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aventinus varia Nr. 12 (Winter 2006) 

Zarka, Attila  

Geschichte als Geschichte  

 

Die Erfolgsautorinnen Tanja Kinkel und Ulrike Schweikert, sowie Timothy Sonderhüsken, Lektor in der Verlagsgruppe Droemer Knaur, im Gespräch mit Aventinus über den Erfolg historischer Romane, das „Brennen“ für Geschichte und warum es gut sein kann Latein gelernt zu haben. 

Historische Romane sind aus dem Repertoire vieler Verlage kaum noch wegzudenken. Sie vermitteln Geschichte auf eine der Wissenschaft fremden, aber wissenschaftlich sehr gut aufgearbeiteten Art und Weise. In der Zwischenzeit ist auch die Wissenschaft selbst auf die Gattung der historischen Romane aufmerksam geworden. So zum Beispiel hat das Institut für Germanistik an der Universität Innsbruck das "Projekt Historischer Roman" ins Leben gerufen. Hier wurde zwischen 1991 und 1997 eine Datenbank mit 6300 Einträgen zu historischen Romanen zwischen 1780 und 1945 erstellt. Die Erkenntnisse hierbei dienten einigen Dissertationen und Diplomarbeiten als Grundlage. 

Was den Reiz von historischen Romanen ausmacht, muss natürlich jeder für sich selber herausfinden. Man darf sich aber keineswegs mit klischeehaften Ausflüchten, wie "das Buch ist unwissenschaftlich" oder "einige Personen im Buch haben in Wirklichkeit nie existiert" aus der Affäre ziehen.  

Geschichte hat viele Gesichter und alles hat Geschichte. Geschichte ist für manche ein langweiliges Schulfach, auch die Zeitung von heute ist Geschichte von gestern, und ebenso politische Phänomene wie die Gesundheitsreform sind in ihrer eigenen Geschichte verankert (man denke an dieser Stelle an Otto von Bismarck). 

Historische Romane besitzen das große Privilegium, dass sie Geschichte als Unterhaltung tarnen können und dürfen - selbst aus didaktischer Perspektive hat die Wertschätzung dieser Quelle der narrativen Kulturvermittlung in unserer Gesellschaft stetig abgenommen. Zu Unrecht, wie wir finden, denn viele Buchveröffentlichungen sind von hoher Qualität und sprechen sehr unterschiedliche Leserkreise an. Moderne Autoren verbringen vielen Stunden mit Recherche, durchforsten zahllose Quellen, kennen Hundertschaften wissenschaftlicher Arbeiten, um die wissenschaftlichen Urteile mit ihrer Phantasie schließlich meisterhaft zu vermischen. So besteht die Gemeinsamkeit ihrer Leser vorrangig darin, unterhalten zu werden und in "ferne Welten" abzutauchen und gleichzeitig seinen Wissens- und Vorstellungshorizont zu erweitern. 

Im folgenden Artikel stellen wir zwei dieser erfolgreichen Autorinnen historischer Romane vor und befragen sie zu ihrer Arbeit und ihrer Beziehung zu Geschichte. Ein dritter Gesprächspartner erläutert die Verlagsarbeit bei der Entstehung von historischen Romanen. 

Tanja Kinkel 

Tanja Kinkel ist am 1969 in Bamberg geboren. 1988 begann sie Ihr Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kommunikationswissenschaft an der LMU-München. Bereits 1990 erschien Ihr erster Roman "Wahnsinn, der das Herz zerfrißt". Seit dieser Zeit werden in regelmäßigen Abständen Romane aus ihrer Feder veröffentlicht. Tanja Kinkel hat mit ihren Romanen historisch gesehen alle Epochen gut abgedeckt. Ihr neuestes Werk "Venuswurf" spielt in der frühen römischen Kaiserzeit und beschreibt die Lebensepisoden der Zwergin Tertia und Ihrer Herrin Julilla, der Enkelin des Kaisers Augustus. Ihr wohl bekanntestes Buch, die "Puppenspieler" spielt dagegen im Spätmittelalter (oder frühen Neuzeit ;-)) im Umfeld der Fuggerfamilie.

Ulrike Schweikert 

Ulrike Schweikert ist am 1966 in Schwäbisch Hall geboren. Sie studierte an der Stuttgarter Universität Geologie und absolvierte einen Aufbaustudiengang Journalismus an der Universität Hohenheim. Ulrike Schweikert ist vor allem durch Romane, die lokalhistorisch geprägt sind, bekannt geworden. Ihr erster Roman "Die Tochter des Salzsieders" erschien im Jahre 2000. Hier wird die Geschichte einer jungen Frau in Schwäbisch Hall erzählt. Ihr neuestes Buch "Das Siegel des Templers" ist die historische Aufarbeitung Ihrer eigenen Pilgerreise nach Santiago de Compostela. 

