Nachkriegszeit und Kalter Krieg (1945-1989)

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aventinus nova Nr. 1 (Winter 2005) 

Ginster, Regina 

Das so genannte Wirtschaftswunder der 1950er – Westdeutschland springt auf den Zug der Moderne 

 

„Was da in blitzartiger Geschwindigkeit mit den Nahrungsmitteln geschah, schien mir brutal und ungeheuerlich. Feste Nusskerne, derbe Apfelstücke, harte Zitronenschalen wurden im Bruchteil einer Minute zu einer unkenntlichen Masse zermalmt. Kraut und Rüben, Zwiebeln und Kartoffeln, Speck und Fisch waren nach ein paar Atemzügen nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Es lehnte sich irgendetwas auf in mir gegen diese Gleichschaltung der Lebensmittel. (...) Ich enttäuschte meinen Mann mit meiner zurückhaltenden Einstellung zu seinem Geschenk; der hatte von mir, die ich alle zeit- und kraftsparenden Neuerungen auf dem Gebiet des Haushaltes freudig begrüße, sofortige Zustimmung erwartet. Nun, er brauchte nicht lange darauf zu warten: nach den ersten Kostproben verwandelte sich die anfängliche feindselige Haltung in ehrliche Bewunderung.“ [1]

Wundersames geschah dank der neuen elektrischen Mixgeräte in westdeutschen Küchen und Wundersamen sah man sich ausgesetzt: Küchengeräte und Staubsauger, Südfrüchte und andere importierte Nahrungsmittel, Fernsehen und Radio, Waschmaschinen und Kühlschränke, chemische Waschmittel, Selbstbedienungsläden, Tiefkühlkost, Bohnenkaffee, Motorroller und PKW, modische Kleidung und Werbung, Urlaub, Freizeitleben, Kino, Wohnungsausstattung (Nierentisch und Co),... Die Liste der Neuerungen, die seit 1950 in den Konsumgütermarkt eingeführt wurden, lässt sich beliebig fortsetzen (und ist wohl gleichzeitig eine Blaupause für alles, was heute wie selbstverständlich in jeden Haushalt integriert sein muss). Aber von Selbstverständlichkeit wagte fünf Jahre nach Kriegsende noch niemand zu sprechen, genauso wenig hatte man überhaupt Worte für diese Erlebnisse. Deshalb verwundert es auch nicht weiter, dass der schön-deutsche Begriff "Wirtschaftswunder" nicht aus Deutschland stammt! Wir verdanken ihn einem Redakteur der "Times" in London, der ihn 1950 als Reaktion auf die beginnende und erhoffte finanzpolitische Stabilisierung Westdeutschlands prägte. Das "Wirtschaftswunder" ist also gewissermaßen importiert... 

Was in der Bundesrepublik im Laufe der 50er und 60er vor sich ging, war noch wenige Jahre zuvor unvorhersehbar und noch weniger erwartet. Denn der Alltag der Menschen war seit Beginn des Krieges vollständig eingeschränkt und kontrolliert, daran änderten auch die Besatzungsmächte vorerst nichts. Lebensmittel oder Kleidung gab es weiterhin nur durch das Einlösen von Marken. Die Schaufenster in den Straßen blieben weitgehend leer und dennoch ausgestellte Waren blieben wegen der andauernden Inflation unerschwinglich, dabei gab es weder überladene Wursttheken, noch mehrere hundert Sorten Brot wie das heute der Fall ist. Die Zuteilung von minimalen Rationen sorgte dafür, dass alle das gleiche Nichts besaßen. Mit dem Wirtschaftswunder wurde in der Bevölkerung ein Traum generiert, der nicht zunächst von Masse und Überfluss handelte, sondern von der Befriedigung existentieller Bedürfnisse: Die Hoffnung, sein Leben wieder selbst gestalten zu können war kühn, denn persönliche Freiheit und Unabhängigkeit waren auch in der Nachkriegszeit vielen fremd.

Was das öffentliche Leben betraf sah es nicht anders aus: Noch Ende der 40er waren die Rohstoffe zu knapp, die Produktionskapazitäten zu gering und die Einsatzmöglichkeiten von Arbeitskräften zu unausgewogen. Während die Landwirtschaft durch den stetigen Flüchtlingsstrom einen Überschuss an Arbeitern meldete, suchte man in den Städten händeringend qualifizierte Mitarbeiter für Behörden und Industrie. Zusätzlich erstickte die Inflation, die auf Grund der Zwangswirtschaft und des Schwarzmarktes nicht zu bewältigen war, auch den letzten Wachstumskeim. 

