Nachkriegszeit und Kalter Krieg (1945-1989)

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aventinus nova Nr. 26 [17.09.2010] / Docupedia v. 19.07.2010 

Alexander Klaehr 

Der Umbruch von 1989 im sozialistischen Lager – eine Revolution ohne Einschränkung


Zum 20-jährigen Jubiläum des Mauerfalls und der Ereignisse in den staatssozialistischen Ländern wurde erneut die Frage gestellt, worum es sich bei diesen Veränderungen handelte. Waren es Revolutionen, fand in den von Moskau dominierten Staaten des Warschauer Paktes eine Wende oder nur ein Wechsel der Eliten statt? Der Historiker Philipp Ther diskutiert in seinem Aufsatz „1989 – eine verhandelte Revolution“ [1] länderübergreifend Ursachen und Wirkungen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzuweisen, die die Heterogenität der Umbruchsituation im sozialistischen Lager verdeutlichen und vereinfachender Generalisierungen einen Riegel vorschieben.

Die begriffliche Einordnung des Phänomens 1989 als zeithistorische Herausforderung

Am Beispiel von 1989 verhandelt Thers Aufsatz Probleme, die gerade für die Zeitgeschichte typisch sind: Sie läuft Gefahr zur Geschichtspolitik zu mutieren und sich der politischen Vereinnahmung von Geschichte anzudienen, da die Deutungsversuche der Historiker/innen und die politische Bewältigung der Ereignisse hier zusammenfallen. [2] Um dem entgegenzutreten, braucht es eine multiperspektivische, eine antimythische Geschichtsschreibung.

Obwohl in der Fachwissenschaft heute weitgehend Konsens herrscht, den Revolutionsbegriff zur Einordnung von 1989 zu verwenden, ist es trotzdem weiterhin nötig, dafür auch immer wieder Begründungen vorzulegen. Gründe dafür sind, dass der Revolutionsbegriff bei der auf historische Identifikationsobjekte fixierten Politik und in der Alltagserinnerung der Menschen bisweilen auch verzerrende Erzählungen zur Umbruchzeit hervorbringt, durch eigene in jener Zeit gemachte Erfahrungen und die dadurch beeinflusste rückschauende Bewertung der Ereignisse von damals. Ein ehemals überzeugter SED-Funktionär oder Stasi-Mitarbeiter wird den Umbruch anders bewerten als ein in Bautzen oder Berlin-Hohenschönhausen Inhaftierter. Aber auch Menschen, die damals für ihre Grundrechte eintraten und nach der Transformation Chancen und Risiken des neuen Systems in unterschiedlicher Intensität erfuhren und dessen Unwägbarkeiten der sozialpolitischen und wirtschaftlichen Verhältnisse kennenlernten, werden den Umbruch im Nachhinein in die eine oder andere Richtung positiver oder negativer bewerten. Die gegenwärtige Lage der Menschen und ihre damaligen Stellungen in einer der staatssozalistischen Gesellschaften Osteuropas beeinflussen daher von ihrem jetzigen gesellschaftspolitischen Standpunkt aus ihre Bewertung der Vergangenheit, so dass die einen eher dazu neigen, „1989“ als Revolution, die anderen eher als Wende oder Wechsel zu bezeichnen. Eine präzise Terminologie ist daher umso wichtiger, als sich „in der Verarbeitung des Umbruchs von 1989 fachliche Historisierung und öffentliche Politisierung in einer einzigartigen Weise verschränk[t]en“. [3]

