Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert (1990ff.)

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aventinus nova Nr. 46 [28.12.2013] 

 

Matthias Golbeck 

Это несправедливо Das ist nicht gerecht

Überlegungen zu Entschädigung und Würdigung jüdischer Veteranen der Roten Armee in Deutschland

 

1. Einleitung 

Советские солдаты освободили все концентрационные лагеря и гетто на территории Польши, Прибалтики и Украины. Они спасли всех оставшихся в живых узников. В этих боях десятки тысяч солдат были убиты и ранены. Оказавшись в Германии, узники получают 290в месяц, кроме социального пособия, а их освободителиничего. Жители блокадного Ленинграда получили единовременное пособие 3600, а их освободителиничего. (Иосиф БАК, ветеран войны). (Bak 2010)

Sowjetische Soldaten haben alle Konzentrationslager und Ghettos auf polnischem, baltischem und ukrainischem Staatsgebiet befreit. Sie retteten alle der bis dahin noch lebenden Gefangenen. In diesen Schlachten starben Zehntausende. Zurückgekehrt nach Deutschland erhalten die ehemaligen Gefangenen 290 Euro im Monat und weitere Sozialleistungen aber ihre Befreier erhalten nichts. Überlebende der Leningrader Blockade erhielten einmalig eine Zuwendung von 3600 Euro aber ihre Befreier erhielten nichts (Iosif Bak, Kriegsveteran). (Bak 2010) [1]

Welche Rolle die Veteranen desGroßen Vaterländischen Kriegesin der Erinnerungskultur des heutigen Russlands spielen und welches Ansehen sie in dessen Öffentlichkeit genießen, lässt sich gut an den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Sieg der Roten Armee in der Schlacht von Stalingrad ablesen, welche am 2. Februar 2013 begangen worden sind. Zum einen gehören sie als fester Bestandteil von Kranzniederlegungen, militärischen Paraden und politischen Gedenkreden zum öffentlichen Bild der Gedenkpraxis. Ihnen wird als Helden der Befreiung vom faschistischen Terror öffentlich für ihren Einsatz gedankt. Zum anderen besitzen ihre Interessenvertretungen aber auch politischen Einfluss, wie sich an der Durchsetzung der temporären Namensänderung der Stadt Wolgograd in Stalingrad für den Gedenktag in diesem Jahr ablesen lässt. (Vgl. MDR Aktuell 2013; Stark 2013; Windisch 2013)

Wie anders es sich dagegen mit der Position von Veteranen hinsichtlich des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg oder die Shoah in Deutschland verhält, illustriert stellvertretend die Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages in Erinnerung an die Befreiung des NS-Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Während der alljährlichen Zeremonie am 27. Januar im Berliner Reichstag erinnern nicht Angehörige der siegreichen alliierten Armeen, sondern Vertreter der jüdischen Opfergruppe an das Leid während des Nationalsozialismus. Geradezu befremdlich erscheint der Gedanke, dass an Stelle von Inge Deutschkron, die in diesem Jahr vor dem Bundesparlament sprach, ein ehemaliger Soldat des Zweiten Weltkrieges eine Rede gehalten hätte; beispielsweise ein jüdischer Veteran der Roten Armee wie Iosif Bak, von dem das eingangs wiedergegebene Zitat stammt. (Vgl. Deutscher Bundestag 2013; Bak 2010)

Völlig abwegig ist diese Überlegung dennoch nicht. Waren es doch Einheiten eben jener Roten Armee, die Auschwitz und weitere Konzentrations- und Vernichtungslager 1945 befreit haben, wie Bak (2010) richtig hervorgehoben hat. Im Zuge des sogenanntenKontingentflüchtlingsgesetzessind jüdische Veteranen ab Frühjahr 1991 in die Bundesrepublik immigriert [2]. Doch wurden sie weder für ihren Kriegseinsatz entschädigt, wie Bak (2010) aufgezeigt hat, noch spielen sie in der deutschen Gedenkkultur an den Zweiten Weltkrieg eine bedeutende Rolle. Während das für deutsche Weltkriegsteilnehmer mit Hinblick auf die Rolle der Wehrmacht imdeutschen Vernichtungskrieg im Ostenoder die Shoah nachvollziehbar erscheint, trifft das auf Iosif Bak und seine ehemaligen Kameraden auf den ersten Blick nicht zu.

