Imperialismus und Erster Weltkrieg (1890-1918)

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aventinus nova Nr. 27 [30.10.2010] 

Max Trecker 

Imperialismus als Schicksal der Moderne?  

Eine kritische Auseinandersetzung mit Max Webers Aufsatz „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“ 

Max Weber gilt vielfach als Lichtgestalt der deutschen Geistesgeschichte der Kaiserzeit. Gründer der Soziologie, hervorragender Theoretiker und Universalgelehrter sind hierbei nur die geläufigsten Titel, die ihm teilweise schon zu Lebzeiten von seinen Zeitgenossen verliehen wurden. In der Tat handelt es sich bei Max Weber um eine sehr vielseitige Persönlichkeit. Nach dem Abitur studierte er neben Jura noch Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie in Heidelberg, Berlin und Göttingen und schlug eine wissenschaftliche Karriere ein, die 1893 – Max Weber war damals nur neunundzwanzig Jahre alt – in seiner Berufung zum Professor für Handelsrecht in Berlin einen vorläufigen Höhepunkt zu finden schien. Doch bereits ein Jahr später wechselte er in einen anderen Fachbereich und übernahm den Lehrstuhl für Nationalökonomie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.  

Seine 1895 in Freiburg gehaltene Antrittsrede soll im Mittelpunkt der Betrachtung dieses Essays stehen, da sie repräsentativ ist für zwei Seiten seiner Persönlichkeit: Sie verbindet den Wissenschaftler mit dem Politiker Max Weber. In seiner Rede konnten der Nationalist und das Mitglied des Alldeutschen Verbands Max Weber – ausgehend von Betrachtungen einer scheinbar unbedeutenden preußischen Provinz – die Ergebnisse seiner empirischen Forschungen über die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, die er im Rahmen einer Enquete für den Verein für Socialpolitik angefertigt hatte, mit seinen politischen Überzeugungen zu einer Gesamtbetrachtung der Aufgaben seines Faches und einer Beurteilung der Politik des Kaiserreiches verbinden. Das Ziel ist es, die von Max Weber in seiner Antrittsrede geäußerten Ansichten zur Nationalökonomie und seine aus dem von ihm verwendeten empirischen Material gezogenen Schlussfolgerungen für die Politik – besonders in Bezug auf die Notwendigkeit einer imperialistischen Agenda – unter Hinzuziehung zeitgenössischer Quellen aus der Kaiserzeit einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.

Bei der preußischen Provinz, die Max Weber als Ausgangspunkt für seine Argumentation benutzt, handelt es sich um die zumindest in der Zeit des Kaiserreiches traditionell sehr agrarisch geprägte Provinz Westpreußen mit einer gemischten deutsch-polnischen Bevölkerungsstruktur. Er beschreibt hierbei zunächst Gegensätze dreierlei Art: Der Güte des Ackerbodens, der sozialen Schichtung der Bevölkerung sowie der Nationalitäten und stellt dabei fest, dass in den fruchtbaren Kreisen der Provinz die Polen relativ auf den Gütern und in den Kreisen mit geringerer Fruchtbarkeit des Ackerbodens relativ auf den Dörfern am stärksten vertreten sind. Da auf den fruchtbaren Böden der einfache Kleinbauer in der Regel wesentlich wohlhabender ist als der Gutstagelöhner, sich dieses Verhältnis auf den schlechten Böden jedoch umkehrt, schlussfolgert Weber aus dem empirischen Material, dass die polnische Bevölkerung in Westpreußen in der Regel die sozial und ökonomisch unterste Schicht der Bevölkerung bildet, obwohl die beiden Nationalitäten schon seit dem späten Mittelalter um den selben Boden miteinander konkurrieren. [1]