An die Visionen der sozialen Marktwirtschaft, die 1948 parallel zur Währungsreform eingeführt wurde und damit einen wirtschaftsorientierten Kurs in der Politik bestimmte, glaubte noch lange nicht jeder. Hinter dieser Entscheidung stand eine grundlegende Debatte deren Kontrahenten sich um die Pole Marktwirtschaft gegenüber Planwirtschaft stritten. Dennoch konnten die Vertreter der Marktwirtschaft, deren bekanntester Ludwig Ehrhard war und welcher damals noch in seiner Funktion als Vorsitzender des alliierten Wirtschaftsrates tätig war, gegen den Widerstand des linken Parteienflügels und der Gewerkschaften, ihr Konzept durchsetzen. Die Rückgewinnung ökonomischer Handlungsfreiheit galt dann als wichtigste Voraussetzung für den Aufbruch in den Wohlstand. 

Auch außenpolitisch war mit der Wirtschaftsreform ein erster großer Schritt zurück in die europäische Staatengemeinschaft getan. Da die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin der Weimarer Republik neben den Kriegsschulden auch Vorkriegsschulden zu begleichen hatte, war ein funktionierender Wirtschaftskreislauf wichtig, um als Handelspartner wieder Vertrauen zu finden. 

Bereits im Juni 1950 bangte man um die neu gewonnene Hoffnung: Der Ausbruch des Koreakrieges ließ Rohstoffpreise in die Höhe schnellen und bescherte Deutschland erneut Preissteigerungen und Devisenmangel. Die Lage war prekär genug, dass Amerika die Fortführung der Dollarhilfe kurzfristig an das Gebot von rüstungsrelevanten Investitionen band. Erst seit dem "Investitionshilfegesetz" von 1952 konnte die Korea-Krise in den Korea-Boom verwandelt werden: Mit Hilfe einer einmaligen Zwangsanleihe von 1 Milliarde DM für die Konsumgüterindustrie und der Möglichkeit von Sonderabschreibungen für wirtschaftliche Problembereiche stabilisierte sich die Industrieentwicklung. 

Nachdem die Staatskasse wieder über eigenes Geld verfügte, ging Bundeskanzler Adenauer noch im gleichen Jahr die Verhandlungen zur Wiedergutmachung zwischen Deutschland, Israel und den Abordnungen der "Jewish Claims Conference" an. In dieser "Conference of Jewish Material Claims against Germany" (kurz: "Claims Conference") wurde damals über die Summe von mehreren Milliarden DM verhandelt. Auf deutscher Seite versuchte man diese neuen, wenn auch notwendigen Zahlungsverpflichtungen möglichst gering zu halten und konnte sie schließlich auf 3,5 Milliarden DM, die zudem vor allem in Warenlieferung an Israel gingen, festschreiben. De facto sind die Verhandlungen der "Claims Conference" noch nicht abgeschlossen: Abordnungen der "Claims Conference" befinden sich mit Vertretern der Länder Deutschland und Österreich sowie mit Repräsentanten von Industrie und Banken bis heute in Gesprächen. Seit 1952 wurden so mehr als 50 Milliarden US Dollar als Kriegsentschädigung für Leid und Verlust, welches durch die nationalsozialistische Herrschaft entstand, transferiert. 

Eine weitere Entwicklung, die zur Konsolidierung der Finanzen beitrug, war das "Londoner Schuldenabkommen" (1953). Konrad Adenauer und sein Berater Hermann Josef Abs betrachteten die Kreditwürdigkeit Deutschlands als unabdingbare Voraussetzung für den deutschen Wirtschaftsaufschwung. Dieses Schuldenabkommen sah vor, den Abbau sämtlicher Auslandsschulden, der hauptsächlich durch Wirtschaftshilfe entstanden war, vertraglich zu garantieren. Zu diesem Betrag wurden auch besagte Vorkriegsschulden und der Anteil, der nach geltendem Recht der DDR zugefallen wäre, gerechnet. Ein zweiseitiges Abkommen zwischen Schuldner und Gläubiger besiegelte eine jährliche Rate von 7,5 Milliarden DM. Durch die rapide steigende Wirtschaftsleistung konnte man bald vorzeitige Tilgungsraten leisten.