Daher widmet sich der nachfolgende Essay zum einen der Diskussion der von Bak (2010) indirekt geäußerten Forderung nach einem materiellen Ausgleich für den geleisteten Kriegsdienst, der nicht selten mit einem Verlust an physischer und psychischer Gesundheit einher gegangen ist. [3] Zum anderen soll die Forderung auf eine immaterielle Ebene übertragen werden und ausgehend vom skizzierten status quo im Bereich der Gedenkkultur das Thema der öffentlichen Anerkennung der Leistungen der jüdischen Veteranen erörtert werden. Hierzu scheint es zuerst nötig, sich einführend mit der Gruppe der jüdischen Veteranen als Kontingentflüchtlinge zu befassen. Daraufhin folgen einige Überlegungen zur Rolle der Veteranen im Bezug auf die deutsche Wiedergutmachungspolitik. Daran schließt sich eine Diskussion der von Bak (2010) formulierten Argumentation an.

2. Jüdische Veteranen als Kontingentflüchtlinge 

Wenngleich Veteranen der Roten Armee theoretisch auch als deutsche Spätaussiedler oder aus der DDR nach dem Zerfall der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung in die Bundesrepublik gekommen sein könnten, so legt die Veröffentlichung von Baks (2010) Artikel in derEvrejskaja Gaseta(Jüdische Zeitung) [4] einer russischsprachigen Monatszeitung für ein jüdisches Publikum nahe, dass der Autor der Gruppe der sogenannten Kontingentflüchtlinge zuzurechnen ist. [5] Auf Grundlage eines gleichlautenden Gesetzes aus dem Jahre 1980, das zur Regelung des Einreiseverfahrens Anwendung fand, förderte der deutsche Staat ab 1991 die Immigration von jüdischen Bürgern der Sowjetunion beziehungsweise ihrer Nachfolgestaaten. Die Motive, sowohl die der deutschen Bundespolitik die Grenzen zu öffnen, als auch die der Immigrantenin dem Land ihre neue Heimat zu finden, von dem unter nationalsozialistischer Gewaltherrschaft der Holocaust ausgegangen ist(Kohl 2010: 7), sind vielfältig gewesen. Einerseits ging es den Politikern im Bewusstsein einer historischen Verantwortung der BRD um die Revitalisierung jüdischen Lebens in Deutschland, was durchaus auch von den jüdischen Gemeinden gewünscht gewesen ist. Andererseits existierten in der UdSSR, neben einem latenten Antisemitismus, Ende der 1980er Jahre auch Pogromgerüchte, die viele zur Ausreise veranlassten. (Vgl. Kohl 2010: 7; Gabowitsch 2010: 42f.; Weiss/ Gorelik 2012: 378-383, 385-390)

Die ausreisewilligen Juden mussten anhand von Personenstandsurkunden ihre jüdischen Vorfahren nachweisen, was bedeutete, dass mindestens ein Elternteil jüdischer Abstammung sein musste. Hierbei war dem deutschen Staat unwichtig, anders als es die Halakhah vorschreibt, welches Elternteil jüdischen Ursprungs gewesen ist. Bei positivem Bescheid durften die Ehegatten unabhängig von deren Abstammung sowie die minderjährigen oder unverheirateten Kinder mit immigrieren, welche noch mit den Eltern zusammenlebten. (Vgl. Weiss/ Gorelik 2012: 394f.; Fleyer 2010: 76f.)

Diese Einwanderer trafen in Deutschland auf circa 30.000 jüdische Gemeindemitglieder, welche sich aus deutschen Holocaustüberlebenden, mittelosteuropäischen Flüchtlingen oder auch jüdischen Remigranten der Nachkriegsjahre zusammensetzten. Über die genau Zahl der jüdischen Zuwanderer zwischen 1990 und 2010 herrscht Uneinigkeit. Die Angaben schwanken laut Weiss/ Gorelik (2012) zwischen 170.000 und 300.000. [6] Die Abweichung entsteht, weil die staatliche Statistik alle aufgrund des Gesetzes zugewanderten Personen, die jüdischen Gemeinden aber nur die nach dem Religionsgesetz als Juden geltenden Zuwanderer zählen. Laut Weiss/ Gorelik (2012) kamen von rund 104.000 Gemeindemitgliedern 2010 rund 80% aus der Gruppe der Zuwanderer. [7] Innerhalb dieser Gruppe schwankt die Zahl der Veteranen zwischen 500 und 700 Personen. (Vgl. Diner 2010: 20; Schoeps 2005: 122; Weiss/ Gorelik 2012: 397-398; Harnadt 2008)