Den Grund für diese niedrige soziale Stellung der Polen sieht Weber in den unterschiedlichen physischen und psychischen Rassequalitäten der Deutschen und Polen und ihrer Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Existenzbedingungen begründet. Dennoch stellt er fest, dass sich das Deutschtum trotz seiner scheinbaren Überlegenheit seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts aufgrund zweier unterschiedlicher Mechanismen im relativen Niedergang befände. Einerseits werde vor allem die katholische deutsche Minderheit von der polnischen Mehrheitskultur assimiliert, während andererseits besonders der protestantische und damit deutsche Bevölkerungsteil ökonomisch verdrängt werde. Dieser Prozess der ökonomischen Verdrängung betrifft laut Weber in großem Maße deutsche Gutstagelöhner, die aus den Kreisen mit niedriger Bodenfruchtbarkeit abwandern und somit eine zunehmend größer werdende polnische Majorität zurücklassen.

Diese Entwicklung sieht Max Weber in den unterschiedlichen, rassisch begründeten Ansprüchen an die Lebenshaltung veranlagt. Die deutschen Tagelöhner wollen seiner Ansicht nach nicht mehr in einem streng patriarchalischen Arbeitsverhältnis als Knechte im Dienst eines Gutsherrn arbeiten, sondern vielmehr entweder ihren eigenen Hof bewirtschaften oder sich in den Städten eine selbständige Existenz aufbauen. Der Wegzug der deutschen Gutstagelöhner bewirkt jedoch bei den adeligen Gutsbesitzern, die ohnehin unter einer langdauernden Krise der Landwirtschaft zu leiden haben, eine Umstellung der Bewirtschaftung hin zur Saisonarbeit. Bei diesen Saisonarbeitern, die laut Weber eine rein proletarische Existenz fristen und im Gegensatz zum Gutstagelöhner keine aus einem patriarchalischen Verhältnis stammende soziale und ökonomische Sicherung mehr besitzen, handelt es sich vor allem um Polen aus dem Grenzgebiet des russischen Zarenreiches. [2] Das Polentum gewinnt damit für ihn an der Peripherie des Kaiserreiches immer mehr Einfluss, wobei er die Gründe für diese Entwicklung und die daraus resultierende Gefahr in seiner Rede folgendermaßen beschreibt:

„Und weshalb sind es die polnischen Bauern, die an Terrain gewinnen? Ist es ihre überlegene ökonomische Intelligenz oder Kapitalkraft? Es ist vielmehr das Gegenteil von beiden. […] Der polnische Kleinbauer gewinnt an Boden, weil er gewissermaßen das Gras vom Boden frisst, nicht trotz, sondern wegen seiner tiefstehenden physischen und geistigen Lebensgewohnheiten. […] Nicht immer – so sehen wir – schlägt, wie die Optimisten unter uns meinen, die Auslese im freien Spiel der Kräfte zugunsten der ökonomisch höher entwickelten oder veranlagten Nationalität aus. Die Menschengeschichte kennt den Sieg von niedriger entwickelten Typen der Menschlichkeit und das Absterben hoher Blüten des Geistes- und Gemütslebens, wenn die menschliche Gemeinschaft, welche deren Träger war, die Anpassungsfähigkeit an ihre Lebensbedingungen verlor, es sei ihrer sozialen Organisation oder ihrer Rassenqualitäten wegen.“ [3]

Der Prozess der ökonomischen Verdrängung, der in Westpreußen zu einem allmählichen Rückzug des Deutschtums führt, ist für Max Weber nur eine sublimierte Form des Kampfes der Nationen und Rassen um ihre Zukunft. Von dieser Annahme ausgehend analysiert er die Ökonomie als politische Wissenschaft. Seiner Auffassung nach ist die Volkswirtschaftspolitik kein Suchen nach Möglichkeiten zur Verbesserung der Lustbilanz der Menschen oder zur Beglückung der Welt, sondern vielmehr ein Suchen nach Möglichkeiten zur Sicherung des Überlebens der Nation und zur Emporzüchtung der Eigenschaften im Menschen, die allgemein mit menschlicher Größe verbunden werden. Konkrete Angaben über diejenigen Eigenschaften, die den Adel der menschlichen Natur ausmachen sollen, macht er in seiner Rede jedoch nicht. 

