Außereuropäische Geschichte

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aventinus varia Nr. 10 (Winter 2006) 

Weber, Albert  

China, die kommende Weltmacht?  

 

Die gegenwärtige Zeitgeistmode gefällt sich darin, sich vor dem Aufstieg Chinas zu fürchten. Der Autor teilt diese Befürchtungen keineswegs: dieses Schreckgespenst ist sporadisch seit Jahrzehnten unterwegs (eigentlich Jahrhunderten [1]), ohne all seine Aufmerksamkeit zu verdienen:

Sollte China ein erfolgreiches Staatskonzept vertreten, eine günstige territoriale Lage einnehmen, über bedeutende Bodenschätze verfügen oder wenn schließlich seine Bevölkerungszahl so enorme Vorteile bietet, wie immer wieder zu hören ist – warum spielt dann dieses Land weiterhin seine so bescheidene Rolle? 

Hinter China steht keine solche Mentalität, keine Idee wie sie für andere Völker, wie etwa für Europäer oder Araber/Moslems prägend ist: China hat niemals eine effiziente Expansionspolitik betrieben. Statt einem Aggressor die eigene Kultur entgegenzustellen und sie ihm aufzuzwingen, wählten die Chinesen den Weg in die Isolation [2].

Auch heute ist das Ausgreifender Chinesen eher materiell und nicht kulturell; ganz anders die Amerikaner, die unter beiden Aspekten ihren weltpolitischen Einfluss behaupten, was ihnen, wie ich meine, den entscheidenden Vorteil gewährt. 

Es sei eingeräumt, dass China gewaltige Möglichkeiten besitzt. Ich meine aber, die Chinesen sind nicht fähig oder nicht willens, sie effektiv einzusetzen. 

Es lohnt sich, einige Prinzipien näher zu behandeln, die so etwas wie‚ "Weltherrschaft" ermöglichen könnten: 

Kultur-/Ideologieexport: 

Einfluss oder Überlegenheit im kulturellen Bereich ist entscheidende Voraussetzung einer Weltmachtstellung. Ein Blick auf europäische Verhältnisse: 

Aß Europa stark amerikanisiert wird bzw. wurde, erklärt sich durch seine ehemalige Satellitenstaat-artige Rolle gegenüber Supermacht USA. Kaum werden die Amerikaner nicht mehr gebraucht, entsteht deutliche Abneigung gegen jene importierte Kultur. Das Anfangsstadium der Amerikanisierung ist derzeit in Osteuropa beobachtbar, wo die USA politischen, militärischen und wirtschaftlichen Einfluss üben. Wohl kann man dasselbe Endstadium voraussagen wie bei uns: wenn eine Gesellschaft glaubt, genug fremde kulturelle Substanz aufgenommen zu haben, um sozusagen in die kulturelle Welt-Oberschicht vorgerückt zu sein, schickt sie sich an, ihre eigene Kultur zu produzieren; besonders, wenn sie vom Kulturbringer politisch unabhängig geworden ist. 

In der islamischen Welt lief und läuft ein ähnlicher Prozess ab: eingezwängt zwischen zwei Supermächten, aber stark beeinflusst vom Phänomen „USA“, hat man schließlich gelernt, was man zu brauchen meint, um festzustellen, dass die eigene Kultur bzw. die eigenen Verhältnisse von jener Lehrmeister-Kultur oder vielmehr ihren Expansionsmethoden bedroht werden. Die praktisch gezogenen Lehren aus dieser Einsicht sind allbekannt: man versucht jetzt, der Welt seine eigene Kultur/Ideologie aufzuzwingen, weil dies als die abgeschaute Weltbeherrschungs-Formel gedeutet wird. [3]

(Die Übertragung einer Ideologie von einem Land zum anderen ist zu unserer Zeit auch unter dem Unwort ‚Demokratie-Export’ bekannt. Bestimmte Voraussetzungen lassen ihn gelingen, manche ihn scheitern; ein guter Vergleich ist der „Kommunismus-Export“ der Sowjetunion, der vielleicht daran scheiterte, dass in betroffenen Ländern eine intellektuelle und auch wirtschaftliche (Mittel-)Schicht existierte, die an einer Demokratie regstes Interesse besaß. (Gerade deren Fehlen lässt Demokratie-Experimente scheitern, wie etwa im Irak und vielleicht auch in Afghanistan.)  

Von der Welt zurück zu China: eine solche ideologische oder kulturelle Weltoffensive können die Chinesen nicht unternehmen; eine Staatsideologie, die ihre Opposition mit Panzern überfährt oder sonst wie zu Tode bringt und misshandelt, ist noch lange nicht in der zivilisierten Welt angekommen; sie wirkt abstoßend. 

