Nachkriegszeit und Kalter Krieg (1945-1989)

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aventinus nova Nr. 4 (Winter 2006) 

Baumeister, Martin 

Vor der movida: Madrid und die widersprüchliche Modernisierung Franco-Spaniens [1]

 

Madrid gehört zu den jungen, „coolen“ Großstädten Europas. Die Dreimillionenstadt hat ihre Image-Defizite als parasitäres, graues Zentrum der Macht gegenüber der alten Konkurrentin Barcelona weitgehend ausgleichen können. Sie gilt als vibrierende Wirtschafts- und Kulturmetropole, sie ist Sitz zahlreicher internationaler Unternehmen und zieht zahllose Touristen mit einer lebendigen kulturellen Szene, einer spektakulären Museumslandschaft und einem sprichwörtlichen Nachtleben an. Selbst das blutige Attentat vom 11. März 2004 konnte die Faszination nicht brechen, die Madrid als Verkörperung eines dynamischen, vitalen Landes ausstrahlt. Die Hauptstadt ist Schaufenster des Erfolgsmodells Spanien, dessen Bürger den friedlichen Übergang von einer Diktatur zur Demokratie bewerkstelligt und sich in zwei Jahrzehnten eine unumstrittene Position im Herzen der europäischen Staatengemeinschaft erobert haben. Seit dem Tod des Caudillo sind drei Jahrzehnte vergangen, die Diktatur scheint ferner denn je, auch wenn die Beseitigung des letzten öffentlichen Franco-Denkmals in der Hauptstadt im März 2005 für großes Aufsehen gesorgt hat. Nur wenigen Madridbesuchern ist allerdings bewusst, dass sich die heutige Gestalt der Stadt zu wesentlichen Teilen in der Franco-Zeit herausgebildet hat und ihr Aufstieg vom Regierungs- und Verwaltungs- zum Wirtschaftszentrum damals begonnen und vorangetrieben wurde – trotz der Großstadtfeindschaft und heftiger antimoderner Ressentiments der herrschenden Eliten. Dieser Wandel soll im Folgenden am Phänomen des explosionsartigen Bevölkerungswachstums und des politischen Umgangs damit umrissen werden. In den Veränderungen der Hauptstadt werden die tief greifenden Umwälzungen Spaniens unter einem Regime sichtbar, das nicht nur gegen die Drohung einer sozialen Revolution, sondern zunächst auch gegen eine Öffnung und Modernisierung des Landes nach westeuropäischem Vorbild angetreten war. 

Der Bürgerkrieg, der 1939 den Sieg der aufständischen Militärs gegen die erste spanische Demokratie gebracht hatte, muss als scharfe Zäsur in der politischen und soziokulturellen Entwicklung der spanischen Hauptstadt gewertet werden. Das „rote“ Madrid hatte den Aufständischen bis in die allerletzte Kriegsphase hinein erbitterten Widerstand geleistet. Im polarisierten Denken der antirepublikanischen Koalition repräsentierte die Metropole den Feind, das Böse schlechthin. Nach ihrem Fall wurde die Stadt einem harten Besatzungs- und Repressionsregime unterworfen. Trotz der schweren kriegsbedingten Schäden, trotz Hunger, überfüllten Gefängnissen und einer völlig daniederliegenden Wirtschaft war die Anziehungskraft Madrids, das bereits seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine ständig wachsende Zahl von Zuwanderern aus ländlichen Regionen angezogen hatte, jedoch ungebrochen. Zwischen 1930 und Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts stieg die Bevölkerung Madrids dank des Einwandererstroms um mehr als Dreifache von 953.000 auf 3,15 Millionen Personen an. Zwischen 1900 und 1940 hatte die Hauptstadt ihre Einwohnerzahl bereits verdoppelt. Den größten Zuwachs verzeichnete die Stadt allerdings in der Nachkriegszeit. Bereits unmittelbar nach Kriegsende strömten Zehntausende von Zuwanderern nach Madrid. Zwischen 1948 und 1954 verstärkte sich die demographische Dynamik der Hauptstadt weiter durch die Eingemeindung von 13 Umlandkommunen, die sich über Nacht von kleinen Landgemeinden in gewaltige Industriequartiere und Auffangbecken für die Massen der Zuwanderer verwandelten und Wachstumsraten weit über denjenigen der Stadt in ihren überkommenen Grenzen aufwiesen. In den letzten 15 Jahren der Franco-Diktatur wuchs die Madrider Bevölkerung wiederum dank der Immigration um mehr als eine Million Einwohner, d.h. um 50%, ein Anstieg, der sich wie in den Jahren zuvor im überproportionalen Anschwellen der Peripherie bemerkbar machte. Nach Rekordwerten gegen Mitte der 60er Jahre, als die Zuwanderung die Grenze von 40.000 Personen pro Jahr deutlich überstieg, nahmen die Immigrantenströme in der zweiten Hälfte der 60er Jahre ab, die Hauptstadt verlor nun Bevölkerungsanteile an Satellitenstädte im Großraum der Metropole. Das Wachstum des Madrider Ballungsraums hielt jedoch bis in die letzten Jahre der Diktatur an.