Daher stütz dieser Artikel Thers Zugang und begründet, weshalb Revolution der angemessene Begriff zur Beschreibung der Ereignisse von 1989 ist. Ther argumentiert vor allem mit den dramatischen Folgen dieser Zäsur, zu denen besonders der ökonomische Transformationsprozess (Arbeitslosigkeit, Inflation, Produktionsrückgang) und der Herrschaftswandel in den ehemals staatssozialistischen Ländern zählen. [4] Doch leider erliegt auch Ther bei der Einordnung dieser Ereignisse der Versuchung, diesem Begriff noch das einschränkende Attribut verhandelte an die Seite zu stellen, was letztlich den revolutionären Charakter der Ereignisse infrage stellt, da eine Revolution in erster Linie zunächst einmal von zutiefst unzufriedenen, auf bestimmte Weise unterdrückten Menschen getragen wird, die sich gegen ein staatliches System wenden, um Veränderungen herbeizuführen. Könnten sie diese umfassenden Veränderungen von vornherein durch einen Dialog mit der Regierung herbeiführen, also verhandeln, wäre eine Revolution ja vollkommen unnötig. Kurzum: In den Diktaturen des Warschauer Paktes mussten die Machthaber gezwungen werden, etwas zu verändern, und das ging nur durch massiven Protest von der Straße, der dann erst – in einer nächsten Phase der Revolution – den Weg zu Verhandlungen zwischen einem Regime und seinen Gegnern frei machte.

Ein zweiter Kritikpunkt betrifft das von Ther vorgetragene Argument, es sei die eingeübte Praxis der sozialistischen Massenmobilisierung gewesen, die zu einem dermaßen rasanten Anstieg der Protestteilnehmenden geführt habe. [5] Diese These greift zu kurz, da sie die fundamentalen Ursachen für den Sturz der staatssozialistischen Regime übersieht, die vor allem im aufgestauten Unmut der Menschen zu suchen sind. Unmut aufgrund jahrzehntelanger Entbehrungen unterschiedlichster Art: materielle Not, staatliche Repression und die Unmöglichkeit, sich im real existierenden Sozialismus individuell so verwirklichen zu können, wie man es sich vorstellte, wenn man gerade nicht den Takt der herrschenden Partei verinnerlicht hatte. Diese Unzufriedenheit und Missstimmung und die Enttäuschungen über die nicht eingehaltenen Versprechungen einer besseren sozialistischen Welt samt der Reformunwilligkeit der Regime in einer erstarrten Gesellschaftsordnung führten dazu, dass sich die Menschen couragiert gegen ihre Obrigkeit wandten.   

Verschiedene Erfahrungen produzieren verschiedene Begriffe 

Länderspezifisch verschiedene Erfahrungen haben verschiedene Begrifflichkeiten hervorgebracht. Für Polen und Ungarn stellt das Jahr 1989 keine tiefgreifende Zäsur und daher eher einen Wechsel dar. Im Gegensatz dazu scheinen die Massenmobilisierung, der rasche innere Zerfall der Staatsparteien samt der Ohnmacht ihrer Machtapparate in der DDR und der ČSSR zum Begriff Revolution eher zu passen. Dennoch wird auch in Deutschland gerne die Wende zur terminologischen Einordnung der Ereignisse herangezogen.

Für viele osteuropäische Länder wird 1989 als Ende einer Kette von Befreiungsversuchen gedeutet, die – wie Polen, aber auch die Tschechoslowakei und Ungarn – erst unter den Nationalsozialisten und dann unter den Stalinisten gelitten hätten. [6] Außerdem überlagerten (außer in der DDR) in allen postkommunistischen Gesellschaften Kontinuitäten und Diskontinuitäten den inneren Umbruch, was dazu geführt hat, dass dieses zeitgeschichtliche Kapitel heute enormen geschichtspolitischen Kämpfen unterworfen ist, [7] was sich u.a. in der starken Präsenz der postkommunistischen Parteien widerspiegelt, [8] deren Bekämpfung teils zu einer unversöhnlichen Lagerbildung und politischen Vereinnahmung der Vergangenheit geführt hat.      

Das sind dann auch zwei der Gründe – neben den nach 1989 ökonomisch enttäuschenden und auf das politische System rückschließenden Folgen –, warum damals Beteiligte wie Unbeteiligte diesen quasi hinter verschlossenen Türen am Runden Tisch herbeigeredeten Herrschaftswandel, dem Transfer der Macht von der einen Elite zur nächsten, [9] nicht als Revolution begreifen wollen, da das anfangs noch vorhandene revolutionäre Pathos (Massendemonstrationen, teilweise Auseinandersetzungen mit der Polizei, Verhaftungen usw.) später von den politischen Führungsfiguren am Verhandlungstisch quasi zerredet wurde und im politischen Kompromiss endete.  