Die jüdischen Gemeinden in Deutschland wurden durch die verhältnismäßig starke Zuwanderung auf vielfache Weise vor große Herausforderungen gestellt. Ihre Anfang der 1990er Jahre stark überalterte Mitgliederschaft musste von erster Hilfe in alltäglichen Fragen, über Starthilfe in Kindergarten und Schule oder auf dem Arbeitsmarkt, bis hin zu Alten- und Krankenpflege eine große Bandbreite von Leistungen für die Neuankömmlinge erbringen. Dabei waren die fehlenden Sprachfähigkeiten auf beiden Seiten das eine und der Mangel an Kenntnissen über den jeweils anderen kulturellen Hintergrund das andere Hindernis. Hinzu kamen das häufige Fehlen von religiösem Wissen sowie Interesse an der jüdischen Religion bei den Zuwanderern. (Vgl. Belkin 2010: 27; Schoeps 2005: 126f.; Weiss/ Gorelik 2012: 404-406)

Die für den hier behandelten Zusammenhang wichtigste Konfliktlinie betrifft die stark divergierende Erinnerungskultur und damit verbunden auch die Frage nach der eigenen Identität. So definieren sich die alteingesessenen Gemeindemitglieder mehr religiös und über das gemeinsame Erfahrungsspektrum der Shoah, in welchem die eigene Opferrolle fest verankert ist. Symbolisch steht dafür ihr Erinnern an die Reichskristallnacht am 9. November. Der sowjetischen Sozialisierung der Zuwanderer entsprechend, ist ihr Selbstverständnis mehr ethnisch und häufig säkular geprägt. Nicht selten haben sie die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg als Soldaten erlebt. Stellvertretend für ihren Kampf steht ihr Erinnern am 9. Mai an das Kriegsende und die von ihnen miterkämpfte Befreiung Europas vom Faschismus. Damit stehen sich in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland seit 1991 mit dem Opfer- und dem Heldennarrativ zwei entgegengesetzte Erinnerungsmuster gegenüber. (Vgl. Belkin 2010: 26f.; Weiss/ Gorelik 2012: 411; Diner 2010: 19f.)

Diese und andere Gegensätze haben sich auch institutionell manifestiert, was man beispielsweise am vitalen russischsprachigen Vereinsleben der Berliner Gemeinde imTreffpunkt Hatikwaersehen kann, zu dem beispielsweise auch ein Veteranenchor gehört. Bundesweit haben sich jüdische Veteranen, gemeinsam mit Ghetto- und KZ-Gefangenen sowie Überlebenden der Leningrader Blockade, in einem eigenen Verband zusammengeschlossen. (Vgl. Kessler 2006: 48; Zentralrat der Juden in Deutschland 2012)

3. Veteranen und die Wiedergutmachung

Der hier eingangs zitierte Iosif Bak (2010) konstatiert als Vertreter dieser Veteranen innerhalb der Gruppe der Kontingentflüchtlinge, dass beispielsweise die ehemaligen KZ-Gefangenen eine Rente sowie weitere Sozialleistungen bekommen oder die Überlebenden der Leningrader Blockade eine einmalige Zuwendung erhalten haben. Bak (2010) beanstandet daraufhin, dass die Kriegsveteranen dagegen keinerlei staatliche Unterstützung erhalten würden. Diese in der Sache richtige Feststellung verdeutlicht einen Grundgedanken der bundesdeutschenWiedergutmachungspolitik [8], der sich an der entsprechenden Gesetzgebung zeigt, die hier nicht in Gänze dargelegt werden kann. [9] Im Kern geht es um eine materielle Entschädigung der Opfer von Nationalsozialismus und Krieg.