Im Anschwellen der Bevölkerungszahlen des Großraums Madrid manifestierte sich ein grundlegender Strukturwandel der spanischen Gesellschaft, der zögerlich und punktuell bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte, allerdings erst nach der Überwindung der Nachkriegsdepression in den 50er und v.a. 60er Jahren voll zum Tragen kam. Spanien war in dieser Zeit noch mitten im Prozess der demographischen Transition begriffen. Der ansteigende Bevölkerungsdruck wurde vom Land an die Stadt weiter gegeben, Spanien verwandelte sich vom Agrar- zum Industrieland, das demographische Gewicht verschob sich in den urbanen Raum, die Relation zwischen den Erwerbstätigen in der Landwirtschaft auf der einen, im Industrie und Dienstleistungssektor auf der anderen Seite veränderte sich, auch befördert durch eine tiefgreifende Agrarkrise, definitiv zu Ungunsten des Primärsektors. Nirgends sonst wurde die Ausmaße dieser Entwicklung deutlicher als in der Großstadt. Mit ihrem Umzug in die Metropole wurden Millionen von Spanierinnen und Spaniern mit einem Schlag aus den oftmals archaisch anmutenden ländlichen Gebieten in die industrielle Arbeits- und urbane Lebenswelt versetzt. Die überwältigende Mehrheit der Zuwanderer waren Landarbeiter insbesondere aus den Latifundienregionen des Südens und Südwestens bzw. kamen aus kastilischen Kleinbauernfamilien an der Grenze zur Proletarisierung. Es handelte sich in erster Linie um junge, unverheiratete Männer und Frauen ohne berufliche Qualifikation, die in der Stadt einen Ausweg aus den durch die Agrarkrise drastisch verschlechterten prekären Arbeits- und Lebensbedingungen und den unter der Diktatur weiter verschärften Abhängigkeitsverhältnissen suchten und ihn in Form einer Beschäftigung im Dienstleistungsbereich, so die Frauen als Putzkraft oder Haushaltshilfe, auf dem Bau und zunehmend auch in der Fabrik fanden. 

Die Physiognomie Madrids, das sich, in einem Bild der zeitgenössischen Stadtplanungsliteratur, wie ein Ölfleck ausbreitete, wurde durch die Massenzuwanderung grundlegend verändert. Zum auffälligsten Merkmal der rapiden Bevölkerungszunahme wurden breite Zonen einer “informellen Stadt”, die sich an die historische Stadt und die Unterschichtenquartiere des 19. und frühen 20. Jahrhunderts anschloss bzw. jenseits der Stadtgrenzen, oft an große Verkehrsadern, Ausfallstraßen und Bahnlinien, anlagerte. Der “menschliche Gürtel” umwucherte Madrid, dessen Lage auf der kastilischen Hochebene dem Wachstum weiten Raum ließ, scheinbar halt- und planlos, und verbreitete sich, so ein beliebtes Bild der Zeit, “wie ein Krebsgeschwür”. Entscheidende Weichen für die Entwicklung des großstädtischen Ballungsraums von Madrid, die Stadtkritiker nach dem Ende der Diktatur als Weg zu “Antistadt” denunzierten und mit einem “Drittewelt-Modell” verglichen, wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit gestellt. Das sprunghafte Ansteigen der Zuwanderungszahlen in den 40er Jahren entfaltete sich zunächst unter materiellen Voraussetzungen, die bestimmt waren durch die Kriegszerstörungen, die verheerenden Folgen der Autarkiepolitik und die unerbittliche Repression gegen die Verlierer des Kriegs. Bereits in der Vorkriegszeit bestehende gravierende urbanistische Probleme hatten sich nach 1936/39 extrem zugespitzt. Nach offiziellen Angaben vom Ende des Jahres 1942 befanden sich mehr als zwei Drittel der Wohnsubstanz der Hauptstadt in einem schadhaften oder gesundheitsschädlichen Zustand. Die dramatische Wohnsituation betraf somit keineswegs nur Arbeiter und Mittellose, sondern große Teile der Bevölkerung bis hin zu den gehobenen Mittelschichten.