Für Weber ist aufgrund seiner Beschreibung der Aufgabe der Ökonomie die volkswirtschaftspolitische Arbeit eine rein altruistische, da sie sich an der Zukunft und an zukünftige Generationen orientiere. Das Bild, das er hierbei von der Zukunft zeichnet ist negativ und erscheint gefahrvoll. Er selbst zitiert hierfür Dantes bekannten Ausspruch lasciate ogni speranza. [4] Als Wissenschaft vom Menschen dürfe die Volkswirtschaftslehre sich nicht mehr nur mit den Problemen der Gütererzeugung und der Güterverteilung bzw. der sozialen Gerechtigkeit beschäftigen, sondern vor allem mit der Qualität der Menschen und den ökonomischen sowie sozialen Existenzbedingungen, die deren besagte Qualität erhöhen können. Die Wertmaßstäbe eines deutschen Ökonomen könnten hierbei nur deutsche sein, da die Volkswirtschaftslehre in ihrer Analyse zwar international sei, in ihren Werturteilen jedoch gebunden an die jeweilige Nation: [5]

„Nicht in erster Linie für die Art der volkswirtschaftlichen Organisation, die wir ihnen überliefern, werden unsere Nachfahren uns vor der Geschichte verantwortlich machen, sondern für das Maß des Ellenbogenraums, den wir ihnen in der Welt erringen und hinterlassen. Machtkämpfe sind in letzter Linie auch die ökonomischen Entwicklungsprozesse, die Machtinteressen der Nation sind, wo sie in Frage gestellt sind, die letzten und entscheidenden Interessen, in deren Dienst ihre Wirtschaftspolitik sich zu stellen hat, die Wissenschaft von der Volkswirtschaftspolitik ist eine politische Wissen schaft. Sie ist eine Dienerin der Politik, nicht der Tagespolitik der jeweils herrschenden Machthaber und Klassen, sondern der dauernden machtpolitischen Interessen der Nation.“ [6]

Die Forderungen, die der Professor für Nationalökonomie Max Weber aus Sicht eines deutschen Ökonomen an die Politik stellt, sind vielfältig. In Bezug auf das von ihm beschriebene Problem des Wegzugs der Deutschen aus Westpreußen formuliert er zwei Forderungen: Zum einen soll seiner Ansicht nach die östliche Grenze des Kaiserreiches zum Zarenreich geschlossen und der Zustrom polnischer Wanderarbeiter damit unterbrochen werden. Diese Maßnahme war bereits von Bismarck während seiner Amtszeit als Reichskanzler umgesetzt worden. Nach seiner Entlassung 1890 wurden die Grenzen unter seinem Nachfolger von Caprivi jedoch wieder geöffnet. Zum anderen solle der Staat Ackerland in den östlichen Provinzen ankaufen und eine systematische Kolonisation dieser Gebiete mit deutschen Bauern betreiben, wobei Großbetriebe, die auf staatliche Subventionen angewiesen sind, diese nicht mehr bekommen sollen, da sie es in der Regel seien, die aufgrund ihrer Art der Bewirtschaftung auf polnische Saisonarbeiter angewiesen sind. [7]

Weitaus wichtiger und grundlegender erscheint Max Weber jedoch die allgemeine Beurteilung der Politik und der herrschenden Gesellschaftsschichten in Bezug auf ihre Nützlichkeit für das deutsche Gemeinwesen aus Sicht eines Nationalökonomen. Im Zentrum seines Interesses steht hierbei die Beurteilung der politischen Reife, also der Befähigung der unterschiedlichen Klassen die politischen und ökonomischen Interessen der Nation über alle anderen Erwägungen zu stellen. Seine Analyse der Gesellschaft des Kaiserreiches im Jahr 1895 ergibt dabei das Bild einer Gesellschaft im Umbruch, da sich die herrschende politische Klasse im Niedergang befinde. Mit dieser herrschenden Klasse meint Weber den Adel vor allem in seiner preußischen Ausprägung. Insofern ist das Beispiel der Provinz Westpreußen von zweifacher Bedeutung, da es einerseits vor allem die ökonomische Verdrängung der Deutschen durch die Polen als auch den ökonomischen und damit verbundenen politischen Niedergang des preußischen Junkertums veranschaulichen soll.