Eines der zentralen Gesetze, welches den Zusammenhang hier beispielhaft verdeutlichen soll, ist das 1965 novellierte Bundesentschädigungsgesetz. Nach seiner letzten, erweiterten Form werden unter anderem Schäden an Leben, Körper, Gesundheit oder auch hinsichtlich Ausbildung, Beruf oder Freiheit individuell und unmittelbar entschädigt. Ebenso werden aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verfolgte Personen entschädigt. Das vielfach kritisierte und daraufhin erweitertesubjektiv-persönliche Territorialprinzip, dass den Kreis der Anspruchsberechtigten einschränkt, ändert jedoch nichts am formulierten Grundgedanken der zu entschädigenden Opfergruppen. (Vgl. Brodesser 2000: 82-95, 98-103; 104-108) Eine materielle Entschädigung der Soldaten auch nicht der jüdischen für ihren Einsatz bei der Beendigung des nationalsozialistischen Terrors in Europa, war in dieser Gesetzgebung dagegen nicht vorgesehen.

Begründen lässt sich das sicherlich mit den finanziellen Belastungen für die junge Bundesrepublik, die sich bereits aus der Entschädigung der Opfergruppen ergeben hat.Eine uneingeschränkte Entschädigung für alle durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verursachten Schäden hätte angesichts ihres gewaltigen Ausmaßes die finanzielle Leistungskraft der Bundesrepublik Deutschland unter Berücksichtung sonstiger unabweisbarer stattlicher Aufgaben und Verpflichtungen bei weitem überstiegen.(Brodesser 2000: 104) Denkt man nun die finanziellen Folgen der Bakschen Forderung hinzu, erscheint deren Nichtberücksichtigung nachvollziehbar. Eine materielle Zuwendung gleich welcher Höhe, hätte nämlich nicht nur den sowjetischen Soldaten zugestanden sondern aus Gründen der Gerechtigkeit jedem Soldaten, der auf Seiten der Alliierten gekämpft hat. Offen bliebe hier noch die Frage, wie in diesem Zusammenhang mit den unzähligen Angehörigen der verschiedenen Widerstandsgruppen zu verfahren wäre, denn diese haben auch an der Befreiung von den Nationalsozialisten mitgewirkt.

Die Sorge der Westmächte vor einer wirtschaftlichen und finanziellen Überlastung der jungen Bundesrepublik spiegelt sich auch in den internationalen Schulden- und Reparationsabkommen der Nachkriegszeit wieder, für die dasLondoner Schuldenabkommenvon 1953 hier beispielhaft stehen soll, dessen Abschluss sich in diesen Tagen zum fünfzigsten Mal gejährt hat. Bezeichnend ist, dass die Alliierten der Bundesrepublik fast die Hälfte ihrer Forderungen erließen, niedrigen Zinssätzen und langen Rückzahlungsfristen zustimmten. Wichtig war auch, dass die Schulden aus den Export einnamen zurückgezahlt werden konnten und keine Währungsreserven angetastet werden mussten. Ein Ziel der Alliierten war sicherlich, durch diese Entlastungspolitik eine stabile Bundesrepublik und somit einen Verbündeten im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion aufzubauen. (Vgl. Brodesser 2000: 22-28; Dohmen 2013)

Es zeigt sich, dass in diesem Spannungsfeld aus den wirtschaftlichen Bedingungen der Nachkriegsjahre, den geostrategischen Interessen der Westmächte sowie denen der Bundesrepublik kein Spielraum für etwaige Forderungen von Kriegsveteranen gewesen ist. Eine Entschädigung als jüdische Opfer des Dritten Reiches, wie sie aus den beschriebenen Gegebenheiten für Iosif Bak (2010) vielleicht möglich gewesen wäre, lehnt dieser aber indirekt ab, indem er auf seiner Rolle als Befreier vom Faschismus insistiert. Die Entschädigung als Opfer ist gerade nicht die Form der Anerkennung des Befreier-Status, wie er sie aus der Sowjetunion und dem heutigen Russland gewohnt gewesen ist.