Umstände, die zu einer Revolution führen können 

Mögliche Indikatoren, die den Ausschlag für den Kollaps eines Systems bzw. seiner Überwindung geben, können bei der Betrachtung der Frage, ob es sich um Revolution, Wende oder Wechsel handelte, helfen. Zum einen können hier der ökonomische Verfall, die Etablierung neuer sozialer Gruppen und deren Mobilisierung sowie die Abkehr der Intellektuellen vom System angeführt werden. Zum anderen führen systemimmanente Ineffizienz und Korruption, der Verlust der Glaubwürdigkeit der Regierung, der Verlust des Selbstbewusstseins der herrschenden Eliten samt ihrer inneren Spaltung sowie der unverhältnismäßige Einsatz von Gewalt zum Sturz eines politischen Systems durch eine Revolution. [10] Davon ausgehend bedarf eine Revolution eines vorrevolutionären Entwicklungsprozesses, der über Jahre hinweg durch einen im Untergrund befindlichen Widerstand reift und die Formulierung alternativer politischer Entwürfe hervorbringt, die durch die oben genannten Faktoren in ihrem Streben nach Veränderungen bestärkt werden, [11] um dann in einen von aktiven Elementen getragenen Kulminationspunkt zu münden, der von heute auf morgen eintreten kann. Entscheidend ist, dass der revolutionäre Prozess dann nicht nur in hohem Tempo die Verhältnisse in der Gesellschaft grundlegend verändert. Dieser Prozess strukturiert die Verhältnisse gemäß den realen oder unterstellten Bedürfnissen der Gesellschaft neu. Gewaltsamkeit muss dieser Prozess nicht notwendigerweise aufweisen, auch wenn sich Systemgegner und die Bewahrer der alten Herrschaftsordnung zunächst unversöhnlich gegenüberstehen. [12]        

Revolution am Beispiel DDR

Die Frage, ob man mit Blick auf die DDR nun von Revolution oder Wende spricht, hat nicht zuletzt mit der Entwicklung Ostdeutschlands nach dem 3. Oktober 1990 zu tun. Viele Menschen hatten hier, trotz anfänglicher Euphorie für die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten, negative Erfahrungen mit dem neuen politischen und wirtschaftlichen System gemacht; [13] eine Enttäuschung, die zu Verschiebungen in der Wahrnehmung der Vergangenheit im sozialistischen Staat geführt hat. So hat im Osten Deutschlands vielfach der Wende-Begriff im alltäglichen Sprachgebrauch Einzug gehalten, da dort vielfach eine Spaltung von öffentlicher Erinnerungskultur und kommunikativem Gedächtnis bezüglich der Erfahrungen von 1989 vorherrscht. [14] Des Weiteren kommt hinzu, dass manche von der Bundesrepublik Enttäuschte sowie die alten Führungseliten der DDR ein Geschichtsbild generiert haben, das eine vereinigungskritische Anschlußerinnerung [sic!] pflegt, die die DDR als Normalstaat und die Vereinigung als koloniale Unterwerfung mit Zustimmung der Kolonisierten in gezielter Analogie zum Anschluss [sic!] Österreichs an das Deutsche Reich 1938 [15] erscheinen lässt. Sieht man von einer im Alltag gängigen Konnotation des Revolutionsbegriffs mit dem Gebrauch physischer Gewalt ab, die jedoch nicht Bestandteil der oben gegebenen Definition war, kann man feststellen, dass sich 1989, der Rede zur Wende zum Trotz, in der Tat eine Revolution ereignete. Denn eine siegreiche Revolution [...] setzt mit der historischen Zäsur zugleich neue normative Maßstäbe des Handelns und Denkens, die sich aus den alten Verhältnissen nicht hätten ergeben können.“ [16] Thers Verwendung des Begriffs Ancien Régime für die reformresistenten, monolithischen Regime des Ostblocks macht dies sprachlich ebenfalls deutlich. Außerdem wird die entsprechende terminologische Charakterisierung der Veränderungen dadurch gestützt, dass in der DDR am Ende des revolutionären Prozesses die Wahlen vom 18. März 1990 standen, die die Revolution als politischen Umwälzungsprozess auch formal endgültig zu einem Ende brachten und die Ziele der Demonstranten/innen umsetzten. [17]