Das spontane Wachstum der Stadt, die sprunghafte Vermehrung der von den Zuwanderern selbst errichteten Unterkünfte, die zu eigenen Stadtteilen heranwuchsen, war Folge der Anpassung an eine extreme Not- und Mangelsituation. Die offiziellen Stellen wussten dem Elend wenig entgegenzusetzen und unternahmen lange Zeit nur vereinzelte, unsystematische Anstrengungen, gegen das Problem der unregulierten Ausbreitung der Stadt vorzugehen. Der Bau von Hüttensiedlungen, sog. “chabolas”, die ihre Bewohner oft im Schutz der Nacht mit billigen Materialen wie Wellblech, Dachpappe und Brettern errichteten, bildete in den 40er und 50er Jahren für die Zuwanderer neben dem “realquiler”, dem dichtgedrängten Hausen zur Untermiete, den einzigen Ausweg angesichts der katastrophalen Unterversorgung mit Wohnraum. Die Wohnsituation in den Hütten, in der Amtssprache “infraviviendas” genannt, war ähnlich beengt wie in den überbelegten Räumen zur Untermiete. Dennoch wiesen die in Eigeninitiative errichteten Behausungen, die zunächst Minimalstandards in Bauqualität, Wasser- und Energieversorgung nicht einmal annähernd gewährleisten konnten, in den Augen ihrer Nutzer gewisse Vorteile auf, wie z.B. eine gewisse Nähe zu ländlichen Wohn- und Lebensformen mit engen nachbarschaftlichen Beziehungen, der Kleintierhaltung im eigenen kleinen Hof sowie der Möglichkeit, den Bau in einem – freilich sehr eng begrenzten Rahmen – an die individuellen Bedürfnisse anzupassen. Die “informelle Stadt” an der städtischen Peripherie, die in dicht gedrängten Agglomerationen von Hütten Tausenden von Zuwanderern aus dem ländlichen Spanien in Madrid ein Dach über dem Kopf bot, war keineswegs ein Auffangbecken marginaler Existenzen am Rand der Legalität. Ihre Bewohner lebten und wirtschafteten nicht wie in zahlreichen Slumsiedlungen der sog. Dritten Welt in einer “informellen Ökonomie”, bedroht von der Geisel der Arbeits- und Perspektivenlosigkeit, vielmehr wäre ohne ihre Arbeitskraft die industrielle und urbane Entwicklung der Metropolen nicht möglich gewesen. Ihren elenden Unterkünften entsprachen äußerst harte, oft gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen und bis in die 60er Jahre hinein von der repressiven Politik des Regimes gegenüber jedem Protest abgeschirmte Löhne unterhalb der Grenzen des Existenzminimums, die zum Überleben einer Familie die restlose Selbstausbeutung und den Einsatz eines jeden verfügbaren Angehörigen erforderten. Die Welt der “chabolas” war von durchaus komplexen, dem Blick Außenstehender meist entzogenen Regeln bestimmt, die den in der Grauzone operierenden Grundstücks- und Mietmarkt, den Handel mit Baumaterialien, den Zugang zu Ressourcen wie Wasser und Elektrizität, die Organisation informeller Kontrolle und Abhängigkeiten oder auch die Beziehungen zu Vertretern der städtischen und staatlichen Behörden betrafen. Der chabolismo als Massenphänomen war ein Produkt der Nachkriegszeit, das sich noch bis Anfang der 80er Jahre bemerkbar machte. Die infraviviendas stellten jedoch nur die Spitze des Eisbergs dar. Im chabolismo kamen die gravierenden Defizite in der Versorgung der städtischen Bevölkerung, insbesondere der Arbeiterschaft, mit Wohnraum am deutlichsten zum Vorschein. Nach Berechnungen für das Jahr 1975, das Todesjahr Francos, verfügten 53%, d.h. 587.000 von 1,09 Millionen Familien der Hauptstadt über keine angemessene, d.h. minimalen Größen- und Ausstattungsstandards genügende Wohnung – ein Umstand, der einer sozialen Bankrotterklärung des seinem Ende entgegen treibenden Regimes gleichkam.

