Die Salier und das Zeitalter der Kirchenreform (1024-1125/37)

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aventinus mediaevalia Nr. 10 [29.06.2010] 

Leila Bargmann 

Der päpstliche Primat 

Die päpstliche und die bischöfliche Gewalt in der Ekklesiologie der Reform 

1. Das Reformpapsttum und der Episkopat 

Im Zuge der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts entfaltete das Papsttum ein neues Selbstverständnis und ging über zu einer Amtsführung, die mit der althergebrachten Bischofskirche und der zeitgenössischen kirchenpolitischen Realität kollidierte. Der Anspruch auf die universale Kirchenleitung und einen konstitutiven Autoritätsprimat des Papstes stellte nicht nur die weltliche Kirchenherrschaft in Frage, sondern auch die im 11. Jahrhundert voll ausgebildete bischöfliche Souveränität. Der römische Zentralismus und der päpstliche Primat mussten daher zunächst gegen die episkopal-synodalen Kirchenstrukturen durchgesetzt werden. Letztlich führte die Kirchenreform einen Wandel der Kirchenverfassung herbei. Die horizontale Kirchenordnung, in der die Gesamtheit des Episkopats das Regiment durch das Konzil ausübt, wurde durch die vertikale Kirchenordnung verdrängt, an deren Spitze der Papst als souveräner Herrscher figuriert. [1] Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen die Fundierung der päpstlichen Kirchenherrschaft und das Verhältnis der päpstlichen zur bischöflichen Gewalt in der Ekklesiologie der Reform.

2. Die Kirchenordnung 

Die rechte, gottgewollte Kirchenverfassung ist konstitutiv für die sakrale Autorität der Institution, daher bedarf sie einer dogmatischen Grundlegung. Die Formulierung der ekklesiologischen Doktrin erfolgt anhand der Überlieferung der Kirchenstiftung nach Mt. 16.18 f. [2] Im ersten der beiden Verse geht es um die Begründung der Institution der Kirche, die mit Petrus ihren Anfang nimmt. Im zweiten verleiht Christus dem Apostelfürsten die Binde- und Lösegewalt. Später, nach Mt. 18.18 [3] erhalten auch die übrigen Apostel die Binde- und Lösegewalt. Die unterschiedliche Deutung der drei Verse ist grundlegend für die zwei gegensätzlichen Auffassungen von der gottgewollten Kirchenordnung. Wird die allein Petrus betreffende Schlüsselstelle nach Mt. 16.18 hervorgehoben, ergibt sich der Vorrang Petri vor den übrigen Aposteln. Die Verbindung von Mt. 16.19 und 18.18 stellt hingegen die Binde- und Lösegewalt, die allen gleichermaßen zuteil wurde, in den Vordergrund und betont die Ebenbürtigkeit der Apostel. [4]

2.1 Das cyprianische Dogma und der päpstliche Primat zu Beginn des 11. Jahrhunderts

In seinem Hauptwerk De ecclesiae catholicae unitate [5] (251) schafft Bischof Cyprian von Karthago (200-258) die theoretische Grundlage für die episkopal-synodale Kirchenordnung. Er fokussiert die Verbindung von Mt. 16.19 und 18.18 und pointiert, dass alle Apostel gleichermaßen Teilhaber des Episkopats wurden. [6] Die eingangs singuläre Weihegewalt nach Mt. 16.19 und die Verkündung nach Mt. 16.18 richten sich an Petrus in seiner Funktion als Vertreter der Apostel. Damit kommt ihm aber allenfalls ein Ehrenprimat zu. [7] Cyprian sieht in Petrus den Einen, der die Einheit der Kirche symbolisiert. Realiter drückt sich diese aber in der Einheit des Episkopats und synodaler Übereinstimmung aus. [8]

Obwohl die Auffassung das 10. Jahrhundert dominierte, kannte auch dieses einen päpstlichen Primat, der allerdings keinen dogmatischen Charakter hatte. Zum einen gebührte dem Bischof der Reichshauptstadt schon aufgrund der Metropolitanverfassung ein privilegierter Rang. Zum anderen wurde das Papsttum auf der Synode von Serdica (342/343) mit der Zuständigkeit für Appellationssachen ausgestattet. [9] Die Vorrangstellung resultierte also aus dem Reichskirchenrecht und wurde synodal, kraft episkopaler Autorität approbiert. Daneben traten der Gemeindeprimat Roms und die Doppelapostolizität Petri und Pauli, denen eine enorme Bedeutung in der Kirchenfrömmigkeit zukam. [10]