Mit Blick auf die gesellschaftspolitische Bedeutung dieser Veränderungen scheint der Begriff der Wende als systemstützende[r] Veränderung[en] [18] jedoch gänzlich ungeeignet zu sein. Die ideologisch gefärbte Rede von einer Wende suggeriert eine imaginäre Reformierung der DDR durch die alt-neue Staatsführung unter Egon Krenz – die aber nicht stattfand – und relativiert zugleich die Rolle der Demonstranten/innen, ja droht sogar, sie zu negieren. Sich mit dem Begriff der Wende an die Spitze der ungewollten Revolution zu stellen, um sie zu kontrollieren und den eigenen Machterhalt zu sichern, war daher die geschichtspolitische Intention dieser Sprachregelung. [19] Somit ist Wende letztlich eine moderate Änderung des politischen Kurses wie beispielsweise Glasnost und Perestroika in der UdSSR, also eine Reformierung, die nur von der Politik ausgehen kann. Revolution ist eine radikale Umwälzung, diktiert von der Straße, der die Regierung nichts entgegenzusetzen hat. Der Unterschied liegt also im Wesen der Veränderungen und wer diese trägt.

Aber auch die zur Beschreibung dieses epochalen Ereignisses häufig bemühten Begriffe  friedliche sowie demokratische Revolution sind nicht ganz frei von der Suggestion eines Trugbildes. Zum einen waren die Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften teilweise durchaus erheblich, [20] zum anderen hängt diesen Begriffen aber auch der Wunsch an, nun eine Tradition des friedlichen, zivilgesellschaftlichen Engagements für die Demokratie zu begründen, die in der an gescheiterten Revolutionen sowie autoritären und diktatorischen Gesellschaften reichen Geschichte Deutschlands wenig Vorbilder hat. In dieser Hinsicht hat eine kathartische Geschichtskultur, die auf Distanzierung [21] von der Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus setzt, auch den Umgang mit der Zäsur von 1989 beeinflusst.

Bei aller Sympathie für die mit diesem Wunsch verbundenen Wertorientierungen verbietet sich aber eine begriffliche Instrumentalisierung des Umbruchs von 1989 als einem künstlich konstruierten, nationalgeschichtlichen Heldennarrativ zur Legitimierung der heutigen gesamtdeutschen Bundesrepublik. Sie verstellt den analytischen Blick auf die Ereignisse des Herbstes 1989, die Ziele seiner oppositionellen Akteure und seine historische Entstehungsgeschichte. 

Sozialistische Massenmobilisierung als Indikator der Revolution? 

Wie konnte innerhalb so kurzer Zeit eine so große Zahl von Menschen revolutionär mobilisiert werden? Die Frage verweist auf die Gründe, die eine Revolution erst ermöglichen.  