Verlagsgruppe Droemer Knaur 

Anspruchsvolle Belletristik, populäre Unterhaltungsliteratur und aktuelle Sachbücher dominieren das Programmprofil der Verlagsgruppe Droemer Knaur mit Sitz in München. Die Verlagsgruppen von Holtzbrinck und Weltbild halten jeweils 50 Prozent der Anteile. Die Verlagsgruppe Droemer Knaur steht für eine Reihe von Einzelverlagen. Dazu gehören die folgenden Beteiligungen: 

Droemer Verlag 

Willy Droemer begründete den Ruf des Hauses als Bestsellerverlag mit Autoren wie Mary McCarthy oder Norman Mailer. Auch in den Folgejahren konnte der Verlag literarische Größen wie James A. Michener und Johannes Mario Simmel gewinnen. Heute stehen Erfolgsautoren wie Val McDermid, Kate Mosse, Peter Prange, P.D. James, Wolf Serno, Maeve Binchy, das Autorenduo Douglas Preston/Lincoln Child und viele andere für sichere Platzierungen auf den Bestsellerlisten. Neben der Belletristik bestimmen aktuelle politische Titel und populärwissenschaftliche Sachbücher das Programmprofil von Droemer - darunter die Erinnerungen von Helmut Kohl und erfolgreiche Memoirs wie "Dschungelkind" von Sabine Kuegler oder "Nichts ausgelassen" von Heiner Lauterbach. 

Knaur Verlag 

1901 in Berlin gegründet, erwarb sich Knaur rasch den Ruf eines Verlages für gut gemachte Ratgeber, Nachschlagewerke und Atlanten. In den neunziger Jahren kam die Belletristik dazu - speziell für die weibliche Leserschaft. Mit einem kompletten Programm-Relaunch und der Integration der Ratgeberverlage Augustus und Midena wurde 2003 die Tradition als Ratgeberverlag wieder belebt. 

Knaur gehört heute zu den in Deutschland führenden Verlagen im Bereich der populären Unterhaltung, der sich mit Bestsellergaranten wie Mary Levy, Tanja Kinkel, Iny Lorentz, Andreas Franz und Lolly Winston schmücken kann. 

Knaur Taschenbuch Verlag 

1963 erschienen die ersten Knaur Taschenbücher. Heute ist der Verlag mit den Schwerpunkten Frauenunterhaltung, Spannung und historische Romane der dritterfolgreichste deutsche Taschenbuchverlag. Im Bereich der historischen Romane ist Knaur - mit einem Marktanteil von 40 Prozent - souveräner Marktführer. Wie kein anderer Taschenbuchverlag hat Knaur in den letzten Jahren sein Engagement für deutschsprachige Unterhaltung ausgebaut. Zu den erfolgreichsten Autoren des Knaur Taschenbuch Verlags gehören - neben den erfolgreichen Autoren der großen Schwestern Droemer und Knaur Hardcover - Nick Hornby, John Katzenbach, Danielle Steel, Sebastian Fitzek, Sabine Kornbichler, Jörg Kastner, Lisa Jackson, Wolfgang Hohlbein, Markus Heitz, Anne Hertz, Corinne Hoffmann und Anne West. Der Knaur Taschenbuch Verlag veröffentlicht pro Programmhalbjahr ca. 95 Taschenbücher. Jeweils 34 % davon gehören zum Genre "Spannung" und "Frauenunterhaltung", 20 % zu den "historischen Romanen".

Interview 

Für das nachfolgende Interview haben wir Tanja Kinkel, Ulrike Schweikert und Timothy Sonderhüsken unabhängig voneinander befragt. Die Gespräche wurden durch uns im Nachhinein leicht gekürzt und zusammengeführt. 

Aventinus 

Historische Romane sind vor allem in Deutschland eine sehr begehrte Lektüre. Was macht Ihrer Meinung nach ihren Erfolg aus? 

Tanja Kinkel 

Ich glaube nicht, dass man da verallgemeinern und allen Lesern die gleichen Motive unterstellen kann. Für mich selbst liegt ein großer Teil der Faszination des historischen Romans in der Mischung aus Fremdem und Vertrautem; es ist die Realität, aus der unsere hervorgegangen ist, es gibt Parallelen zur Gegenwart,die faszinierend sind, und ebensolche Kontraste, Dinge, die einzigartig für die jeweilige Epoche sind, und Umstände, die sich exakt in unserer Zeitwiderspiegeln. 