Im folgenden Jahrzehnt wurde die Wirtschaftsleistung vor allem von der steigenden Investitionsquote getragen, denn man konnte einen immer größer werdenden Teil des BSP für Modernisierung der Wirtschaft und Infrastruktur verwenden. Dazu kamen die Spareinlagen privater Verbraucher, die sich bis Mitte der 50er versechsfachten, d.h.: Steigerung der Investitionsquote durch Konsumverzicht! Die symbolischen Zahlen ließen nicht lange auf sich warten: Zwischen 1950 und 1955 konnte die Arbeitslosenquote halbiert werden, 1961 betrug die Arbeitslosenquote zum ersten Mal weniger als ein Prozent, womit die Vollbeschäftigung erreicht war. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg dabei seit 1950 um ein Viertel auf 26,3 Millionen an. Noch 1950 lag der Nettoverdienst eines Arbeiters bei etwa 280 DM, 1960 schon bei 680 DM, gleichzeitig sank die Wochenarbeitszeit und die Urlaubsdauer wurde verlängert. 

Ein Werbeplakat des Unternehmens Volkswagen von 1955, welches den Verkauf des millionsten Volkswagens pries, sprach aus, was keiner für möglich hielt: "In aller Welt zieht man den Hut". Doch während sich immer mehr Bundesbürger den Konsumwellen hingaben, sich Urlaub, Radios und PKWs, teure Nahrungsmittel und amerikanische Rock'n'Roll-Kultur leisten konnten, tönten die ersten leisen Warnrufe aus dem Hintergrund. Ehrhard selbst mahnte zum "Maßhalten" und Adenauer trat zur Bundestagswahl 1957 für die Bewahrung des Erreichten ein: "Keine Experimente". 

Und tatsächlich gibt es über das so genannte Wirtschaftswunder noch ganz andere Zahlen zu vermelden: 75 Prozent des Privatvermögens besaßen nur 17 Prozent der Bevölkerung. 1955 lebten über eine Million Haushalte von weniger als 130 DM im Monat, das bedeutet unterhalb der Armutsgrenze. Dementsprechend betrugen die Sozialausgaben Mitte der 50er mehr als 40 Prozent des Gesamthaushalts und beanspruchten damit den größten Einzelposten. In den Familien stand Arbeit weiterhin an erster Stelle - vor Aus- und Weiterbildung. Eine universitäre Ausbildung der Kinder konnte sich auch in den 50ern nur ein kleiner Teil der Familien leisten. Durch die große Zahl von verwitweten jungen Frauen, die ihre Männer im Krieg verloren hatten, wurde die Problematik allein erziehender Mütter immer schwerwiegender. Diese Tatsachen stärkten den Anspruch der Gewerkschaften, so dass z.B. 1954 das Kindergeld und 1957 die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gesetzlich vorgeschrieben wurden. 

Auch die eingangs erwähnten technischen Errungenschaften im Alltag wurden unterschiedlich bewertet. Ein Ausschnitt aus einem Erlebnisbericht über die neuen Selbstbedienungsläden, der in einer schweizerischen Frauenzeitschrift abgedruckt ist, zeigt, wie langsam sich die Möglichkeiten des privaten Lebens an die der Industrie anpassten und auch, wie diese von den Menschen wahrgenommen wurden. Die Preisschilder an den Supermarktregalen werden nicht etwa als Information geschätzt, sondern vor allem da

„[e]s auch für die weniger bemittelte Hausfrau sehr angenehm [ist], daß sie nicht in die Lage kommt, auf den Kauf einer Ware verzichten zu müssen, nachdem sie den Preis durch den Verkäufer erfahren hat.“ [2]

Allein die Tatsache, dass dies als Vorteil neben z.B. Effizienz und Produktvielfalt genannt wurde, lässt erahnen, dass ein großer Teil der Gesellschaft weiterhin hart zu kämpfen hatte. Das süße Leben blieb vielen weiterhin verborgen, auch wenn ein immer größerer Teil darum bemüht war die strukturellen Veränderungen zu nutzen und voran zu treiben, um den eigenen Lebensstandard zu verbessern. Diese Haltung unterstützte womöglich auch die Herausbildung typischer 50er - Jahre Klischees, wie Spießertum oder Beamteneifer. Vielen ging es in erster Linie um die Sicherung und den Ausbau des unverzichtbaren Altbewährten. Denn, obwohl die Übergänge gesellschaftlicher Schichten durchlässiger wurden, waren die 50er Jahre, bei aller Modernität, vor allem konservativ. An dieser Stelle muss auch erwähnt werden, dass die rein wirtschaftshistorische Retrospektive auf die ersten zwei Jahrzehnte der Bonner Republik der Wahrnehmung und erlebten Wirklichkeit vieler Zeitgenossen nicht gerecht wird. Ein ganz anderes Bild entwirft z.B. die Literatur- oder Kunstgeschichte. Hier wird der hohe Grad an Beschäftigung mit der Vergangenheit, der in Kontrast zu Fortschrittseuphemismus oder Zukunftsoptimismus steht, deutlich. 