Die sozialistische Praxis der Mobilisierung von Massen als Erklärungsmuster für den sprunghaften Anstieg von teilnehmenden Demonstranten/innen heranzuziehen, wie Phillip Ther es als mögliche Interpretation tut, [22] ist keineswegs zwingend. Allein die Gewohnheit, permanent an staatlich verordneten Massenkundgebungen teilzunehmen, kann kein hinreichender Grund für den Mobilisierungsgrad im Herbst 1989 gewesen sein. Im Gegenteil: Gerade die ständige Teilnahme an Massenaufmärschen hätte bei den Menschen eher zu Überdruss und damit dazu führen können, dass sie den Demonstrationen eher fernblieben. Der Prozess einer sehr kurzfristigen Entstehung und Etablierung zivilgesellschaftlicher Strukturen und ihrer Sogwirkung auf all diejenigen, die sich in die Protestzüge einreihten, muss deshalb mit der tiefsitzenden Unzufriedenheit, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit der Menschen des Ostblocks zu tun gehabt haben. Die Krise des Systems war dort überall unübersehbar: Zum ökonomischen Verfall kam eine fern der gesellschaftlichen Realität lebende und regierende Nomenklatura, die repressiv gegen Andersdenkende vorging. Diese stellten Forderungen, denen das Regime aufgrund seiner systembedingten Unfähigkeit nicht nachkommen konnte (wirtschaftlicher Wohlstand) und nicht nachkommen wollte (Menschenrechte, demokratische Mitbestimmung). Kurzum: Die Mobilisierung erschließt sich vor allem mit Blick auf den lange aufgestauten und sich schrittweise vermehrenden Unmut der Menschen über die Unfähigkeit ihrer Regierungen, die sie zudem bewusst unmündig hielten. Außerdem entsprach die in den abhängigen Medien verbreitete Propagierung von ständiger Planübererfüllung, des sozialen Friedens und des stillschweigenden Konsenses der Menschen mit dem Regierungskurs nicht der Wirklichkeit, in der die kleinste Abweichung von der Staats- und Parteilinie verfolgt wurde. [23]

Eine wesentliche Voraussetzung, dass sich dieser Unmut überhaupt wirkungsvoll Bahnen brechen und einen hohen Mobilisierungsgrad erreichen konnte, war die Aufgabe der Breschnew-Doktrin und die Erklärung Gorbatschows, sich generell nicht mehr in die innere Entwicklung der staatssozialistischen Länder einmischen zu wollen. Von dieser tiefgreifenden Veränderung der sowjetischen Außenpolitik gingen Signale an die Dissidenten/innen und die späteren Demonstranten/innen aus, keine Angst mehr vor einem Eingreifen wie 1953, 1956 oder 1968 bei inneren Reformbestrebungen der Opposition haben zu müssen, was zur Mobilisierung beitrug. Ein weiterer Effekt dieser sowjetischen Verzichtserklärung war, dass dadurch die Satelliten-Regime ohne Moskaus militärische Unterstützung in inneren Angelegenheiten geschwächt wurden, da sich ihre Macht schließlich zusätzlich auf die Rote Armee stützte – bestes Beispiel ist die DDR, auch wenn diese in besonderer Form diesbezüglich von Moskau abhängig war. Hinzu kommt, dass sich die Regime nicht mehr der Blocksolidarität wie etwa beim Prager Frühling gewiss sein konnten und das Eingreifen befreundeter Bruderländer dadurch ausgeschlossen war.     

Diese außenpolitische Komponente half dabei, dass die Demonstrationsteilnehmer/innen ihre Angst überwinden konnten, mit deren Hilfe die Machthaber mit regierten und das System stabilisiert hatten, das nun ohne die Unterstützung der östlichen Führungsmacht seine wesentliche Legitimation einbüßte, da der Staatssozialismus bis dato nicht mehr die einzige politische, von Moskau militärisch gestützte Option war. Daher ist der Mut der Menschen, der die enorme Mobilisierung im Herbst 1989 möglich machte, auch als mentaler Bruch mit den bestehenden Verhältnissen zu werten und durch die Neuausrichtung der sowjetischen Außenpolitik begünstigt.  

Revolutionen gibt es auch ohne Gewalt 

Die häufig rhetorisch gestellte Frage, ob es sich 1989 angesichts der verhältnismäßig wenigen Gewalt tatsächlich um eine Revolution handeln konnte oder nicht, ist nicht wirklich zielführend, da diese Art der normativen Kategorisierung Ursachen und Folgen aus dem Blick verliert und eher politischen als historischen Intentionen folgt. Das Problem liegt dann eher in der attributiven Apostrophierung, mit der das Phänomen Revolution belegt wird. Friedlich, demokratisch oder verhandelt, dahinter stecken bestimmte Gewichtungen, Einschränkungen bzw. Überhöhungen der Ereignisse, die nicht unproblematisch sind.