Ulrike Schweikert 

Auch die Reiselust der Deutschen ist – trotz knapper Kassen – ungebrochen. Ich denke, dass da ein Zusammenhang besteht. Die Menschen wollen Abwechslung von ihrem Alltag. Sie möchten etwas Besonders, Fremdes, Exotisches erleben – entweder in anderen Ländern oder in vergangenen Zeiten bei der Lektüre historischer Romane. 

Aventinus 

Warum wird überwiegend das Mittelalter als Themenbereich herangezogen und in welchem Zusammenhang steht das zu dem leider oft gezeichnetem Bild "Das dunkle Mittelalter"? 

Ulrike Schweikert 

Abtauchen und vergessen und dann auch noch nebenbei ein wenig über unsere Wurzeln lernen, das macht den Reiz des historischen Romans aus. Und wenn es dann grausam und bedrückend wird, dann liegt es zum Glück schon so lang zurück, dass es uns nicht mehr betrifft… Ganz anders als die Geschichten, die in den Zeiten der Weltkriege des 20. Jahrhunderts spielen. Das Mittelalter lässt uns wohlig schaudern – die Weltkriege nicht. Es wird dem Mittelalter eine falsche Romantik angehängt, die zum Träumen einlädt - mit der ich in meinen Romanen allerdings schonungslos aufräume. Romantisch war diese Zeit nicht! Es war einerseits düster und grausam, aber anderseits für Frauen in manchen Bereichen freier als die frühe Neuzeit bis zum Biedermeier. 

Aventinus

Wie wichtig ist historische Authentizität? Steht die zu erzählende Geschichte oder die historische Wirklichkeit im Vordergrund? 

Tanja Kinkel 

Die eine muss die andere nicht ausschließen, zumal man mit Pilatus in Bezug auf vieles in der Geschichte sagen könnte: „Was ist Wahrheit?“  In der Regel wissen wir, wann bestimmte Menschen geboren und gestorben sind, doch bereits, wenn es um ihre Motive geht, fängt die Spekulation an, lange vor jedem Roman. Bereits bei einem Autounfall kann man davon ausgehen, dass drei verschiedene Zeugen drei verschiedene Versionen liefern; bei komplexeren Geschehnissen in der Geschichte vervielfacht sich dieses Prinzip. Es ist mir wichtig, so genau wie möglich zu recherchieren, ehe ich mit dem Roman beginne, aber ich schreibe kein Sachbuch. Was bedeutet, dass ich nicht für jedes Wort bürgen muss, und meine Aussagen über Beweggründe nicht durch ein „Möglicherweise…“ einleiten muss Gelegentlich ist es notwendig, sich bewusst Freiheiten zu nehmen, so z.B. in „Die Puppenspieler“, wo ich Ereignisse, die sich in Wirklichkeit über einen längeren Zeitraum hin abgespielt haben, auf etwa ein Jahrzehnt verdichte, um sie besser im Einklang mit der Entwicklung der Hauptfigur zu bringen. Bei anderen Romanen hatte ich das Problem nicht, und also war keine Verkürzung von Daten notwendig. Fazit: Im Zweifelsfall die zu erzählende Geschichte, doch ich bemühe mich, beiden gerecht zu werden. 

Timothy Sonderhüsken (Knaur Verlag) 

Natürlich ist es beim historischen Roman – wie bei jedem anderen Roman auch - wichtig, dass die Fakten stimmen. Davon abgesehen kann man die Frage nicht eindeutig beantworten. Es kommt ganz auf den Leser und seine Wünsche an: Sucht er eine Geschichte, die vor allen Dingen spannend und/oder romantisch ist und bei der die Historie eher die Tapete im Hintergrund darstellt – oder ist er vorrangig an der jeweiligen Zeit interessiert und will auf angenehme Art etwas über Geschichte lernen. Diese Leser erwarten eine viel stärkere Konzentration auf das historische Detail. Nennen wir diese beiden verschiedenen Arten von Büchern einfach einmal lapidar "Tapetenroman" und "Bildungsbuch". Für ein "Tapetenbuch" mag es reichen, wenn erwähnt wird, dass zum Zeitpunkt der Romanhandlung seit X Jahren Krieg zwischen England und Frankreich herrscht. Vor diesem Bedrohungsszenario kann sich nun die eigentliche Handlung entfalten. Beim "Bildungsbuch" wird dieser Hintergrund viel stärker herausgearbeitet – wer kämpft warum wie lange mit welchem Verbündeten gegen wen. Für beide Arten von historischen Romanen gibt es eine breite Zielgruppe - und oft überlappen sich diese auch. 

Aventinus 

Wie kritisch sind Leser und Lektor/Verlag was die historische Genauigkeit betrifft? 