Letzten Endes muss also einiges am "so genannten Wirtschaftswunder" relativierend ergänzt werden. Mit einer politischen Aufbauphase von den späten 40ern bis in die Mitte der 50er hinein und einer Wirkungsphase bis in die Mitte der 60er Jahre, umfasst das Wirtschaftswunder zwei sehr unterschiedliche Jahrzehnte. Deshalb sind dem Wirtschaftswunder mehrheitlich Eigenschaften eines andauernden Modernisierungsprozesses zu Eigen. Demgemäß verwendeten die Bundesbürger erst 1957 erstmals mehr Ausgaben für den elastischen Bedarf, zu welchem unter anderem Genussmittel, Bildung und Unterhaltung, Körper- und Gesundheitspflege oder Kleidung gehören. Ebenso beschränkte sich der viel zitierte technische Fortschritt auf Rationalisierungs- und Standardisierungsverfahren für die Konsumgüterindustrie, hier sei z.B. an Gabelstapler und Fließbandarbeit gedacht - Technik und Fortschritt galten noch nicht als eigenständige Bereiche der Wirtschaftspolitik. 

Abschließend sollen deshalb die unterschiedlichen Blickrichtungen bemerkt werden, mit welchen man die Modernisierung Westdeutschlands bis Mitte der 60er Jahre bewerten kann: Auf der einen Seite steht die finanzpolitische Stabilisierungsphase, die einen Export- und Investitionsboom ermöglichte, auf der anderen Seite steht die privatwirtschaftliche Konsolidierung und der Verbrauchsgüter- oder Massenkonsum. 

Literatur 

Adolf M. Birke: Nation ohne Haus - Deutschland 1945 - 1961, Berlin - 1989, S. 383 - 406. 

Arnold Sywottek: Zwei Wege in die "Konsumgesellschaft", in : Axel Schildt u. Arnold Sywottek (Hgg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn - 1993, S. 269 - 274. 

Jakob Tanner: Grassroots-History und Fast Food, in: Geschichtswerkstatt, Heft 12, 1987, S. 49-54. 

Joachim Radkau: "Wirtschaftswunder" ohne technische Innovation? Technische Modernität in den 50er Jahren, in : Axel Schildt u. Arnold Sywottek (Hgg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn - 1993, S. 129 - 154.

Ludger Lindlar: Das mißverstandene Wirtschaftswunder, Tübingen - 1997. 

Merith Niehuss und Lindner, Ulrike (Hgg.): Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Band 10 - Besatzungszeit, Bundesrepublik und DDR 1945 -1969, Stuttgart - 1998. 

Michael Wildt: Privater Konsum in Westdeutschland in den 50er Jahren, in : Axel Schildt u. Arnold Sywottek (Hgg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn - 1993, S. 275 - 289. 

Peter Graf Kielmansegg: Nach der Katastrophe. Die Deutschen und ihre Nation, Berlin - 2000. 

Rainer Metz: Expansion und Kontraktion - Das Wachstum der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, in: Spree, Reinhard (Hg.): Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, München - 2001, S. 70 - 89. 

Wolfgang Benz (Hg.): Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Band 2: Wirtschaft, Frankfurt a.M. - 1989. 

Weiterführende Links 

http://www.dhm.de/lemo/home.html (Lebendiges Museum online – Das 20. Jahrhundert in Deutschland)

www.claimscon.org (Internetauftritt der "Claims Conference") 

Anmerkungen

  • [1]

     Jakob Tanner, Grassroots-History und Fast Food, in: Geschichtswerkstatt, Heft 12, 1987, S. 49-54, hier S. 52.

  • [2]

     Jakob Tanner, Grassroots-History und Fast Food, in: Geschichtswerkstatt, Heft 12, 1987, S. 49-54, hier S. 51.

Empfohlene Zitierweise

Ginster, Regina: Das so genannte Wirtschaftswunder der 1950er - Westdeutschland springt auf den Zug der Moderne. aventinus nova Nr. 1 (Winter 2005), in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7771/

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Erstellt: 27.05.2010

Zuletzt geändert: 29.05.2010

ISSN 2194-1963