Die Romfrömmigkeit und Petrusverehrung hatten jedoch keinen Einfluss auf die kirchenpolitische Realität. Im kirchlichen Alltag spielte das Papsttum keine Rolle und seine Machtposition unterschied sich praktisch nicht von der anderer Bischöfe in ihren Diözesen. Päpste walteten in der Regel mittels Reskripten, ohne aus eigenem Antrieb aktiv zu werden. [11] Zudem stellte der ordentliche Appellationsweg nur eine Option dar. Erstens lag es im Ermessen der Beteiligten, ihn einzuschlagen, zweitens hatte ein päpstlicher Spruch keinen verpflichtenden Charakter.

2.2 Das leonische Dogma und der päpstliche Primat gegen Ende des 11. Jahrhunderts 

Anders als Cyprian deutete Papst Leo der Große (400, 440-461) die Verse des Matthäus-Evangeliums. Seine Interpretation hebt die Schlüsselstelle nach Mt. 16.18 hervor und begründet damit den Vorrang Petri. [12] Die Weihegewalt der Apostel nach Mt. 18.18 leitet Leo I. von der höchsten Hirtengewalt, der plenitudo potestas, ab, [13] die nach Mt. 16.18 f. allein Petrus gebührt. Als vicarius Petri, der wiederum Stellvertreter Christi ist, [14] repräsentiert und regiert allein der Papst die Kirche. [15] Die bischöfliche Gewalt ist dabei lediglich Anteil an der plenitudo potestatis papalis.

Der Ansatz war bereits im 5. Jahrhundert formuliert und im 9. nochmals durch die pseudoisidorische Werkstatt aufgearbeitet worden, [16] geriet jedoch im 10. Jahrhundert in Vergessenheit. [17] Erst die Kirchenreform machte sich das Dogma des petrinischen Primats zu eigen. In der neu definierten Vorrangstellung des Papsttums war der Primat von wahrhaft dogmatischer Qualität. Er fußte nicht mehr auf der positivrechtlichen Verfügung des Episkopats, sondern erhielt konstitutiven Rang, da er vom exklusiven Auftrag Christi nach Mt. 16.18 abgeleitet wurde. Somit bildete die römische Kirche mit dem vicarius Petri an ihrer Spitze das substanzielle Fundament der Ecclesia, von welchem diese stringent abhing. Pointiert gebührte dem Papst als dem Inhaber des universalen Episkopats [18] ein gottgewollter Autoritätsprimat, während die Bischöfe in seiner erstrangigen Hirtengewalt standen und lediglich Anteil an seinem Episkopat nahmen.

3. Die Kirchenreform 

Der Wandel im Selbstverständnis und der Amtsführung des Papsttums setzte ein mit dem Pontifikat Leos IX. (1049-1054). Seine Amtsauffassung entsprach gänzlich dem leonischen Dogma, wonach dem römischen Bischof kraft des petrinischen Primats die universale Kirchenleitung obliegt. Auf dieser Grundlage legalisierte und institutionalisierte Leo IX. die Kirchenreform und exponierte die römische Kirche als ihren Mittelpunkt. 

Die maßgebende Neuerung bestand ferner in der konsequenten und aktiven Umsetzung des Reformprogramms auch außerhalb Roms. Durch ambulantes Regiment, regen Synodalbetrieb sowie ein starkes Legatentum forcierte Leo IX. die Reformbestrebungen und behauptete wegweisend die Universalität des päpstlichen Autoritätsprimats. 

4. Quellen- und Literaturverzeichnis 

4.1 Quellenverzeichnis 

Cyprian von Carthago: De ecclesiae catholicae unitate, in: MPL 4 (1844), Sp. 493-520A.

Dionysius Exiguus: Codex canonum ecclesiasticorum, in: MPL 67 (1848), Sp. 135-230B. 

Leo I.: Sermones, in: MPL 54 (1846), hier Sp. 137-467. 

4.2 Literaturverzeichnis 

Congar, Yves M.-J.: Der Platz des Papsttums in der Kirchenfrömmigkeit der Reformer des 11. Jahrhunderts, in: Jean Daniélou, Herbert Vorgrimler (Hrsg.): Sentire Ecclesiam. Das Bewusstsein von der Kirche als gestaltende Kraft der Frömmigkeit, Freiburg/Basel/Wien 1961, S. 196–217.