In einer solchen Situation des Überganges der Macht in die Hände einer anderen Klasse ergeben sich für Weber im Falle Deutschlands vor allem zwei Gefahren: Eine Gefahr besteht darin, dass die ökonomisch sinkende Klasse verzweifelt versucht ihre politische Macht zu erhalten, während die andere Gefahr darin besteht, dass die ökonomisch aufsteigende Klasse versucht ihre Anwartschaft auf die politische Macht geltend zu machen ohne jedoch die zur Leitung des Staates hierfür nötige Reife zu besitzen. Diese zweite Gefahr betrachtet Weber als weitaus größer und realer. [8]

Die preußischen Junker hingegen haben für ihn ihre Arbeit getan. Der letzte große Staatsmann, der ihnen entstammte war aus Sicht Webers Bismarck, der zwar die äußere Reichseinheit hergestellt habe, bei der inneren Einheit jedoch versagt habe, was sein teilweises Scheitern als Politiker erkläre. Spätestens seit dessen Rücktritt befinde sich diese politische Klasse jedoch nicht nur im ökonomischen, sondern auch im politischen Todeskampf. Max Webers Einstellung zur politischen Reife des Bürgertums, das sich aus seiner Sicht ja immerhin im ökonomischen Aufstieg befindet, ist jedoch negativ: 

„Welches aber sind die Hände, in welche jene politische Funktion des Junkertums hinübergleitet und wie steht es mit ihrem politischen Beruf? Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen  und Idealen. Allein es ist der Beruf gerade unserer Wissenschaft, zu sagen, was ungern  gehört wird,  – nach oben, nach unten, und auch der eigenen Klasse, – und wenn ich mich frage, ob das Bürgertum Deutschlands heute reif ist, die politisch leitende Klasse der Nation zu sein, so vermag ich heute nicht diese Frage zu bejahen. Nicht aus eigener Kraft des Bürgertums ist der deutsche Staat geschaffen worden, und als er geschaffen war, stand an der Spitze der Nation jene Cäsarengestalt aus anderem als bürgerlichem Holze. Große machtpolitische Aufgaben wurden der Nation nicht abermals gestellt, weit später erst, schüchtern und halb widerwillig, begann eine überseeische  Machtpolitik, die diesen Namen nicht verdient. […] Schon als nach den Einheitskriegen die ersten Anfänge positiver politischer Aufgaben der Nation nahe traten, der Gedanke einer überseeischen Expansion, – da fehlte ihm [sc. dem Bürgertum] selbst jenes  einfachste ökonomische Verständnis, welches ihm gesagt hätte, was es für den Handel Deutschlands bedeutet, wenn an den Küsten umher die deutschen Fahnen wehen.“ [9]

Für Max Weber birgt der Aufbau eines Kolonialreiches als nationale Aufgabe für die aufstrebenden politischen Klassen sowohl des Bürgertums als auch des Proletariats das Potential eines Gesellenstücks zum Beweis der politischen Reife. Allerdings könnte es aus seiner Sicht für das Bürgertum hierfür bereits zu spät sein, während sich das Proletariat noch weit entfernt befindet von der zur Leitung der Nation nötigen politischen Reife. [10]

Dies wird für Weber vor allem im Vergleich des deutschen mit dem englischen und französischen Proletariat deutlich. Besonders das englische Proletariat ist seiner Meinung nach weitaus reifer als das deutsche aufgrund einer längeren ökonomischen Erziehungsarbeit und seines ausgeprägteren Bewusstseins für die Notwendigkeit der Weltmachtstellung Englands. Überspitzt gesagt befindet sich Max Weber als bürgerlicher, deutscher Nationalökonom solange in Gegnerschaft zum deutschen Proletariat wie es noch „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ skandiert. Dennoch erkennt er dessen Potential an und die Notwendigkeit einer politischen Erziehungsarbeit, die die Schaffung einer Arbeiteraristokratie zum Ziel haben soll, die unter Umständen mit dem Bürgertum zusammen nationale Aufgaben bewältigen kann. Seiner Meinung nach hätte die Reichseinigung 1871 besser nicht erfolgen sollen, sofern sie nicht durch eine kraftvolle ökonomische und territoriale Expansion Deutschlands in Übersee vollendet worden wäre. [11]