Der Begriff verhandelte Revolution ist hierbei zwar in Bezug auf die Bedeutung des Runden Tisches in allen Ländern des Ostblocks durchaus passend gewählt, aber eben nur für jene Phase des Umbruchs, die eigentlich schon als Teilergebnis der Revolution gewertet werden kann: Anerkennung der Opposition als Verhandlungspartnerin durch die herrschende Elite, damit einhergehend deren Legalisierung und das Ende der Repression samt Meinungs-, Rede- und Versammlungsfreiheit, [24] das Brechen des Herrschaftsmonopols der jeweils herrschenden Partei sowie die Perspektive der Teilung bzw. Kontrolle von Macht. Das aktive Element der Demonstrationen, des zivilen Ungehorsams und Widerstands gegen die bestehenden Verhältnisse, die einen Runden Tisch erst ermöglichten, vernachlässigt das Attribut verhandelte dabei, da es den Revolutionsprozess auf einen Aspekt pauschal reduziert.    

Gleichwohl ist es eben diesem bis dato wohl beispiellosen Verlauf einer Revolution geschuldet, sie durch dieses oder jenes Attribut besser einordnen und greifbarer machen zu wollen. Um dieses durchaus nachvollziehbare Anliegen zu erreichen, erscheint dann höchstens eine zeitliche Einordnung ohne sprachlich-semantische Einschränkung sinnvoll zu sein, da sie unverfänglicher wäre und zugleich einen periodisierenden Marker setzen würde – an Vorbildern mangelt es ja diesbezüglich nicht. So wären 1989er-Revolution oder Herbstrevolution von 1989 denkbare Varianten, da dieses Jahr die größte Schnittmenge der Veränderungen aufweist und im Herbst beschleunigende Faktoren wie die Grenzöffnung Ungarns und der Mauerfall als prägende Symbole von Untergang und Neuanfang fungieren.

Die Unumkehrbarkeit der Ereignisse und der von ihren Akteuren geschaffenen Fakten samt ihrer Folgen machen 1989 zu einem Revolutionsjahr, unabhängig von der damaligen oder heutigen Sicht der mitunter politisch enttäuschten Beteiligten.

Denn dieser Revolution ging ein Prozess der Veränderungen des Denkens und Handelns der Menschen voraus, die sich in entsprechenden Gruppen zusammenfanden, da sie die herrschende Krise ihres Systems, durch eben dieses verursacht, nicht mehr ertrugen. Der spürbare und sichtbare ökonomische Verfall ab dem Ende der 1970er Jahre war auch eine Metapher für den Zustand der Gesellschaften, die durch ihre Regierungen ökonomisch, ökologisch und politisch heruntergewirtschaftet wurden. Die Regime waren nicht mehr in der Lage, ihre ideologisch begründeten Versprechungen von Wohlstand und einer besseren sozialistischen Welt einzuhalten. Die offenbar werdende Ineffizienz des Systems, der Verlust des Vertrauens der Bevölkerung in die Machthaber und deren weiterhin repressiven, unverhältnismäßig gewalttätigen Antworten auf die Wünsche der Bevölkerungen nach Veränderungen brachten die Menschen gegen die Diktaturen auf und diese schließlich zum Einsturz. Die Unentschlossenheit und innerparteiliche Zerklüftung der herrschenden gerontokratischen Eliten sowie der fehlende Rückhalt in Moskau taten ihr Übriges, den Zusammenbruch der Herrschaft zu beschleunigen und unumkehrbar zu machen. Damit liegen signifikante Indikatoren für eine Revolution vor, die diese Bezeichnung ohne attributive Einschränkung verdient hat. 

Gekürzt. u. abgeänd. Erstveröffentlichung u.d.T. Die Revolution von 1989 im Osten Europas (=Kommentare und Hinweise zum Artikel 1989), in: Docupedia Zeitgeschichte [19.07.2010], http://docupedia.de/zg/Diskussion:1989.

Anmerkungen

  • [1]

     Ther, Phillip: 1989 – eine verhandelte Revolution, URL: http://docupedia.de/docupedia/images/4/48/1989.pdf (17.09.2010).

  • [2]

     Sabrow, Martin: Die Historikerdebatte über den Umbruch von 1989, in: Große Kracht, Klaus; Jessen, Ralph; Sabrow, Martin (Hrsg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 114-137, hier S. 116 und 127.