Timothy Sonderhüsken (Knaur Verlag) 

Generell werden im Lektorat alle historischen Fakten gewissenhaft geprüft. Hinzu kommt, dass jeder Lektor natürlich sehr genau darauf achtet, dass die Geschichte in sich stimmig ist und zur jeweiligen Zeit passt, ebenso wie die Sprache der Protagonisten. Um ein sehr vereinfachtes Beispiel zu nennen: Es wird natürlich darauf geachtet, dass eine Dienstmagd nicht einfach umgangssprachlich zum König sagt: „Nee, du, das finde ich jetzt aber mal nicht so toll.“ Aber auch, dass eine Dienstmagd in den seltensten Fällen überhaupt freien Zugang zum König hatte.Leser, die vor allen Dingen eine spannende oder romantische Geschichte lesen wollen, legen tendenziell etwas weniger Wert auf die detailgenaue Ausarbeitung eines historischen Zusammenhanges (heißt: alles, was im Buch steht, muss stimmen – aber es muss eben nicht alles über die jeweilige Zeit im Buch stehen) als die Leser, die einen Bildungsanspruch an das Buch stellen. Andererseits erinnere ich mich an einen wütenden Leserbrief, den ich vor einigen Jahren zu einem romantischen Liebesroman erhielt, bei dem Leidenschaft und Erotik deutlich im Vordergrund standen. Die Leserin beschwerte sich – zu Recht! – darüber, dass in einer Nebenbemerkung (ohne wirklichen Bezug zur Handlung) erwähnt wurde, dass Eleonore von Aquitanien vor zehn Jahren gestorben sei – der Roman aber, wie an anderer Stelle dargestellt wurde, 1210 spielte, also erst sechs Jahre nach dem Tod der bekannten Persönlichkeit.

Aventinus 

Wie gehen Sie als Lektor bei der Lektüre eines historischen Romans vor? Welches (Vor-)Wissen versuchen Sie sich anzueignen? 

Timothy Sonderhüsken (Knaur Verlag) 

Natürlich fällt es mir leichter, einen Krimi oder gefühlvollen Frauenroman zu beurteilen – bei diesen kann ich mich ganz auf die Konstruktion der Geschichte und die Zeichnung der Figuren konzentrieren. Was Geschichte angeht, bin ich Laie – weswegen ich bereits beim ersten Lesen viele im Manuskript genannte Fakten überprüfe. Das Internet ist dabei eine ebenso große Hilfe wie ein Lexikon. Natürlich kann ich mir so aber nur einen groben Überblick verschaffen. Die eigentliche Kontrolle des Inhalts erfolgt später gemeinsam mit dem Autor: Wo und wie hat er recherchiert? Und warum kam er zu welcher Schlussfolgerung, die in der vorliegenden Form eventuell neu ist? Es kann übrigens auch ein Vorteil sein, kein Geschichts-Ass zu sein, wenn man einen historischen Roman beurteilt. Der Autor ist in der Regel ein Profi, er kennt sich hervorragend aus – mag daher übersehen, dass er manche Punkte für den Laien einfacher darstellen, überschaubarer und nachvollziehbarer machen muss. 

Aventinus 

Was ist für Sie wichtiger: die Quelle oder die wissenschaftlich aufgearbeitete Interpretation? 

Tanja Kinkel 

Da ich, soweit ich über historische Charaktere statt erfundene Figuren schreibe, in der Regel zu kontroversen Persönlichkeiten neige, ist Sekundärliteratur sehr wichtig; nehmen Sie jemanden wie Kardinal Richelieu. Wenn ich „nur“ die zeitgenössischen Anti-Richelieu-Pamphlete oder unkritischen Lobeshymnen gelesen hätte, dann hätte ich mir kein konkretes Bild von dem Mann machen und „Die Schatten von La Rochelle“ nicht schreiben können, also waren Biographien, von Klassikern wie Burkhardt bis zu modernen Werken, die innerhalb des letzten Jahrzehnts erschienen sind, sehr wichtig. Trotzdem bin ich froh, dass ich zumindest einen Teil besagter Pamphlete oder theologischer Traktate selbst lesen, und nicht nur in Zitaten aufbereitet finden konnte; das half mir, mich in die Zeit einzufühlen. Bei meinem allerersten Roman, „Wahnsinn, der das Herz zerfrisst“, war die Lektüre der Briefe nicht nur Byrons, sondern auch Augustas und Annabellas sicher entscheidend für mein Verlangen, über alle drei zu schreiben und ihnen gerecht werden zu können. 

Ulrike Schweikert

Ich arbeite selten mit Quellen, da ich kein Latein kann, Handschriften nur sehr schwer zu lesen sind und es vermutlich Jahre bräuchte, bis ich das Material für einen Roman zusammengestellt hätte. Daher nehme ich Sekundärliteratur, sehe mir alle Orte selbst an und spreche mit den Menschen, die sich mit den speziellen Themen auskennen, an Instituten, Unis oder örtlichen historischen Vereinen. 