Max Webers Plädoyer für eine imperialistische bzw. imperialistischere Politik des Kaiserreiches hat bereits unter seiner Zuhörerschaft während seiner Antrittsrede teilweise für heftige Kritik gesorgt. [12] Obwohl seine Ansichten nicht fundamental neu waren und die Kolonialfrage unter seinen Zeitgenossen nicht unumstritten war, fungierte seine Rede doch als eine Art Initialzündung im liberalen Lager und hatte großen Einfluss auf Politiker wie Friedrich Naumann und Hans Delbrück, die eine zunehmend positivere Haltung gegenüber einer deutschen Weltmachtpolitik vertraten. [13]

Kritik am Erwerb von Kolonien wurde aus ökonomischer und auch aus nationaler Sicht vor allem von sozialdemokratischer Seite geäußert, weshalb an dieser Stelle auf zentrale Äußerungen zweier Personen eingegangen werden soll, die die Sozialdemokratie entscheidend mitgeprägt haben.  

Wesentliche Wortführer dieser Kritik waren vor allem August Bebel und Rosa Luxemburg. August Bebel äußerte sich, noch als Abgeordneter der SAPD [14], 1889 im Reichstag zur Kolonialpolitik in Deutsch-Ostafrika folgendermaßen:

„Wer ist denn diese Ostafrikanische Gesellschaft? Ein kleiner Kreis von Großkapitalisten, Bankiers, Kaufleuten und Fabrikanten, d. h. ein kleiner Kreis von sehr reichen  Leuten, deren Interessen mit den Interessen des deutschen Volkes gar nichts zu tun haben, die bei ihrer Kolonialpolitik nichts als ihr eigenes persönliches Interesse im Auge haben, die [...] nur den Zweck hatten, auf Grund größerer Mittel gegenüber einer  schwächeren Bevölkerung sich auf alle mögliche Weise zu bereichern. Einer solchen Kolonialpolitik werden wir nie unsere Zustimmung geben.“ [15]

In diesem Ausschnitt seiner Rede ist seine ablehnende Haltung zum deutschen Engagement in Afrika deutlich erkennbar. Laut August Bebel nützt dieses Engagement nur einzelnen Kreisen des Großbürgertums und hat keinerlei Nutzen für das einfache Volk. In seiner Rede ist nichts zu lesen von einer gesamtnationalen Aufgabe oder der Erlangung politischer Reife durch Ausweitung des Ellenbogenraums des deutschen Volkes. August Bebel argumentiert vielmehr vom Standpunkt der Theorie des Klassenkampfes aus. Er vertritt damit eine komplett konträre Haltung zu Max Webers Position und dürfte in dessen Augen sicherlich als kleinkariert und ignorant gegolten haben, wie dieser solche Eigenschaften auch großen Teilen des Proletariats unterstellte. [16] Die Rede Bebels stützte somit die Vorurteile Webers, wenn es sie nicht sogar mitgeprägt hat. [17]

Rosa Luxemburg hingegen hat sich in einem vier Jahre nach Max Webers Antrittsrede veröffentlichten Artikel in der Leipziger Volkszeitung vor allem mit dem ökonomischen Argument der Befürworter der Kolonialpolitik in prägnanter Weise auseinandergesetzt. Sie schrieb in ihrem Artikel: 