  • [3]

     Ebd., S. 116.

  • [4]

     Ther: Revolution, S. 2.

  • [5]

     Ebd., S. 6.

  • [6]

     Sabrow, Martin: Der ostdeutsche Herbst 1989 – Wende oder Revolution?, Münster 2008, URL: http://www.zzf-pdm.de/Portals/_Rainbow/Documents/Sabrow/08%20Wende%20oder%20Revolution.doc (17.09.2010), S. 11.

  • [7]

     Sabrow: Herbst, S. 13.

  • [8]

     Ther: Revolution, S. 2.

  • [9]

     Swain, Nigel: Negotiated Revolution in Poland and Hungary, 1989, in: McDermott, Kevin; Stibbe, Matthew (Hrsg.): Revolution and Resistance in Eastern Europe. Challenges to Communist Rule, Oxford 2006, S. 139-174, hier S. 139.

  • [10]

     Ramet, Sabrina P.: Social Currents in Eastern Europe. The Sources and Meaning of the Great Transformation, Durham 1995, S. 5.

  • [11]

     Ramet: Transformation, S. 6.

  • [12]

     Fuchs-Heinritz, Werner; Lautmann, Rüdiger; Rammstedt, Otthein; Wienold, Hanns: Lexikon zur Soziologie, Opladen 19953, S. 561-563.

  • [13]

     Auch Ther verweist in Hinblick auf Osteuropa auf die mit den ökonomischen einhergehenden politischen Verwerfungen.

  • [14]

     Sabrow, Herbst, S. 2.

  • [15]

     Ebd., S. 2.

  • [16]

     Martin Sabrow, Wende oder Revolution? Keinesfalls nur eine scholastische Frage. Der Herbstumbruch vor 20 Jahren im deutschen Geschichtsbewusstsein, in: Neues Deutschland v. 21.11.09, http://www.neues-deutschland.de/artikel/159604.wende-oder-revolution.html (23.08.2010).  

  • [17]

     Trotz der zeitlichen Verschiebungen des Umbruchs in den einzelnen Ländern des Ostblocks war aber allen gemein, dass die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Probleme in den 1980er Jahren Symptome für eine Krise der politischen Systeme sowjetischen Typs in den einzelnen Staaten des sowjetischen Einflussbereichs waren und somit einer Lösung bedurften, die Reformen unausweichlich machte.

  • [18]

     Richter, Michael: Die Wende. Plädoyer für eine umgangssprachliche Benutzung des Begriffs, in: Deutschland Archiv 40 (2007), S. 861-868, hier S. 865.

  • [19]

     Grieder, Peter: To Learn from the Soviet Union is to Learn How to Win: The East German Revolution, in: McDermott, Kevin; Stibbe, Matthew (Hrsg.): Revolution and Resistance in Eastern Europe. Challenges to Communist Rule, Oxford 2006, S. 157-174, hier S. 168.

  • [20]

     Auch wenn die Revolution allein schon deshalb größtenteils friedlich verlief, um dem Staat keinen Grund zur gewalttätigen Niederschlagung zu geben.

  • [21]

     Sabrow, Martin: Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Der Umbruch 1989 und der Kampf um die Deutungsmacht, Berlin 2009, http://www.zzf-pdm.de/Portals/_Rainbow/Documents/Sabrow/09%201989%20und%20der%20Streit%20um%20die%20Deutungshoheit%20Schwanenwerder.doc (23.08.2010), S. 11.

  • [22]

     Ther: Revolution, S. 6.

  • [23]

     Ramet: Transformation, S. 8.

  • [24]

     Oder besser: Protestfreiheit.

Empfohlene Zitierweise

Klaehr, Alexander: Der Umbruch von 1989 im sozialistischen Lager – eine Revolution ohne Einschränkung. aventinus nova Nr. 26 [17.09.2010] / Docupedia v. 19.07.2010, in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7947/

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Erstellt: 17.09.2010

Zuletzt geändert: 18.09.2010

ISSN 2194-1963