Chinas universalistische Kultur, die das Allgemeine über das Individuum stellt, ist nicht kompatibel mit der sogenannten Weltkultur, die keineswegs zu jener Selbstgenügsamkeit fähig ist, für die der chinesische Mensch so beispielhaft steht. [4] Für den westlichen (Konsum-)Menschen ist nichts Aufregendes oder Intensives dahinter, was sein Lebensgefühl steigern könnte. Wie bezeichnend, dass die asiatische Kultur als Mittel für Krankenerholung vom Zivilisationskritik dient!

Kurz gesagt: es gibt viele Menschen, die sich an der amerikanischen Lebensart (Konsum, Lebensgenuss aller Art, gesellschaftlicher Erfolg, extreme Redefreiheit usw. [5]) begeistern, sehr wenige aber, die in diesem Sinne geistige Chinesen werden möchten! Wenn dies so wäre, würden sich chinesische Kulturgüter massenhaft verkaufen lassen – sie tun es aber nicht. China ist zu keiner kulturellen Weltherrschaft befähigt.

Ein weiteres Hindernis besteht in seiner komplizierten, fremdartigen Sprache, die unmöglich das Englische ablösen kann (welche Sprache könnte dies überhaupt?). Nicht einmal Ansätze davon sind beobachtbar, was eine kulturelle Verbreitung beweisen oder ermöglichen würde. 

Die weltbeherrschende Bildungskultur stammt aus den USA; die Elite der Welt bildet sich in amerikanischen Universitäten und nicht in chinesischen. Wie viele Nobelpreise gehen nach China? Entwickeln die Chinesen eigene Technologien oder kaufen sie diese ein? Wie beispielhaft die Raumfahrt dafür ist: der erste Ein-Mann-Flug wurde von SU und USA vor 45 Jahren unternommen, von China erst kürzlich, denn Raumfahrtechnologie lässt sich nicht einkaufen und eigene technische Innovationen sind zu rar und zu lange unterwegs. 

Die Entwicklung läuft eher gegen die Chinesen: durch die immer weiter ausgebauten Massenmedien nehmen sie unsere Kultur auf, was in ihrer Gesellschaft bereits zu schweren Konflikten geführt hat und noch führen wird: unsere Individualität wird als gesellschaftlicher Sprengstoff gewertet und seine Verbreitung möglichst eingedämmt. Sollten die Chinesen einmal von westlichen Idealen erfüllt sein, werden sie auch westliche Ansprüche stellen. 

Wirtschaftliche Macht 

Geld ist die Quelle aller Kultur, Geld ist aber auch Macht: nicht zufällig ist das geldreichste Land der Welt auch das mächtigste. Daher die sich aufdrängende Frage, ob Chinas vermeintliche und auffälligste Stärke, nämlich sein Menschenreichtum, irgendwie beneidenswert ist? 

Enorme Bevölkerungszahlen bringen die Prinzipien der dezentralen mit jenen der zentralen Regierung in Konflikt: mehr Menschen, weniger Kontrolle, weniger Ordnung. Die Lösung kann in einem partikularistischen Auseinanderstreben und somit in einem gewissen Chaos bestehen, wie mancherorts in Indien, oder in einer Diktatur, wie der chinesische Staat sie aufgebaut hat. [6] Es gibt Gegenden in China, wo ein enormer Überschuss an Arbeitskräften besteht, die aber nicht effektiv in die Wirtschaft eingebunden werden können (daher, so wird angenommen, jene achtstelligen Arbeitslosenzahlen), die gleichwohl aber versorgt werden müssen. Die westlichen Urteile über China faszinieren sich oder erschaudern an den immensen quantitativen Dimensionen chinesischer Wirtschaftsprogramme und übersehen dabei die ebenso quantitativen Probleme, die dahinter stehen.

Es wird viel geredet und geklagt über unsere europäische Bevölkerungsentwicklung; sie ist bestimmt nicht günstig zu nennen, die chinesische indes auch nicht: die Ein-Kind-Familie ist staatlich subventioniert wegen der Feststellung, dass eine Bevölkerungsabnahme auf ca. 700 Millionen den Lebensstandard verdoppeln könnte. Die Folge ist ein Überschuss männlichen Nachwuchses, da Frauen eine geringere gesellschaftliche Stellung einnehmen und daher weniger Aussicht auf ein Zur-Welt-Kommen erhalten. 

Bedenkt man diese chinesische Demographieentwicklung, so kann sich der europäische Wirtschaftsraum (der gleichfalls seine Wachstumsgrenze noch nicht erreicht hat) mit seinen ca. 500 Millionen Menschen durchaus vergleichen. 

