hat. Nach dem Abzug der feindlichen Truppen, seien diese Feste dann wiederbelebt worden. Krallinger selbst führt keine Quellen für seine Theorie an. [25] Dennoch ist seine These nachvollziehbar. In Kaufbeuren gibt es ein ähnliches, bereits im 16. Jahrhundert belegtes Kinderfest: das Tänzelfest. Im Heimatmuseum der Stadt befindet sich eine aus dieser Zeit stammende Zunfttafel der Weber. Darauf ist ein Umzug mit jugendlichen Fahnenschwingern abgebildet. [26] Berücksichtigt man nun die Tatsache, dass Kaufbeuren nur 30 Kilometer südwestlich von Landsberg liegt, sind gewisse historische Parallelen beider Feste bezüglich ihres Ursprungs anzunehmen. [27]

Weil aber das Fest erst ein Jahrhundert später, in einem Ratsprotokoll aus dem Jahre 1751, [28] zum ersten Mal schriftlich belegt ist – es wird darin von einem „Rittenfest“ [29] gesprochen – wurde mithilfe des Festnamens versucht, dem Festursprung näher zu kommen. Krallinger fand heraus, dass Ritten, Rüetten, oder Riad im schwäbischen bzw. altbayerischen Dialekt auf den Plural des Wortes Rute, lateinisch virga, zurückgeht. [30]

Auf eben diese etymologische Deutung stützt sich die zweite, wohl bekannteste Theorie über die Entstehung des Festes. Der zufolge ist das in Landsberg nicht urkundlich belegbare Virgatumgehen der Festursprung. Bei diesem Brauch, der sich in Bayern bis in das Jahr 1426 zurückverfolgen lässt, sollen die Schüler im Frühjahr gemeinsam mit ihren Lehrern ins Grüne gezogen sein, um „den für sie = die Schüler nötigen Bedarf an Ruten selbst herzuschaffen“ [31]. Basierend auf einem Gedicht aus Eppingen in der Pfalz um 1565 [32], führt Jannson weiter aus, dass dabei die Kinder fröhliche Spiele veranstalteten. [33] Krallinger wendet ein, dass diese Verse symbolisch zu verstehen seien. Die Schüler sollten auch in ihrer Freizeit die Schuldisziplin nicht völlig vergessen. [34] Außerdem weist Lang darauf hin, dass bei dem Brauch des Virgatumgehens der Rutenschnitt der Schüler nicht belegt ist. Dennoch sei anzunehmen, dass die Wiege des Landsberger Ruethenfestes in einem Schulausflug ins Grüne liegt. Dabei stand, neben Spielen, die Verköstigung im Mittelpunkt. [35]

Wenn also bei diesem Fest die Rute überhaupt einen Rolle spielte, dann wohl am ehesten als eine Art Festzeichen, das die an diesem Tag außer Kraft gesetzte Schuldisziplin symbolisieren sollte. [36]

4.2 Überformung und Entwicklung im 19. Jahrhundert 

So unklar der Festursprung ist, so unklar bleibt auch sein weiterer Verlauf bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Erst seit dem Jahre 1835 ist die Festtradition nahezu lückenlos dokumentiert. Es spielen zwar noch immer die Kinder die Hauptrolle, [37] aber davon abgesehen erinnert kaum noch etwas an ein Schulfest. Fortan bildet ein alle ein bis fünf Jahre stattfindender Umzug den Mittelpunkt des Festes, wobei es zu Beginn noch kein festes Rahmenthema gegeben zu haben scheint. So waren „Die 12 Monate“ (1836) [38], „Die Früchte des Fleißes und der Tugend“ (1845) [39] oder „Die vier Jahreszeiten“ (1875) [40] Themen der Umzüge. [41] Mit der Thematisierung des bayerischen Herrschergeschlechts im Jahre 1880 zum 700jährigen Regierungsjubiläum der Wittelsbacher erlebte das Landsberger Fest den Auftakt zur Historisierung. [42]