„Die neuen Flotten- und Kolonialpläne werden bekanntlich vor allem mit den Interessen unseres Handels begründet. Demgegenüber muss man immer und immer wieder mit Mr. Bounderby aus Dickens ‚Harten Zeiten’ rufen: Tatsachen und Zahlen! Zahlen und Tatsachen! Die neuesten statistischen Daten über Deutschlands auswärtigen Handel, veröffentlicht in der offiziellen ‚Statistik des Deutschen Reichs’, werfen wieder ein sehr interessantes Schlaglicht auf die Frage. […] Mehr als neun Zehntel unseres gesamten Außenhandels entfallen also auf die europäischen Länder und Amerika, mit denen wir weder mittels Torpedobooten die Handelspolitik angeknüpft haben noch sie auf diesem Wege erweitern oder befestigen können. Die Ausdehnung unseres Warenverkehrs mit diesen Ländern stand vielmehr immer in direktem Zusammenhang mit unserer Handelspolitik. […] Noch interessanter ist es aber, zu erfahren, dass auch in dem Erdteil, wo wir bereits Kolonien haben, diese ‚Schutzgebiete’ für unseren Handel nur im geringsten Maße in Betracht kommen. […] Gegenüber dem Handel mit Ägypten, Kapland und den englischen, französischen und portugiesischen Gebieten in Afrika spielen demnach unsere eigenen Kolonien eine winzig kleine Rolle. Was aus den obigen Tatsachen und Zahlen mit aller wünschenswerten Deutlichkeit hervorgeht ist, dass unserem auswärtigen Handel unsere ganze Schlachtflotte ruhig gestohlen werden  kann. Will man in Weltpolitik machen, dann berufe man sich wenigstens nicht heuchlerisch auf ‚Handelsinteressen’. [18]

Rosa Luxemburgs Argumentation gegen den ökonomischen Nutzen von Kolonien beruht auf offiziellem empirischen Material. Demnach wurden über 90 Prozent des deutschen Handelsvolumens des Jahres 1898 mit europäischen und amerikanischen Ländern abgewickelt, die man gewiss nicht als Kolonien gewinnen wollte, sondern vielmehr meistens als mehr oder weniger annähernd gleichrangige Nationen behandelte. Demgegenüber wurden nicht einmal zehn Prozent des deutschen Handels mit Asien, Afrika und Australien abgewickelt und in Afrika selbst, dem Ziel kolonialer Träume, waren Ägypten und Südafrika sowie selbst die Kolonien des französischen Erbfeindes wesentlich wichtigere Handelspartner des deutschen Kaiserreiches als die eigenen Kolonien.

Dieses Verhältnis hatte sich auch 1913, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, nicht wesentlich geändert. [19] Max Webers Behauptung, eigene Kolonien würden dem deutschen Handel in signifikanter Weise nutzen, hat sich somit als falsch herausgestellt, da sie sich nicht empirisch belegen, sondern vielmehr anhand des vorhandenen Materials widerlegen lässt. Diese Erkenntnis, dass Kolonien aus ökonomischer Sicht in der Regel mehr kosten als einbringen und indirekte Formen der Herrschaft wesentlich effektiver sind als direktere Formen der Herrschaft, war für den aufmerksamen Beobachter jedoch auch schon im Jahre 1895 ersichtlich und gerade auch von Liberalen häufig vertreten worden. [20]