An dieser Stelle soll das gedankliche Experiment vollzogen und eine ideale wirtschaftliche Situation Deutschlands in der Gegenwart angenommen werden, die eine materielle Entschädigung aller an der Befreiung Europas beteiligter Weltkriegsveteranen ermöglichen würden so auch die der jüdischen Veteranen in Deutschland. Stellt man bei dieser Ausgangslage die Frage nach der politischen Umsetzung einer materiellen Entschädigung auf Grundlage der von Bak (2010) genannten Argumente, so lassen sich aus einer weiteren, als nur der wirtschaftlichen Perspektive, Zweifel an der Durchsetzung dieser Forderung aufzeigen.

4. Ein Gedankenexperiment

Aus Sicht der deutschen Öffentlichkeit, die eine solche politische Entscheidung mittragen müsste, lassen sich verschiedene Argumente anführen, die alle das Ziel haben, das von Bak (2010) verwendete positive Helden-Narrativ desguten Rotarmisten, der Europa vom Faschismus befreit hat, zu entkräften und einen darauf gestützten Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung für die erbrachte Leistung abzuweisen. Die folgenden drei Beispiele sind wissenschaftlich umfassend untersucht und durch ihre vielfache mediale Aufarbeitung öffentlich gut bekannt, so dass ihre Verwendung in der anzunehmenden politischen Debatte plausibel erscheinen muss.

Zum einen eignet sich das Massaker von Katyń als Argument gegen Baks (2010) positive Interpretation und als Beleg für die Grausamkeit des sowjetischen Regimes, das keineswegs nur die Befreiung Europas im Blick gehabt habe. Nach Besetzung der ostpolnischen Gebiete durch die Sowjetunion, die im Hitler-Stalin-Pakt noch mit dem Deutschen Reich abgestimmt gewesen ist, erfolgten von April bis Mai 1940 Massenexekutionen an den polnischen Eliten, denen rund 25.000 Offiziere, Lehrer oder Polizisten zum Opfer gefallen sind. Das Geschehen stand im Zusammenhang mit der geplanten Sowjetisierung der besetzten Gebiete und wurde ideologisch mit dem Kampf gegen den Klassenfeind begründet. (Vgl. Puttkamer 2010: 96f.)

Zum anderen lässt sich Stalins strategisches Verhalten im Sommer 1944 während des Warschauer Aufstandes anführen. Hierbei geht es um die unterlassene beziehungsweise verhinderte Unterstützung der polnischenArmja Krajowa(Heimatarmee) in ihrem Aufstand gegen die abrückende Wehrmacht. Stalin hatte den Vormarsch der Roten Armee nach Westen bewusst vor Warschau gestoppt und ebenso bewusst den Transfer alliierter Hilfstransporte für den Aufstand in Warschau abgelehnt, um diesen durch die Wehrmacht ausschalten zu lassen. Ein sich mit sowjetischer Hilfe selbst befreiender polnischer Widerstand hätte ihm so diese Argumentation weiter bei der politischen Neuordnung Europas nach Kriegsende nur Schwierigkeiten bei der Umsetzung seiner eigenen Pläne bezüglich der polnischen Gebiete gemacht. Die rund 250.000 toten Polen belegen die Grausamkeit sowie die gänzlich unheldenhafte Strategie der sowjetischen Führung. (Vgl. Borodziej 2001: 126-139; Wünsch 2009: 321)

Schließlich lassen sich gegen Baks (2010) Darstellung die Gewalttaten der Roten Armee während und nach Kriegsende in Mittelosteuropa sowie auf dem Gebiet des Deutschen Reiches vorbringen. Dieser Einwand bezieht sich beispielsweise auf die vielfach belegten Vergewaltigungen der weiblichen Zivilbevölkerung durch Angehörige der Roten Armee. In diesen Zusammenhang gehören aber auch belegte Plünderungen und willkürliche Erschießungen, die sowohl die Zivilbevölkerung, als auch gefangengenommene Wehrmachtsangehörige betroffen haben. (Vgl. Spurný 2011: 55-60) Durch die umfassende mediale Aufbereitung dieser Thematik in Form von TV-Dokumentationen, unter vielfacher Verwendung von Zeitzeugenberichten, sind diese Geschehnisse einer breiten Öffentlichkeit bekannt. [10]

Alle drei Beispiele eignen sich gut für die Entkräftung von Baks (2010) Helden-Narrativ, da sie ebenso wie seine Darstellung auf historiographisch mittlerweile gut dokumentieren Tatsachen beruhen. Im politischen Aushandlungsprozess, der einer Entschädigung der Veteranen vorausgehen würde, ließen sie sich vor allem deshalb gut instrumentalisieren, weil sie der deutschen Öffentlichkeit bereits vielfach medial vermittelt worden sind. Die Durchsetzung der Entschädigung auf Grundlage der Bakschen Argumentation scheint damit auch 67 Jahre nach Kriegsende unter idealen ökonomischen Bedingungen sehr unwahrscheinlich.