Mit der Hinwendung zur Darstellung der gesamten Stadtgeschichte seit dem Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts scheint eine Rückbesinnung auf den Ursprung des Festes stattgefunden zu haben. Dies zeigt die Vertretung der Ruethenkinder im Festzug. [43] Abgesehen von einigen Ergänzungen, wie etwa dem Bayertorwagen (seit 1925) oder die Zusammenlegung der Prunk- und Tanzwagen zu einem Herzog-Ernst-Wagen (seit 1930), [44] besteht diese Festzugsordnung noch heute [45]. Ausschlaggebend für die historische Überformung des Festes war die Hoffnung der Stadt mehr Touristen nach Landsberg zu locken. Mit dieser „neuen“ Einnahmequelle wurde verhindert, dass die Kleinstadt ins wirtschaftliche Abseits gerät. [46]

Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle erwähnt, dass sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts parallel zum Umzug die Aufführung eines historischen Schauspiels etablierte. Die Festspiele orientieren sich, ähnlich dem Festumzug, stets an lokalgeschichtlichen Ereignissen oder Persönlichkeiten. Jedoch basiert im Allgemeinen nur das Rahmenthema auf historischen Tatsachen. [47] Am häufigsten kam das 1905 uraufgeführte Stück „Der Jungfernsprung zu Landsberg“ von Cornel Schmitt zur Aufführung. Das Rahmenthema des vieraktigen Dramas bildet die Erstürmung Landsbergs durch den schwedischen General Torstenson im Dreißigjährigen Krieg. Die einzelnen Handelsstränge bzw. Personen des Intrigenspiels rund um den Stadtschreiber Lohnecker und den Bürgermeister Unfried sind frei erfunden. [48]

4.3 Die Thematik

Die Thematik des heutigen Festumzuges folgt, wie bereits erwähnt, der Stadtgeschichte Landsbergs. Seit dem Umzug im Jahre 1900 orientiert man sich an den 1879 fertig gestellten vier Fresken des Rathausfestsaals: Diese Fresken entstanden aus Mitteln des Fonds zur Pflege und Förderung der Kunst in den Provinzen des Königreichs unter König Ludwig II. Ziel dieses Förderprogramms war es, die künstlerische Ausstattung öffentlicher Bauten staatlich zu subventionieren. Nach der Bewilligung des Landsberger Subventionsgesuches und der Einigung über die Höhe des Zuschusses, übersandte Bürgermeister Arnold im April 1874 dem Generalsekretariat des Kultusministeriums neun Themenvorschläge. Die vier zur Ausführung bestimmten Themen schildern nicht nur markante Ereignisse der Landsberger Stadtgeschichte, sondern glorifizieren – von einer Ausnahme abgesehen – das bayerische Herrscherhaus: Die Verleihung von Privilegien an die Stadt durch Kaiser Ludwig den Bayern (1315 und 1320) weist nicht nur auf die Großzügigkeit des Wittelsbachers hin, sondern auch auf die Treue der Landsberger zum Kaiser. Die Stiftung des Heilig Geist Spitals durch Markgraf Ludwig den Brandenburger (1349) hebt die Fürsorge des Markgrafen um die städtische Sozialeinrichtung hervor. Der Tanz des Herzogs Ernst (1434) mit Landsberger Bürgerinnen stellt die enge Verbundenheit zwischen Volk und Obrigkeit dar. Gleichzeitig bildet diese Episode den Kern des Landsberger Festes seit 1900. Die Erstürmung Landsbergs durch die Schweden und der legendenhafte Sprung Landsberger Jungfrauen in den Tod (1633) verbinden zeitlose Bürgertugenden mit der Stadtgeschichte Landsbergs. [49]

4.4 Die Trägerschaft 

Mit der Rückbesinnung auf den Ursprung des Festes, sowie der Etablierung der Stadtgeschichte als festes Thema des Umzuges waren die Neuerungen noch nicht abgeschlossen. Vom 18. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre oblag die Durchführung des Festes der Stadt. Dies zeigen unter anderem die vom Stadtmagistraten unterschriebenen Einladungen und Programme. [50]