Um Max Webers Kenntnisse der Volkswirtschaftslehre steht es ohnehin nicht sonderlich gut. Dies verdeutlicht nicht nur seine Ansicht zum Imperialismus, sondern auch seine Beschreibung des Prozesses der ökonomischen Verdrängung der Deutschen in Westpreußen, die die Basis seiner gesamten Argumentation bildet. Dem Nationalökonomen entgehen hierbei zwei grundsätzliche Theoreme der Volkswirtschaftslehre: Erstens Smiths Theorie des absoluten Kostenvorteils und hierauf aufbauend Ricardos Theorie der komparativen Kostenvorteile. Beide Theorien, die eng verwandt sind mit dem Begriff der Opportunitätskosten, sind sowohl auf Staaten als auch auf Gruppen sowie Individuen anwendbar. Demnach werden die Deutschen aus den ländlichen Gebieten Westpreußens nicht verdrängt, sie verbessern vielmehr ihre ökonomische Stellung. Während sie auf den Gutshöfen noch in halbfeudalen Verhältnissen zu geringem Lohn und aufgrund der Agrarkrise unter zunehmend stärker werdendem Druck arbeiten, haben sie in den Städten wesentlich bessere Aufstiegs-, Verdienst- und Bildungsmöglichkeiten, die den polnischen Bewohnern der Provinz allein aufgrund ihrer mangelnden Deutschkenntnisse schon nicht gegeben sind. Die Landwirtschaft im Kaiserreich hatte keine Zukunft mehr und konnte nur noch durch eine radikal protektionistische Schutzzollpolitik mit Not am Leben gehalten werden, da Getreide und andere agrarische Produkte in Ländern wie dem russischen Zarenreich oder Kanada wesentlich günstiger produziert werden konnten. Deutschland hatte hierfür hingegen einen Kostenvorteil bei Industrieerzeugnissen. Während die Löhne im Deutschen Reich in der Landwirtschaft real stagnierten oder sogar sanken, stiegen sie in der Industrie spätestens seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, was entscheidend zur Überwindung des Pauperismus beitrug und in erster Linie den Wegzug der Gutstagelöhner aus Westpreußen erklärt. 

Darüber hinaus ist Max Webers Behauptung, es handele sich bei der Volkswirtschaftslehre um eine altruistische Wissenschaft, da der Nutzen der wirtschaftlichen Aktivität in erster Linie den Nachkommen der jeweiligen Generation zugute komme, falsch. Die Volkswirtschaftslehre beschäftigt sich in erster Linie mit der Nutzenmaximierung einzelner aufgrund der jeweiligen meist materiellen Bedürfnisse der Wirtschaftssubjekte ohne Berücksichtigung der Interessen anderer Bevölkerungsgruppen oder gar Generationen. Erst  das Zusammenspiel dieser rein egoistischen ökonomischen Einzelinteressen formt das Wirtschaftsgeschehen. Mit den Betrachtungen der Einzelinteressen beschäftigt sich vor allem der Bereich der Mikroökonomie in der Volkswirtschaftslehre, der in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts seinen wissenschaftlichen Siegeszug antrat und zum Zeitpunkt von Max Webers Antrittsrede bereits vollständig in den Wirtschaftswissenschaften etabliert war.

Ein Eingehen auf Max Webers übersteigerten Nationalismus und Rassismus soll hier bewusst vermieden werden, auffällig ist jedoch, dass Weber in seiner Antrittsrede durch die Vermischung von Politik und Wissenschaft eine Form der Kathederprophetie betreibt, die er später in seiner Rede zum Thema Wissenschaft als Beruf scharf kritisieren sollte. [21]

„Nicht für die Art der volkswirtschaftlichen Organisation, die wir ihnen überliefern, werden unsere Nachfahren uns vor der Geschichte verantwortlich machen, sondern für das Maß des Ellenbogenraums, den wir ihnen in der Welt erringen und hinterlassen.“ [22]

Die Freiburger Antrittsrede Max Webers ist geprägt von unersättlichem Nationalismus sowie Rassismus und genügt nicht den wissenschaftlichen Standards der Volkswirtschaftslehre seiner Zeit. Das Urteil der „Nachfahren vor der Geschichte“ über Webers Antrittsrede muss daher insgesamt negativ ausfallen.

Literaturverzeichnis 

a) Textausgaben 

Weber, Max, Schriften 1894—1922, ausgewählt, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dirk Kaesler, Stuttgart (Kröner) 2002.

b) Sekundärliteratur 

Bergstraesser, Arnold, Max Webers Antrittsvorlesung in zeitgeschichtlicher Perspektive, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, vierter Jahrgang, 1957, S. 209—219.

Kaesler, Dirk, Die frühe deutsche Soziologie und ihre Entstehungs-Milieus, Düsseldorf (Westdeutscher) 1984.

Kaesler, Dirk, Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Frankfurt (Campus) 1995.