Es würden sich in einer öffentlichen Diskussion mit hoher Wahrscheinlichkeit zumal Stimmen zu Wort melden, die zumindest an der Haltung der jüdischen Veteranen in Deutschland kritisieren würden, dass diese bereits als Kontingentflüchtlinge umfassende Sozialleistung erhielten. [11] Dass dieser Vorwurf nur die materielle Seite von Baks (2010) Forderung betrifft und die dahinter stehende Frage nach Anerkennung der eigenen Lebensleistungen im Sinne des Helden-Narrativs vernachlässigt, ginge dabei sicher unter.

5. Für ein integratives und pluralistisches Gedenken 

Aber gerade auf dieser immateriellen Ebene von Baks (2010) Anliegen kann ein Schlüssel zu einer politischen Antwort auf die Forderung der Veteranen liegen. In den zurückliegenden Jahren hat es ihre Interessenvertretung bereits vermocht, in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland erfolgreich für ein Umdenken hinsichtlich der beiden konkurrierenden Erinnerungskulturen zu werben. Wenngleich auf Gemeindeebene sicherlich noch immer unversöhnliche Positionen existieren mögen, zeigt die Teilnahme des Präsidenten des Zentralrats Dieter Graumann auf der Jahrestagung des Veteranenverbandes die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Graumann sagte am 19. Dezember 2012Sie haben unsere Perspektive ganz gehörig verändert. [] Von Ihnen haben wir überhaupt erst gelernt, den 9. Mai zu feiern. [](zitiert nach: Zentralrat der Juden in Deutschland (2012)) Graumann betonte im Verlauf seiner Rede klar das Verbindende zwischen Opfern und Befreiern. Eine Vergleichbare Entwicklung schilderte auch Wissgott-Moneta (2010) für die Gemeinde in Frankfurt. Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 2005 hat der Gemeindevorstand die Veteranen feierlich geehrt und ihnen für ihren Einsatz offiziell gedankt. Ebenso nahmen die Zuwanderer in der Frankfurter Gemeinde an den Veranstaltungen anlässlich des 9. Novembers, dem Gedenktag der Opfer ihrer Kinder und Enkelkinder teil. (Vgl. Wissgott-Moneta 2010: 100-101)

Wenn also ein gleichberechtigtes und von gegenseitigem Respekt und Anerkennung geprägtes Miteinander der verschiedenen Erinnerungsträger heute auf Gemeindeebene möglich ist, stellt sich die Frage, warum dies nicht auch in der offiziellen deutschen Gedenkpraxis der Fall sein sollte, wie sie in der eingangs erwähnten Zeremonie im Deutschen Bundestag zum Ausdruck kommt. Ohne die hier geschilderten historisch fundierten Gegenargumente zu ignorieren, könnte ein reflektierter und durch die offiziellen politischen Amtsträger der Bundesrepublik begleiteter Pluralisierungsprozess der Erinnerungskultur eingeleitet werden. Damit ist keinesfalls ein kurzfristiger und oberflächlicher Wandel auf der repräsentativen Ebene gemeint. Dieser politische Prozess würde vielmehr Veränderungen vom Schulunterricht bis hin zu den offiziellen Gedenkfeiern forcieren und zöge zwei wünschenswerte Effekte nach sich: Zum einen würde der Forderung der jüdischen Veteranen nach öffentlicher Anerkennung Rechnung getragen sowie ihre Integration in die deutsche Gesellschaft befördert. Zum anderen könnte eine kritische Auseinandersetzung mit oftmals zu einseitigen Perspektiven auf die komplexen historischen Zusammenhänge zu einem reflektierten historischen Bewusstsein in der deutschen Öffentlichkeit führen.

6. Literatur 

Bak, Iosif (2010): Это несправедливо In: Evrejskaja Gazeta 05/93. <http://www.evreyskaya.de/archive/artikel_1271.html> (03.02.2013/ 21:00).