Mit der Eintragung des „Ruethenfestvereins e. V. Landsberg a. L.“ in das Vereinsregister am 9. Januar 1926 änderte sich dies. Fortan ist es an den ehrenamtlichen Mitgliedern das historische Ruethenfest mit Festspiel durchzuführen. [51] Hierbei kommt dem Verein sicherlich zu Gute, dass er in seinem ersten Ausrichtungsjahr bereits auf eine lange Festtradition zurückgreifen konnte. Gleichzeitig blieb aber Raum für Neues. So bildet etwa der 1930 aus dem Prunk- und Tanzwagen zusammengefasste Herzog-Ernst-Wagen mit dem dazugehörigen Tanz einen der Höhepunkte des heutigen Ruethenfestes. [52]

Weshalb die Stadt die Ausrichtung des Festes einem Verein abtrat, ist nicht bekannt. Weder befinden sich im Stadtarchiv Landsberg schriftlich fixierte Quellen, noch kennt der Ruethenfestverein diesbezüglich mündlich tradierte Anekdoten oder Erzählungen [53]. Rückblickend war die Vereinsgründung aber für alle von Vorteil. Der Verein umfasst heute ca. 1350 Mitglieder. Im Verhältnis zu Landsbergs Einwohnerzahl von ca. 27 000, handelt es sich um einen großen Verein. Einerseits bedeutet diese Mitgliederzahl, dass der Verein durch den jährlichen Mitgliedsbeitrag in Höhe von 12 Euro, einen Teil der finanziellen Mittel selbst stemmen kann. Andererseits reduziert sich die Arbeitsbelastung der Verantwortlichen aufgrund der ca. 800 aktiven Mitglieder.

4.5 Teilnehmer, Kostüme und Kulisse 

Schon allein die Umsetzung des Themas „Herzog Ernst“ ermöglicht vielen Kindern die aktive Festteilnahme. Neben dem Herzog und seinen beiden Tanzpartnerinnen mussten sein Gefolge von Pagen und Dienern sowie Bürgerinnen und Bürgern dargestellt werden. Jedoch sind es in erster Linie die militärischen Themen, wie etwa die Erstürmung Landsbergs durch die Schweden, die eine große Teilnehmerzahl ermöglichen. 

Um sich für einige Tage in eine Figur der Landsberger Stadtgeschichte zu verwandeln, gilt es vor allem zwei Voraussetzungen zu erfüllen: Zum einen müssen die Kinder eine Schule in Landsberg oder in einem Stadtteil von Landsberg besuchen. Zum anderen müssen die Kinder in eines der historischen Kostüme passen. Ein jedes dieser Kostüme ist von Mitgliedern des Ruethenfestvereins e.V. handgenäht. Der Verein legt hierbei besonderes Augenmerk auf historische Treue [54]. Darüber hinaus werden die Kinder angehalten, „Modernes“, wie etwa Turnschuhe [55], Uhren, Kaugummi und Brillen, zu vermeiden, da diese Dinge nicht zu den historischen Kostümen passen. [56]

Die Kulisse, die Altstadt Landsbergs, erfüllt ebenfalls die vom Ruethenfestverein verlangte Historizität. Der Umzug bewegt sich, beginnend in der Spöttinger Straße bzw. Katharinenstraße, über die Karolinenbrücke in die Altstadt. [57] Dort säumen die am Ende des 14. bzw. am Anfang des 15. Jahrhunderts entstanden Handwerks-, Bürger- und Lagerhäuser sowie die Kirchen – heute allesamt unter Denkmalschutz – den Umzug. [58]

4.6 Touristische Attraktion und Mitwirkung der Landsberger

Allein schon das Zusammenwirken der mittelalterlichen Gebäude und der in historische Kostüme gewandeten Kinder machen den Besucher Glauben, dass das Rad der Geschichte – zumindest für kurze Zeit – in Landsberg zurückgedreht wurde. Dass sich dieses Zurückdrehen bei Teilnehmern und Besuchern gleichermaßen großer Beliebtheit erfreut, zeigen die folgenden Zahlen. Beim Ruethenfest 2003 zählten die Veranstalter ca. 30 000 Besucher. Wenn man die Einwohnerzahl Landsbergs zum Vergleich heranzieht (ca. 28 000) [59] so kann zu Recht behauptet werden, dass während des Festes die gesamte Stadt auf den Beinen ist.