Luxemburg, Rosa, Gesammelte Werke, Berlin (Dietz) 1970.

Mommsen, Wolfgang J., Max Weber und die deutsche Politik 1890—1920, Tübingen (Mohr Siebeck) 32004 (11959).

c) Internetpublikationen 

Deutsches Historisches Institut Washington, German History in Documents and Images, auf: http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/pdf/deu/624_ August%20BebelKolonialpo-litik_204.pdf (Stand: 8.11.2009).

Anmerkungen

  • [1]

    Weber, Max, Schriften 1894—1922, ausgewählt, mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dirk Kaesler, Stuttgart (Kröner) 2002, S. 22-24.

  • [2]

    Ebd., S. 26f.

  • [3]

    Ebd., S. 28.

  • [4]

    In der Übersetzung: „Lasst, die ihr [in die Zukunft] eintretet, fahren alle Hoffnung“.

  • [5]

    Weber, Max, Schriften 1894—1922, ausgewählt, mit Einleitung und Anmerkungen  versehen von Dirk Kaesler, Stuttgart (Kröner) 2002, S. 30-33.

  • [6]

    Ebd., S. 33.

  • [7]

    Ebd., S. 29.

  • [8]

    Ebd., S. 37-39.

  • [9]

    Ebd., S. 40-42.

  • [10]

    Ebd., S. 42.

  • [11]

    Ebd., S. 43-45.

  • [12]

    Siehe Mommsen, Wolfgang J., Max Weber und die deutsche Politik 1890—1920, Tübingen 32004 (11959), S. 39.

  • [13]

    Ebd., S. 75f.

  • [14]

    Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) änderte erst 1890 nach Außerkrafttreten der Sozialistengesetze ihren Namen in die noch heute gültige Bezeichnung  Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) um.

  • [15]

    August Bebel, Rede im Reichstag vom 26.1.1889, zitiert nach: Deutsches Historisches  Institut Washington, German History in Documents and Images, auf:  http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/pdf/deu/624_August%20Bebel_Kolonialpolitik_204.pdf (30.10.2010).

  • [16]

    Weber, Schriften, S. 42f.

  • [17]

    August Bebel war 1892, drei Jahre vor Max Webers Antrittsrede in Freiburg, zu einem der beiden Vorsitzenden der SPD gewählt worden.

  • [18]

    Luxemburg, Rosa, Brauchen wir Kolonien?, Leipziger Volkszeitung vom 4.12.1899, zitiert nach: Luxemburg, Rosa, Gesammelte Werke, Berlin 1970, Bd. 1, S. 642f.

  • [19]

    Die Mutterländer importierten aus ihren Kolonien in aller Regel nur Rohstoffe und versuchten hierfür im Gegenzug ihre industriellen Erzeugnisse in den Kolonien abzusetzen. Da in den Kolonien jedoch nur die weiße Oberschicht diese Produkte privat konsumieren konnte aufgrund der sehr geringen Kaufkraft in der Bevölkerung der Kolonien, blieb dieser Absatzmarkt sehr begrenzt.

  • [20]

    Diese Debatte hatte ihren Ursprung in England, das erst unter dem konservativen Premier Benjamin Disraeli ab 1874 eine imperialistische Politik verfolgte, die nicht mehr auf indirekte, sondern verstärkt auf direkte Herrschaft setzte. Dieser Kurs blieb in der englischen Politik umstritten, auch wenn sein liberaler Nachfolger sie aus politischen Gründen verständlicherweise nicht rückgängig machte.

  • [21]

    Vgl. Weber, Schriften, S. 497ff.

  • [22]

    Ebd., S. 33.

Empfohlene Zitierweise

Trecker, Max: Imperialismus als Schicksal der Moderne? Eine kritische Auseinandersetzung mit Max Webers Aufsatz „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“. aventinus nova Nr. 27 [30.10.2010], in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/8001/

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Erstellt: 29.10.2010

Zuletzt geändert: 15.11.2010

ISSN 2194-1963