Aventinus 

Inwieweit besteht Ihre Geschichte schon, bevor Sie mit der Recherche beginnen? Recherchieren Sie gezielt? Womit beginnen Sie Ihre Recherche? 

Tanja Kinkel 

Das kommt darauf an, ob ich über eine bestimmte historische Figur schreibe, wie z.B. Eleonore von Aquitanien, oder eine erfundene Gestalt, wie Richard Artzt in den „Puppenspielern“. Bei einer „realen“ Persönlichkeit fange ich mit deren Biographien an, erst aktuellen, dann, soweit vorhanden, zeitgenössischen, und versuche, Primärmaterial zu finden, d.h. Briefe, Tagebücher, etc., was natürlich bei jemandem wie Byron viel leichter ist als bei jemandem wie Eleonore. 

Bei einer erfundenen Gestalt wie Richard beginne ich mit Gesamtüberblicken über die Epoche, soweit vorhanden, Biographien von Zeitgenossen, Analysen der Berufsstände, die für das Leben meiner erfundenen Figur wichtig sind, oder, habe ich bereits einen bestimmten Beruf im Sinn, natürlich gezielte Darstellungen dieses Gewerbes. 

In beiden Fällen versuche ich, Material zum Alltagsleben zu finden, also Essgewohnheiten, Kleidung, usw. 

Schreibe ich über eine historische Gestalt, so weiß ich zu Beginn der Recherche meistens noch nicht, ob ich über das gesamte Leben schreiben möchte – wie bei Eleonore – oder nur über einen oder mehrere Abschnitte, wie bei Richelieu. Bei einer erfundenen Figur dagegen weiß ich in der Regel zu Beginn schon, ob ich ein Leben oder nur einen Ausschnitt erzählen möchte. 

Aventinus 

Welche historische Institutionen sind für Sie bei der Recherche wichtig? Wie sind Ihre Erfahrungen mit diesen bezüglich z.B. Zusammenarbeit und Informationsgehalt? 

Tanja Kinkel 

Bibliotheken überall in der Welt, von der StaBi in München über die Feuchtwanger Memorial Library in Los Angeles bis hin zur British Library in London oder der National Library of Scotland. Ich habe hervorragende Erfahrungen mit ihnen gemacht, und bei meinem Gegenwartsroman waren die Dozenten in Harvard, an den New Yorker Universitäten und in Los Angeles besonders hilfreich. Sie standen auch für Nachfragen per Email ständig zur Verfügung. 

Ulrike Schweikert 

Ich gehe natürlich in die Landesbibliothek oder in Unibibliotheken, doch besonders wichtig sind die Archive vor Ort oder Institute, die sich mit Spezialthemen beschäftigen – beispielsweise das Institut für die Geschichte der Medizin in Stuttgart.Ich laufe stets offene Türen ein. Ich erfahre viel Hilfsbereitschaft und bin immer wieder erstaunt, wie bereitwillig mich die Leute unterstützen und mit mir nach den mir wichtigen Daten suchen.

Aventinus 

Wie schätzen sie das historische Bewusstsein in Deutschland ein? 

Ulrike Schweikert 

Ich vermute, dass die historischen Romane mehr zur Unterhaltung gelesen werden, weniger, um sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Ich denke, dass es gut wäre, wenn wir Autoren durch unsere Romane dazu beitragen würden, dass vor allem bei den jüngeren Lesern mehr historisches Bewusstsein entsteht. Nötig ist es auf alles Fälle. Wie gut uns das gelingt, weiß ich nicht. 

Aventinus 

In gegenwärtigen Schulreformen soll der Geschichtsunterricht immer stärker reduziert werden. Wo sehen die Chancen historischer Romane als Genre narrativer Geschichtsvermittlung dem entgegenzuwirken? 

Tanja Kinkel 

Viele Leser, die im Unterricht nichts oder wenig mit Geschichte anfangen konnten, entdecken über den historischen Roman, wie breit gefächert und vielschichtig jede einzelne Epoche sein kann, und entwickeln nicht nur Freude am Lernen, sondern auch Neugier – sie suchen dann mehr Material zum gleichen Thema. 