Während die Zuwanderer auf die Notlage gemäß ihren beschränkten Möglichkeiten mit den Mitteln der Selbsthilfe reagierten, standen die Instanzen des Regimes denurbanistischen Problemen und der Not der Immigranten trotz aller lautstarken Deklarationen tatenlos gegenüber bzw. agierten in einer Weise, die die „urbane Krise“ weiter beförderte und verschärfte. Die bereits in den 40er Jahren einsetzende franquistische Industrialisierungspolitik verstärkte den ohnehin massiven Immigrationsdruck um ein Vielfaches. Die Hauptstadt, die im Vergleichzu den traditionellen Industriezentren des Landes v.a. in Katalonien und im Baskenland starke Entwicklungsdefizite aufwies, sollte quasi über Nacht in das wichtigste Industrie- und Handelszentrum des Landes verwandelt werden, eine Politik, bei der das 1941 gegründete staatliche Holding des Instituto Nacional de Industria (INI)mit umfangreichen Investitionen und der Ansiedlung von Großbetrieben insbesondere der metallverarbeitenden und chemischen Industrie eine führende Rolle einnahm. Zur gleichen Zeit, als die Industrialisierung Madrids „von oben“ entsprechend den staats- interventionistischen Vorstellungen der Autarkiepolitik initiiert wurde, träumten die Spitzen des Regimes davon, die vom Krieggezeichnete Hauptstadt der niedergeworfenen Republik gemäß dem Vorbild des faschistischen Rom und den megalomanen Berlinplanungen Speers als repräsentative Hauptstadt eines hispanischen Großreichs neu aufzubauen. Die Umsetzung der mit nationalen Macht- und Reinigungsphantasien verbundenen Visionder „imperialen Stadt“ scheiterte jedoch bald an mangelnden Ressourcen und den überbordenden materiellen und sozialen Problemen in einem Moment, wo die franquistische Autarkieideologie ihren verbindlichen Einfluss einzubüßen begann. 

Ein Plan General für die Stadterweiterung, der die „Auslagerung“ des städtischen Wachstums in eine Reihe weitgehend autonomer Satellitenstädte jenseits eines die Hauptstadt umfassenden Grüngürtels vorsah, war bereits vor seiner Verabschiedung 1946 vom anarchischen Stadtwachstum überholt worden. Die Wohnungsbaumaßnahmen der ersten 15 Jahre des Regimes kamen kaum den Immigranten, sondern den Mittelschichten zu gute. Gegen Mitte der 50er Jahre machten sich jedoch Anzeichen der Entwicklung eines paternalistischen „Sozialfranquismus“ mit polykratischen Zügen bemerkbar. Die öffentlichen Organe gaben ihre fast vollständige Passivität gegenüber den sich immer mehr zuspitzenden Wohnproblemen der ständig wachsenden Zuwanderermassen auf. In einer Reihe von Initiativen verschiedener miteinander konkurrierender Institutionen und Organe der Stadt, diverser Ministerien sowie der franquistischen Gewerkschaften versuchte das Regime die ungesteuerte Ausdehnung der Stadt in sozial verträglichere Bahnen zu lenken und das Ärgernis des Chaos der städtischen Peripherie aus der Welt zu schaffen. Neben dem Bau von Wohnungen in eigener Trägerschaft bemühte man sich staatlicherseits mit Subventionen und steuerlichen Anreizen private Firmen zum Bau von Sozialwohnungen für Arbeiter zu motivieren. Die zahlreichen Projekte, die billigen Mietwohnraum für die Arbeitermassen schaffen sollten, zielten auf eine quasi chirurgische „Ausmerzung“ der wild wuchernden chabola-Siedlungen. Am deutlichsten kam diese Politik im sozialen Notplan für Madrid (Plan de Urgencia Social de Madrid) von 1957 sowie im sog. Plan de Absorción de chabolas von 1961 zum Ausdruck.