Belkin, Dmitrij (2010): Mögliche Heimat: Deutsches Judentum zwei. In: Belkin, Dimitrij/ Groß, Raphael (Hrsg.): Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung. 25-29.

Borodziej, Wlodzimierz (2001): Der Aufstand in Warschau. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag.

Brodesser, Hermann-Josef (u. a.) (2000): Wiedergutmachung und Kriegsfolgenliquidation. Geschichte, Regelungen, Zahlungen. München: C.H.Beck.

Deutscher Bundestag (2013):Tragt ihn mit Stolz, den gelben Stern. 31.01.2013 <http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2013/42606255_kw05_gedenkstunde/index.jsp> (03.02.2013/ 20:45).

Diner, Dan (2010): Deutsch-jüdisch-russische Paradoxien oder Versuch eines Kommentars aus Sicht des Historikers. In: Belkin, Dimitrij / Groß, Raphael (Hrsg.): Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung. 18-20.

Dohmen, Casper (2013): Als Deutschland viel Kredit genoss. Vor 60 Jahren wurde das Abkommen über die Auslandsschulden der Bundesrepublik unterzeichnet. dradio.de. 27.02.2013 <http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kalenderblatt/2019736/> (27.02.2013/ 09:15).

Fleyer, Eduard (2010): Kontingentflüchtlinge. Eine Statusbeschreibung. In: Belkin, Dimitrij/ Groß, Raphael (Hrsg.): Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung. 76-78.

Gabowitsch, Mischa (2010): Pogromgerüchte in der UdSSR der Perestroika-Zeit. In: Belkin, Dimitrij/ Groß, Raphael (Hrsg.): Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung. 42-45.

Goschler, Constantin (2005): Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945. Göttingen: Wallstein.

Harnadt, Anne (2008): Die letzten lebenden Erinnerungen. Jüdische Kriegsveteranen begehen den 9. Mai in Deutschland. In: Jüdische Zeitung. Mai 2008. <http://www.j-zeit.de/archiv/artikel.1143.html> (16.01.2013/ 17:15).

Hockerts, Hans Günter (2006): Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945-2000. Göttingen: Wallstein.

Kessler, Judith (2006): ZwischenCharlottengradundScheunenviertel. Jüdisches Leben in Berlin heute. In: Brumlik, Micha (u. a.) (Hrsg.): Reisen durch das jüdische Deutschland. Köln: DuMont. 43-57.

Kohl, Helmut (2010): Grußwort. Bundeskanzler a. D. Dr. Helmut Kohl. In: Belkin, Dimitrij/ Groß, Raphael (Hrsg.): Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung. 7.

MDR Aktuell (2013): Wolgograd kurz umbenannt. In: MDR Aktuell. 02.03.2013 <http://www.mdr.de/nachrichten/wolgograd100.html> (03.02.2013/ 20:30).

Puttkamer, Joachim von (2010): Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. München: R. Oldenbourg Verlag.

Rumer-Sarajew, Michail (2005):Jevrejskaja Gazeta. Wie eine russisch-sprachige Monatszeitschrift ihren Weg zu den jüdischen Kontingentflüchtlingen findet. In: Schoeps, Julius H. (u. a.) (Hrsg.): Russische Juden und transnationale Diaspora. Berlin, Wien: Philo Verlagsgesellschaft. 183-198.

Sagan, Günter (2008): Kriegsende 1945. Die dramatischen Wochen vor und nach der Kapitulation. Petersberg: Michael Imhof Verlag.

Spurný, Matĕj (2011): Flucht und Vertreibung. Das Ende des Zweiten Weltkrieges in Niederschlesien, Sachsen und Nordböhmen. Dresden: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung.

Schoeps, Julius H. (2005): Ein neues Judentum in Deutschland? Zur Debatte um die Zukunftsperspektiven jüdischer Zuwanderer aus der früheren Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten. In. Schoeps, Julius H. (u. a.) (Hrsg.): Russische Juden und transnationale Diaspora. Berlin, Wien: Philo Verlagsgesellschaft. 119-132.

Stark, Florian (2013): Stalingrad soll wieder Stalingrad heißen. In: Die Welt. 31.01.2013 <http://www.welt.de/113272094> (03.02.2013/ 20:00).