Ulrike Schweikert 

Diese Entscheidung bedaure ich. Es ist falsch, wenn man die deutsche Geschichte mit dem ersten oder gar dem zweiten Weltkrieg erst beginnen lässt und alles andere für nebensächlich hält. Dann kann man die Entwicklung nicht verstehen und reagiert viel eher mit Ablehnung und Verdrängung. Ich hoffe, dass wir mit unseren Romanen einen kleinen Ausgleich bieten können. Besser wäre aber ein fundierter Unterricht und dann als Ergänzung die historischen – gut recherchierten – Romane als unterhaltsame Beispiele. Schwierig ist es, wenn die Basis fehlt und man mit den Romanen nur Schlaglichter der Geschichte vermitteln kann. Wir können nur hoffe, dass wir das Interesse wecken und der ein oder andere Leser sich dann weiter mit der Geschichte beschäftigt. Deshalb füge ich auch immer als Anregung einen Auszug der von mir verwendeten Rechercheliteratur im Buch hinzu. 

Aventinus 

Darüber hinaus: Wie wichtig finden Sie es, dass Kinder/Jugendliche lesen? Wie lässt sich Neugier und Spaß am Lesen bei jungen Menschen (wieder) beleben? Wie wichtig waren Bücher und Lesen in Ihrer eigenen Kindheit/Jugend? 

Tanja Kinkel 

Um die letzte Frage zuerst zu beantworten: ungeheuer wichtig. Ich habe Weihnachten in der ersten Klasse mit dem Lesen angefangen, war begeistert und hörte nie wieder auf. 

Natürlich finde ich es wichtig, dass Kinder/Jugendliche lesen, und ich bin optimistischer als viele in dieser Beziehung. Einige der neuen Medien, wie das Internet, ermutigen zum Lesen, statt abzulenken – in Foren tauschen junge Leute Lektüretips aus, es gibt die Möglichkeit, seltene Bücher zu bestellen, oder im Fall von Klassikern sogar herunter zu laden – all das gibt potentiellen Lesern neuen Anstoß. Bei kleineren Kindern halte ich Vorlesen oder Erzählen durch die Eltern für eine sehr gute Methode, um sie auf Bücher neugierig zu machen und sie zum späteren Lesen zu inspirieren.

Ulrike Schweikert 

Ich finde es sehr wichtig! Je früher desto besser. Die Eltern müssen mit Vorlesen beginnen und so hoffentlich das Interesse wecken. 

Der erste Part liegt bei den Eltern: Bilderbücher mit den Kindern ansehen, Geschichten erzählen, vorlesen und so wenig wie möglich Fernsehen und Computerspiele machen. Das kommt später leider von ganz alleine. Dann später auch Bücher schenken, mit den Kindern in die Bücherei gehen. Das nützt aber alles nichts, wenn das Vorbild fehlt, und die Eltern selbst Büchern nichts abgewinnen können. Und das geht dann in den Schulen weiter. Der Deutschstoff müsste entstaubt werden, und zumindest teilweise Bücher besprochen, die den heutigen Jugendlichen näher liegen und spannender sind als die alten Klassiker. Erst wenn der Spaß am Lesen geweckt ist, kann man auch solch schwere Kost verdauen ohne verschreckt zu werden. 

Das Lesen war für mich immer schon sehr wichtig. Ich lag ganze Wochenenden im Bett und habe ohne Unterbrechung gelesen. Meine Mutter hat früher jeden Abend vorgelesen und später habe ich mein Taschengeld fast nur in Bücher umgesetzt. Ich war das, was man eine Leseratte nennt. 

Aventinus 

Die wirtschaftliche Verwertbarkeit naturwissenschaftlicher Forschung macht die Geisteswissenschaften heutzutage scheinbar obsolet. Wo sehen Sie den Standpunkt der Geisteswissenschaftler, vor allem der Historiker, heute und in der nahen Zukunft? 

Tanja Kinkel 

Plato hielt schon vor über zweitausend Jahren Dichter in seinem idealen Staat für überflüssig. Wir sind immer noch da. Ähnlich wird es den Geisteswissenschaftlern in der Zukunft ergehen. Trotz aller Budget-Kürzungen und Rationalisierungen – die Erforschung der Geschichte und Diskussion über sie wird sich nie verdrängen lassen. 

Aventinus 

Welche beruflichen Möglichkeiten gibt es für Geisteswissenschaftler im Verlagswesen? 

Timothy Sonderhüsken (Knaur Verlag) 

Ein Studium hat noch keinem Menschen geschadet – und für den Einstieg ins Lektorat ist es in der Regel zwingende Voraussetzung. Dieser Einstieg erfolgt meist über ein Volontariat. Aber auch sämtliche andere Abteilungen des Verlags stehen demjenigen offen, der über sein Studium hinaus Teamgeist, Begeisterungsfähigkeit, eine sehr hohe Belastbarkeit und Freude an neuen Aufgaben entwickelt hat … und nicht damit überfordert ist, neben anspruchsvollen Tätigkeiten auch den normalen Büroalltag zwischen Kopierer, Ablage, halbjährlicher Routine und so weiter zu bewältigen. 