Genauso beeindruckend wie die Besucherzahlen der Kleinstadt ist die enorme Anzahl an Teilnehmern. Laut Heike Neumeyer, Geschäftsführerin des Ruethenfestvereins, reichten die ca. 1100 (!) vorhandenen Kostüme beim Ruethenfest 2007 nicht aus, um allen angemeldeten Kindern die Teilnahme zu ermöglichen. [60] Es ist davon auszugehen, dass vor allem die 2007 leer ausgegangenen und in Landsberg geborenen Kinder beim nächsten Fest im Jahr 2011 erneut  versuchen werden, ein Kostüm zu bekommen. Denn unter den gebürtigen Landsbergern gibt es kaum jemanden, der nicht wenigstens einmal am Ruethenfest teilnehmen möchte bzw. teilgenommen hat. [61]

Wer ein Kostüm bekommt, für den dauert das Ruethenfest fast das ganze Jahr hindurch. Es beginnt mit der Anmeldung im Januar und endet mit der Kostümrückgabe im September. Die aktiven Mitglieder des Ruethenfestvereins hingegen beschäftigt das Landsberger Fest auch dann,  wenn es pausiert. [62] In den Festjahren gilt es vor allem, die Kostümausgabe, Stellproben, Aufbau von Podest und Tribüne am Hauptplatz und die Bewirtung der Festgäste zu organisieren. In den Jahren ohne Fest müssen in erster Linie die Kostüme ausgebessert und das festliche Rahmenprogramm mit Tänzen und „Historischem Abend“ ausgearbeitet werden.

5. Vergleich: historisches Fest im Allgemeinen – Ruethenfest im Speziellen 

Vergleicht man nun Glasers Charakteristika [63] für ein historisches Fest mit denen des Ruethenfestes, ist folgendes festzustellen: Lage und Geschichte der Stadt bieten die Rahmenbedingungen für ein historisches Fest. Die Stadt Landsberg erlebte im Mittelalter ihre wirtschaftliche Blüte, von der heute nicht nur die zu dieser Zeit entstandenen Gebäude, sondern auch die Fresken im Rathausfestsaal zeugen. [64] Dass der wirtschaftliche Aufschwung eng mit der Reichspolitik zusammenhing, belegen neben den Rathausmalereien auch die zahlreichen Urkunden im Stadtarchiv [65]. Mit dem Beginn des Eisenbahnzeitalters verpasste das Städtchen – im wahrsten Sinne des Wortes – den Anschluss an die Moderne und wurde zunehmend bedeutungslos. [66]

Aber zu eben dieser Zeit, ganz so wie von Glaser gefordert, erinnerte sich Landsberg an sein Ritten- bzw. Ruethenfest. Die Festursprünge scheinen, trotz der schlechten Überlieferungsgeschichte, bei einem Schulfest zu liegen. [67] Dieses Fest wurde nun historisch überformt. Den Mittelpunkt bildete fortan ein aus Kindern bestehender Umzug, der bis ins ausgehende 19. Jahrhundert kein festes Rahmenthema hatte. Aber spätestens seitdem sich die Darstellung der Stadtgeschichte als Thema durchgesetzt hat, erfüllt das Ruethenfest endgültig die von Glaser geforderte Imitatio Historiae. Jedoch wird in Landsberg nicht nur an ein konkretes historisches Ereignis erinnert, wie bei Glaser gefordert, sondern sogar an vier verschiedene.

Eines davon ist der „Schwedeneinfall“. Wie von Glaser herausgearbeitet, ermöglicht ein solches militärisches Thema eine große Teilnehmerzahl. Aber es sind überwiegend Jungen, die für ein paar Tage in die Rolle eines Soldaten schlüpfen. Da ein entsprechendes historisches „Mädchenthema“ schwer zu finden ist, wird der Umzug durch einige nicht historische Themen ergänzt. Eines davon ist der seit dem Jahre 1910 im Umzug mitgeführte Rosenwagen. Die auf ihm fahrenden „Rosenmädchen“ symbolisieren die Rosenpracht des Frühsommers [68]. Weshalb sich die Veranstalter gerade für Rosen entschieden haben, ist nicht bekannt.