Teitelbaum, Raul (2008): Die biologische Lösung. Wie die Schoahwiedergutgemachtwurde. Springe: zu Klampen Verlag.

Weiss, Yfaat/ Gorelik, Lena (2012): Die russisch-jüdische Zuwanderung. In: Brenner, Michael (Hrsg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur und Gesellschaft. München, C.H.Beck. 379-418.

Windisch, Elke (2013): Sechs Tage Stalingrad. In: Der Tagesspiegel. 01.02.2013. <http://www.tagesspiegel.de/zeitung/gedenken-in-russland-sechs-tage-stalingrad/7717882.html> (03.02.2013/ 20:15).

Wissgott-Moneta, Dalia (2010): BRD - Gelobtes Land. 20 Jahre danach. In: Belkin, Dimitrij/ Groß, Raphael (Hrsg.): Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung. 98-101.

Wünsch, Thomas (2009): Polen. In: Roth, Harald (Hrsg.): Studienhandbuch Östliches Europa. Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas. Bd. 1. Köln u. a.: Böhlau Verlag.

Zentralrat der Juden in Deutschland (2012): In tiefer Dankbarkeit und mit großem Respekt. Zentralrats-Präsident Dr. Graumann bei Jahrestagung der jüdischen Veteranen. <http://www.zentralratdjuden.de/de/article/3928.html > (16.01.2013/ 17:00).

Anmerkungen

  • [1]

    Der Titel des vorliegenden Essays ist zugleich der Titel des Zeitungsartikels von Iosif Bak (2010). Übersetzung Tonio Weicker.

  • [2]

     Es wurde sich gegen den Begriffemigrierenentschieden, da die Migrationsmotive, wie noch zu zeigen sein wird, sehr unterschiedlich gewesen sind und nicht für den gesamten Zeitraum zwischen 1991 und 2005 von einer umfassend bedrohlichen Situation als Migrationsauslöser in den Heimatländern der Immigranten gesprochen werden kann.

  • [3]

     Dass dieses Thema nicht nur im ausgewählten Fall für Deutschland von Bedeutung ist, zeigte Teitelbaum (2008: 247-256) unter anderem für Israel.

  • [4]

     Vgl. für weiterführende Informationen zur Zeitung und ihrer Entstehung Rumer-Sarajew (2005): 183-198. Oder http://www.evreyskaya.de/about/.

  • [5]

     Vgl. für den gesamten Abschnitt den aktuellen und umfassenden Beitrag von Weiss / Gorelik (2012) sowie ergänzend die Beiträge aus dem SammelbandAusgerechnet Deutschland!von Belkin / Groß (2010).

  • [6]

     Belkin (2010: 25) beziffert die jüdische Gemeinschaft in Deutschland für 2005 insgesamt auf rund 250.000 Personen. Fleyer (2010: 78) schätzt die Gesamtzahl der Zuwanderer zwischen 1989 und 2009 auf 200.000 bis 300.000 Menschen.

  • [7]

     Belkin (2010: 25) nennt dagegen als aktuelle Zahl 122.000 Gemeindemitglieder.

  • [8]

     Vgl. weiterführend: Goschler (2005) sowie Hockerts (2006).

  • [9]

     Für die Regelungen zu den deutschen Auslandsschulden, Reparationen, Rückerstattung von geraubten Vermögensgegenständen, sondergesetzlichen Entschädigungsregelungen, die Entwicklung in der DDR bzw. in den neuen Bundesländern vgl. umfassend Brodesser (2000).

  • [10]

     Ein gutes Beispiel dieser Art der medialen Aufbereitung des Themas ist die Publikation von Sagan (2008: 193-194).

  • [11]

     Vgl. hierzu: Fleyer 2010: 76f.; Weiss / Gorelik (2012): 404f.

Empfohlene Zitierweise

Golbeck, Matthias: „Это несправедливо“ - Das ist nicht gerecht. Überlegungen zu Entschädigung und Würdigung jüdischer Veteranen der Roten Armee in Deutschland. aventinus nova Nr. 45 [28.12.2013], in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/9835/

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Erstellt: 02.12.2013

Zuletzt geändert: 27.12.2013

ISSN 2194-1963