Aventinus

Welche Wege geht ein Skriptum bis zur Veröffentlichung, nachdem Sie es als Lektor erhalten haben? 

Timothy Sonderhüsken (Knaur Verlag) 

Jeder Verlag ist anders strukturiert. Im Knaur Verlag wird das Manuskript zunächst vom Lektor gelesen. Gefällt es ihm, schreibt er ein Gutachten, das im Rahmen der wöchentlich stattfindenden Lektoratskonferenz mit den Kollegen und der Verlagsleitung diskutiert wird. In der Regel wird noch ein anderer Lektor den Text zur Probe lesen. Ist eine Entscheidung zugunsten des Projektes gefällt worden, wird das Manuskript redigiert – entweder vom Lektor selbst oder von einem freien Mitarbeiter. Die Redaktion erfolgt natürlich stets in enger Zusammenarbeit mit dem Autor. Auch hier gibt es keine bindende Regelung, wie die Redaktion zu erfolgen hat. Ich selbst arbeite den Text erst einmal komplett durch und notiere mir, wo der Autor erneut ansetzen muss – sei es, um die Geschichte auszuweiten, zu straffen oder zu ändern. Diese Vorschläge diskutiere ich mit dem Autor. Die von ihm überarbeitete Fassung lese ich ein weiteres Mal, und oft ist es so, dass dann neue Vorschläge gemacht werden müssen. Dieser Arbeitsgang wiederholt sich so oft, bis eine Manuskriptfassung vorliegt, die inhaltlich sowohl den Autor als auch den Lektor überzeugt. Danach erfolgt die eigentliche (stilistische) Redaktion. Hat der Autor die redigierte Fassung akzeptiert, verlässt das Manuskript das Lektorat und die Herstellung beginnt mit ihrer Arbeit. Je nachdem, um was für ein Buch es sich handelt – einen Spitzentitel beispielsweise, eine viel versprechende neue Autorin – lesen parallel auch andere Abteilungen des Hauses: Marketing, Werbung, Vertrieb. Und spätestens kurz vor oder kurz nach der Vertreterkonferenz, bei der wir dem Außendienst unser neues Programm vorstellen, auch die Vertreter. 

Aventinus 

Welche Voraussetzungen muss Ihrer Meinung nach ein Autor mitbringen, um einen erfolgreichen historischen Roman zu verfassen? 

Ulrike Schweikert 

Disziplin! Natürlich braucht man auch das Talent spannend schreiben zu können, Ideen zu spinnen und Charaktere lebendig werden zu lassen, aber ohne die Disziplin, sich jeden Tag konsequent hinzusetzen und sein Pensum zu schaffen – erst in der Recherche und dann beim Schreiben und Korrigieren, wird aus der Idee kein (meist recht dicker) Roman. 

Timothy Sonderhüsken (Knaur Verlag) 

Jeder Autor, egal in welchem Genre er sich bewegt, muss für seine Geschichte „brennen“, begeistert von ihr sein und den intensiven Wunsch verspüren, sie zu erzählen. Hinzu kommt, wiederum unabhängig, um welches Genre es geht, ein Gespür und Talent für die Konstruktion der Geschichte, für Charakterzeichnung, den richtigen Ton, die richtige Sprache der Figuren. 

Bei historischen Romanen kommt hinzu, dass sich der Autor sehr gut in der Zeit, über die er schreiben will, auskennen muss – so wie beispielsweise ein Krimiautor eine Menge von Polizeiarbeit verstehen sollte, um wirklich gut zu sein. Und er muss noch stärker als der Autor eines zeitgenössischen Romans in der Lage sein, Atmosphären einzufangen. Wir alle haben eine ungefähre Vorstellung davon, wie es in einer Disco, einer Amtsstube, einer Gefängniszelle aussieht, riecht, ob es warm oder kalt ist und so weiter. Aber wie roch es im Schlafzimmer eines Medici, wie groß war die Kammer einer Magd – und was bedeutete es in einer Zeit, in der es weder Rührgerät noch Herd und Kühlschrank gab, einen Pudding zu kochen? Dies alles in den historischen Roman einfließen zu lassen, ohne eine dröge Faktensammlung oder ein Sachbuch zu schreiben, ist eine echte Kunst.

Aventinus 

Welche Charakterzüge muss eine historische Person mitbringen, um für einen historischen Roman interessant zu sein? Wie wählen Sie diese Figuren aus? 