Hinzu kommt wirtschaftliches Kalkül: Je größer der Umzug, desto größer die Resonanz. Einerseits besuchen mehr Eltern den Festzug und steigern damit den Umsatz. Andererseits nimmt die mediale Aufmerksamkeit zu, was zu einem Anstieg der auswärtigen Besucher führt. [69] Diese Kommerzialisierung entspricht wiederum völlig der Entwicklung historischer Feste. Sicherlich ist es zum Großteil dem 1926 ins Vereinsregister eingetragenen Ruethenfestverein zu verdanken, dass trotz aller Kommerzialisierung die Imitatio Historiae bis heute den Festmittelpunkt darstellt. Das zeigt sich nicht nur im Festprogramm. Auch die möglichst historisch exakt geschneiderten Kostüme und die Anweisungen an deren Träger, auf „Modernes“ zu verzichten, sprechen dafür. [70]

Obwohl für ein historisches Fest die Trägerschaft eines Vereins üblich zu sein scheint, gibt es einen Unterschied: Im Allgemeinen ist ein bereits bestehender Verein Initiator eines historischen Festes. In Landsberg hingegen, übernahm ein Verein die Durchführung desselben erst, als das Fest bereits fest im städtischen Veranstaltungskalender verankert war. [71]

SCHLUSSBEMERKUNG 

Die Imitatio Historiae, die für Glaser unabdingbare Basis eines jeden historischen Festes ist, steht beim Ruethenfest eindeutig im Mittelpunkt. Aber auch nahezu alle anderen geforderten Kriterien, sei es die geopolitische Lage der Stadt oder seien es die Ursprünge und weitere Entwicklung des Festes – um nur einige zu nennen –, werden erfüllt. 

Strittig sind lediglich zwei Charakteristika: Zum einen werden im Umzug auch nicht historische Festwagen, wie etwa der bereits erwähnte Rosenwagen, mitgeführt. Dies scheint der historischen Imitation zuwider zu laufen. Jedoch können diese Gruppen, wie bereits diskutiert, auch unter dem Gesichtspunkt der zunehmenden Kommerzialisierung gesehen werden und fallen somit nicht aus dem Rahmen.

Zum anderen wurde das Fest im 19. Jahrhundert nicht – wie von Glaser gefordert – von einem Verein wieder entdeckt und neu initiiert. Erst als sich das Ruethenfest in Landsberg bereits etabliert hatte, wurde es von einem Verein übernommen. Weil dies aber das einzige nicht erfüllte Kriterium ist, kann dennoch festgehalten werden, dass das Ruethenfest in Landsberg zu Recht seinen Anspruch erhebt, ein historisches Fest zu sein. 

Es sei aber nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es bisher keine allgemein gültige Definition für ein historisches Fest gibt. Glasers Aufsatz ist lediglich als ein – zugegeben sehr überzeugender – Versuch zu sehen. Somit muss das endgültige Fazit lauten: Im Sinne der Definition Glasers, ist das Landsberger Ruethenfest ein historisches (Kinder-) Fest. 

Diese Feststellung bietet die Basis für weitere wissenschaftliche Untersuchungen. So berücksichtigte bislang weder die Forschung im Allgemeinen, noch die Ruethenfestforschung im Speziellen die Tatsache, dass bei dem Landsberger Fest nicht Erwachsene, sondern Kinder die Hauptdarsteller sind. Inwieweit sich diese Tatsache auf die Chancen und Risiken der Geschichtsvermittlung via historische Feste auswirkt, ist noch zu untersuchen. 

Anmerkungen

Empfohlene Zitierweise

Künstler, Waltraud: Das Ruethenfest in Landsberg am Lech – Ein historisches (Kinder-)Fest?. aventinus bavarica Nr. 13 (Winter 2008), in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7726/

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Erstellt: 23.05.2010

Zuletzt geändert: 26.05.2010

ISSN 2194-198X