Sowohl die legislativen als auch die Baumaßnahmen blieben unkoordiniert und ließen umfassendere stadtplanerische Perspektiven vermissen. Immerhin stellen die 50er Jahre die bedeutendste Phase öffentlichen Bauens in der Madrider Stadtentwicklung des 20. Jahrhunderts dar. Bereits 1957 zeichnete sich jedoch mit der Gründung eines eigenen Wohnungsbauministeriums eine grundlegende Neuorientierung in der Politik des Regimes ab, weg von der Schaffung billigen Mietwohnraums durch die öffentliche Hand hin zur Priorität der Bildung privaten Wohneigentums durch öffentlich begünstigte Privatunternehmer. Anfang der 60er Jahre lag der Wohnungsbausektor bereits zu weiten Teilen in privater Trägerschaft, d.h. bei wenigen großen Bauunternehmen, die von den großzügigen staatlichen Subventionen profitierten und in kurzer Zeit Zehntausende von Wohneinheiten in hoch aufragenden anonymen uniformen Blocks auf den Markt brachten. Das öffentliche Engagement im sozialen Wohnungsbau fiel nur noch wenig ins Gewicht. Waren in den 50er Jahren von öffentlicher Seite in Madrid 65.000 Wohnungen gebaut worden, so waren es in den 60er Jahren 20.000. Dagegen errichteten private Bauunternehmer im Jahrzehnt 1962-72 knapp 282.000 Wohnungen mit staatlicher Förderung, davon 41,5% Sozialwohnungen, derselbe Anteil entfiel jedoch auf lukrativere Objekte, d.h. Wohnungen gehobenen, z.T. sogar Luxusstandards. Spekulation, die sich in der Diktatur weitgehend ungebremst durch öffentliche Kontrolle entfalten konnte, extreme Verdichtung und „Vertikalisierung“ in standardisierten Blocks, die Ausschaltung der Architekten im Massenwohnungsbau und das Ende einer urbanistischen Debatte, die noch unter dem Vorzeichen der öffentlichen Bautätigkeit der 50er Jahre zumindest in Ansätzen aufleben konnte – dies waren die Kennzeichen der „neuen“ Politik, die dem Marktkapitalismus freie Hand ließ und die Bereitstellung von Wohnraum endgültig zu einer Frage der Massenproduktion nach fordistischem Muster werden ließ. Das „chaotische“ Wachstum der informellen Siedlungen, die die ersten Großfabriken in der Peripherie der Hauptstadt, die Avantgarde der Einführung tayloristischer Produktionsmethoden in Franco-Spanien, umgeben hatten, wurde nun domestiziert und uniformiert, „Urbanität“ für die Arbeitermassen endgültig reduziert auf gewaltige „Wohncontainer“ auf einer urbanen Brache, die, abgesehen vom Anschluss an Elektrizität und Kanalisation, zumeist auch eine elementare Infrastruktur wie geteerte Straßen, die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, Geschäfte, die Versorgung mit Kindergärten, Schulen und medizinischen Einrichtungen entbehrten. 

Die Entwicklung Madrids nach dem Bürgerkrieg spiegelt die Entwicklung der Diktatur Francos, die spezifischen widersprüchlichen Formen der Modernisierung Spaniens unter der autoritären Herrschaft des Generalísimo wider. Während das Regime im gesellschaftlichen und politischen Bereich einen autoritär-repressiven Kurs hielt, setzte es bereits seit den 40er Jahren auf ökonomische Stärkung und Modernisierung durch Industrialisierung mit Hilfe massiver staatlicher Interventionen. Dem Problemdruck, der aus den daraus folgenden fundamentalen Umstrukturierungen erwuchs, begegneten die staatlichen Stellen nach einer langen Zeit der Passivität mit schwachen sozialpolitischen Instrumenten, deren ohnehin beschränkte Wirkung durch die polykratischen Kompetenzkämpfe noch weiter gebremst wurde. Die letzte Phase, die bestimmt war durch den Primat kapitalistischer Profitorientierung, stellte schließlich nur eine weitere Konsequenz in der Entwicklung des Regimes dar, das den Kräften der Wirtschaft nun weitgehend freie Hand ließ, seinen repressiven Charakter aber bis zum Tod des Diktators aufrecht erhielt. Die „urbane Krise“ leitete jedoch auch entscheidende Weichenstellungen für den Aufbruch nach 1975 ein. Die Massen der Zuwanderer aus ländlichen Regionen in der städtischen Peripherie avancierten zu – unfreiwilligen – Protagonisten der Stadtentwicklung. Die explosionsartig anschwellenden neuen Quartiere wurden zur Plattform für die Politisierung der aus dem Regime ausgeschlossenen Massen, die entscheiden beitrugen zur Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen im Übergang von der Diktatur zur Demokratie. In historischen Darstellungen der Transición, die sich meist auf die Aktivitäten von Regierungsvertretern, Parteien und der Monarchie konzentrieren, erfährt man von der großen Bedeutung dieser sozialen Bewegungen für die demokratischen Anfänge in Spanien meist recht wenig. Madridbesucher aus aller Welt interessieren sich für die Reize und Sehenswürdigkeiten des Stadtzentrums. Die „gesichtslose“ Peripherie hat für sie keine Bedeutung. Und doch hat sich gerade dort der historische Umbruch in der Entwicklung der Stadt zur modernen Metropole abgespielt.

Anmerkungen

  • [1]

     Modifizierte Fassung eines Vortrags, gehalten auf dem 8. Internationalen Kongress der European Association for Urban History in Stockholm am 1.9.2006.

Empfohlene Zitierweise

Baumeister , Martin: Vor der movida: Madrid und die widersprüchliche Modernisierung Franco-Spaniens. aventinus nova Nr. 4 (Winter 2006), in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7784/

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Erstellt: 27.05.2010

Zuletzt geändert: 29.05.2010

ISSN 2194-1963

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