Tanja Kinkel 

Es gibt kein allgemeines Rezept. Ich habe Romane gelesen, die sich Personen vornahmen, deren Leben an sich hätte spannend sein müssen, doch es fertig brachten, besagtes Leben auf langweilige Weise zu erzählen, und Romane, die sich Personen vornahmen, von denen wenig mehr als ein Lexikoneintrag bekannt ist, und sie ungeheuer lebendig machten. Ich selbst neige zu kontroversen Personen, doch nicht ausschließlich, und ich versuche auch, mich nicht zu wiederholen. Die Heldin meines ersten Romans, Byrons Schwester Augusta, hat mit der meines zweiten Romans, Eleonore von Aquitanien, gemein, dass sie verheiratet waren und mehrere Kinder in die Welt setzten. Ansonsten hätten sie unterschiedlicher nicht sein können, nicht nur von ihrem Status und Hintergrund, sondern auch von ihrer Persönlichkeit. Augusta war alles andere als eine Rebellin, zu gutmütig für ihr eigenes Wohl, und hat in ihrem Leben nie etwas historisch Bedeutendes getan – und dennoch ist sie immer noch eine meiner liebsten Persönlichkeiten. 

Ulrike Schweikert 

Ich schreibe nicht über historische Persönlichkeiten. Ich schreibe über Zeitphänomene oder Orte, über die Hexenverfolgung, das Leben der Frauen auf einer mittelalterlichen Burg, den Bauernkrieg, Ritterorden oder Pilger im Mittelalter nach Santiago. Meine Hauptfiguren, die durch das Thema und den Roman führen, sind erfunden. Mich reizt es bisher nicht, mich den großen historischen Persönlichkeiten anzunehmen. 

Aventinus 

Welcher historischen Figur, aus Ihren Romanen fühlen Sie sich besonders verbunden? 

Tanja Kinkel 

Ich hänge an allen, natürlich in unterschiedlichen Graden. Vielleicht Marie D’Aguillon, Richelieus Nichte aus den „Schatten von La Rochelle“. 

Ulrike Schweikert 

Ich finde Anna Büschler beeindruckend. Eine Frau aus dem 16. Jahrhundert, die als ledige junge Frau zwei Liebhaber hatte, sich gegen ihren beherrschenden Vater auch vor Gericht gewehrt und um ihre Rechte gekämpft hat. Leider war ihr Erfolg nicht sehr groß, sie wurde vom Vater gefangen gehalten und monatelang an einen Tisch gekettet – was die anderen Ratsherren der Stadt sehr wohl wussten. Sie kämpfte bis zu ihrem Lebensende und starb arm und verbittert. 

Aventinus 

Wie sehen Ihre nächsten Projekte aus? Werden Sie bei den historischen Romanen bleiben?

Tanja Kinkel 

Ich werde immer wieder zu ihnen zurückkehren, mit gelegentlichen Ausflügen in die Gegenwart wie „Götterdämmerung“ oder in die Fantasy wie „Der König der Narren“ zwischendurch. An meinem nächsten Projekt arbeite ich gerade, bin jedoch abergläubisch und möchte daher nichts darüber verraten. 

Ulrike Schweikert 

Ich werde weiterhin alle zwei bis drei Jahre einen historischen Roman schreiben. Daneben werde ich verstärkt auch Jugendromane schreiben – historische und Fantasy. Und vielleicht den ein oder anderen Krimi. 

Aventinus 

Würden Sie im Nachhinein gerne Geschichte studiert haben? 

Tanja Kinkel 

Nein. Jeder Mensch braucht einen von keinerlei Pflichtgefühlen belasteten Bereich, dem nur seine Leidenschaft gilt. 

Ulrike Schweikert 

Manches Mal denke ich schon, dass es mir Vorteile bringen würde. Vor allem, dass ich kein Latein gelernt habe, bedauere ich oft. Anderseits muss man für jeden historischen Roman recherchieren und sich die lokalen Details dieser Zeit zusammensuchen. Viel wichtiger für diese Arbeit ist, dass man gelernt hat wissenschaftlich zu arbeiten, und das habe ich während meines Geologiestudiums auch. 

Aventinus bedankt sich recht herzlich bei Tanja Kinkel, Ulrike Schweikert und Thimothy Sonderhüsken für die Zusammenarbeit und den Einblick in die Entstehung von historischen Romanen. 

Infos 

Weiterführende Informationen, wie auch Bibliographien können auf folgenden Internetseiten eingeholt werden. 

http://www.tanja-kinkel.de

http://www.ulrike-schweikert.de

http://www.droemer-knaur.de

Empfohlene Zitierweise

Zarka, Attila: Geschichte als Geschichte. aventinus varia Nr. 12 (Winter 2006), in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7566/

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Erstellt: 15.05.2010

Zuletzt geändert: 25.05.2010

ISSN 2194-1971