Kerner, Max: Studien zum Dekret des Bischofs Burchard von Worms, Phil. Diss. [masch.], 2 Bde., Aachen 1969/1971.

Klinkenberg, Hans Martin: Der römische Primat im 10. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 72, Kanonistische Abteilung 41 (1955), S. 1-57.

Schieffer, Rudolf: Motu Proprio, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 27-41.

Anmerkungen

  • [1]

    Zu den Ordnungsmodellen siehe Max Kerner: Studien zum Dekret des Bischofs Burchard von Worms, Phil. Diss. [masch.], Bd. 1, Aachen 1969, S. 39-45.

  • [2]

    Et ego dico tibi: Tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo Ecclesiam meam; et portae inferi non praevalebunt adversum eam. / Tibi dabo claves regni caelorum; et quodcumque ligaveris super terram, erit ligatum in caelis, et quodcumque solveris super terram, erit solutum in caelis. 

  • [3]

    Amen dico vobis: Quaecumque alligaveritis super terram, erunt ligata in caelo; et, quaecumque solveritis super terram, erunt soluta in caelo. 

  • [4]

    Kerner: Studien zum Dekret, S. 47; Hans Martin Klinkenberg: Der römische Primat im 10. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 72, Kanonistische Abteilung 41 (1955), S. 1-57, hier: S. 5.

  • [5]

    Cyprianus Carthaginensis: De ecclesiae catholicae unitate, in: MPL 4 (1844), Sp. 493-520A. 

  • [6]

    Ebd., c. 4., Sp. 491B-501A. 

  • [7]

    Klinkenberg: Der römische Primat, S. 8 f., 48.

  • [8]

    Ebd., S. 5 f. 

  • [9]

    Dionysius Exiguus: Codex canonum ecclesiasticorum, Canones synodi Sardicensis, c. 3, in: MPL 67 (1848), Sp. 135-230B, hier Sp. 177B. 

  • [10]

    Klinkenberg: Der römische Primat, S. 12-15.

  • [11]

     Rudolf Schieffer: Motu Proprio, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 27-41.

  • [12]

    Et tamen de toto mundo unus Petrus eligitur, qui et universarum gentium vocationi, et omnibus apostolis, cunctisque Ecclesiae Patribus praeponatur; Leo I.: Sermones, Sermo IV, c. 2, in: MPL 54 (1846), Sp. 137-467, hier Sp. 149C.

  • [13]

    In Petro ergo omnium fortitudo munitur, et divinae gratiae ita ordinatur auxilium, ut firmitas, quae per Christum Petro tribuitur, per Petrum apostolis conferatur; ebd., Sp. 151B f.

  • [14]

    ... omnes tamen proprie regat Petrus, quos principaliter regit et Christus; ebd., Sp. 150A; implizit fungiert damit der Papst gleichsam als vicarius Christi.

  • [15]

    Enim ideo hoc singulariter creditur, quia cunctis Ecclesiae rectoribus Petri forma praeponitur; ebd., Sp. 151A.

  • [16]

    Dies in einem anderen Zusammenhang, nämlich zur Stärkung der Bischofskirche gegenüber der Macht der Metropoliten. 

  • [17]

    Klinkenberg: Der römische Primat, S. 49, 56 f.

  • [18]

    Ecclesia Romana wurde mit ecclesia universalis gleichgesetzt und allegorisch mit einem Organismus verglichen, dessen Kopf das Papsttum, die Glieder der Episkopat verkörpert; vgl. Yves Congar: Der Platz des Papsttums in der Kirchenfrömmigkeit der Reformer des 11. Jahrhunderts, in: Jean Daniélou, Herbert Vorgrimler (Hrsg.): Sentire Ecclesiam. Das Bewusstsein von der Kirche als gestaltende Kraft der Frömmigkeit, Freiburg/Basel/Wien 1961, S. 196–217, hier S. 200 mit Anm. 43; der Römische Bischof verstand sich als der catholicae ecclesiae episcopus; vgl. Schieffer: Motu Proprio, S. 39 f.

Empfohlene Zitierweise

Bargmann, Leila: Der päpstliche Primat. Die päpstliche und die bischöfliche Gewalt in der Ekklesiologie der Reform. aventinus mediaevalia Nr. 10 [29.06.2010], in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7873/

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Erstellt: 28.06.2010

Zuletzt geändert: 15.01.2011

ISSN 2194-1955