Es sei jedoch eingestanden, dass die derzeitige chinesische Strategie, westliche Unternehmen aufzukaufen, um an ihre Technologien zu kommen, und westliche Universitäten für hochwertigen Qualifikationserwerb zu besuchen, hohe Ausmaße annehmen. Allerdings handelt es sich dabei um ein Aufholen, das nur in den ersten Phasen sehr rasch vor sich geht. Die wirklichen Hochtechnologien findet man in etablierten Großunternehmen, die ihre Errungenschaften nicht preisgeben und nicht ohne weiteres aufgekauft werden können. An den Universitäten wird nur Basiswissen gelehrt; wer hochqualifiziert ist, wird lieber im Westen mit einem westlichen Gehalt arbeiten, statt nach China zurückzugehen, das sehr viel weniger Lebensqualität zu bieten hat. Es ist sehr schädlich für die chinesische Entwicklung, dass der Westen ein Magnet für die wissenschaftliche Elite darstellt. 

Um noch einen Vergleich anzubringen: die arabische Welt hat seit langem enorme wirtschaftliche Vorteile, ohne die daraus gewonnenen Mittel effektiv umzusetzen. Ein materieller Vorteil benötigt auch das Vermögen, ihn gebrauchen zu können. 

Was die Dritte Welt angeht, wird Chinas Einfluss wahrscheinlich wachsen: seine Flut von Billigprodukten ist dort willkommen, da der Westen nur zu hohen Preisen produzieren kann. Es bleibt abzuwarten, ob China diese Situation auch politisch zu verwerten versteht. 

Politisch-militärische Überlegenheit 

Wirtschaftliche Macht muss sich, um absolute Erfolge zu feiern, mit militärischer verbinden. Ein Land mit starkem Militär hat es viel leichter, Wirtschaftspartner zu finden: die einen versprechen sich Schutz, indem sie dem Beschützer wirtschaftliche Vorteile versprechen, andere fühlen sich bedroht und sind zum selben Handeln bereit. 

Ziel einer Supermacht ist es, möglichst viele abhängige Wirtschaftsmächte zu schaffen, die somit auch politisch zu Satellitenstaaten werden. Ein etwas extremes Beispiel ist die amerikanische Irak-Politik. 

Hier aber muss gefragt werden: kann China eine solche Politik betreiben, vielleicht auch nur in Asien? Dies hängt einerseits von Indien ab [7], wenn diesem Land ein vergleichbarer Aufstieg gelingt, entwickelt sich in Asien ein bipolares Gleichgewicht, das für die Chinesen sehr hinderlich sein wird. Sollten die USA ihre Stellung in der arabischen Welt behaupten, wird China weiterhin nur langsam vorankommen, wie überhaupt sehr vieles von der Zukunft der USA abhängt. Man darf auch gespannt sein, wie Russland sich entwickelt! Diese Zwei-Fronten-Lage Chinas ist sicher nicht günstig zu nennen...

Ein kurzer Blick auf das Militär: 150 Millionen Soldaten sind eine beeindruckende Zahl, effektiv aber können sie nicht sein: Ausbildung, Ausrüstung und Versorgung sind weit entfernt vom westlichen Niveau. Es ist eine Lehre der Militärgeschichte, dass nicht die Anzahl, sondern die Qualität eines Heeres den Sieg entscheidet. China hat sich im Koreakrieg, gegen die Sowjetunion und gegen Vietnam schlecht bewährt, trotz zahlenmäßiger Überlegenheit. Das Problem mit der Zahl 150 Millionen ist wiederum die kurzsichtige Gleichsetzung mit westlichen Verhältnissen. 

Zu einem bewaffneten Konflikt mit dem Westen wird es ohnehin nicht kommen: riesige Atomarsenale haben sich in der Geschichte als Friedensgaranten erwiesen und werden es auch bleiben. 

Abschließend bleibt zu sagen, dass die chinesische Kultur keine Aussichten auf Verbreitung und somit auf tiefere Beeinflussung unserer Welt besitzt. 

Die chinesische Wirtschaftsentwicklung verläuft viel langsamer, als angenommen. Es gibt viele Faktoren, die bremsend wirken; einige werden wegfallen, so etwa das westliche wirtschaftliche Übergewicht in Dritte-Welt-Ländern, andere werden in Form neuer asiatischer Mächte (Indien, Russland) dazukommen. 

China wird sicher einmal eine bedeutendere Rolle in der Welt einnehmen, zu einem geraden, einfachen und baldigen Weg zur Supermacht wird es aber nicht reichen. [8]

Grund zu maßloser Besorgnis besteht sicher nicht: Das bessere Lebens- und Weltprinzip ist derzeit auf unserer Seite, denn nicht wir müssen die Chinesen imitieren, sondern sie den Westen. 

Aktuelle Literatur 

Laurenz Awater: Die politische Wirtschaftsgeschichte der VR China: Vom Sowjetmodell zur sozialistischen Marktwirtschaft. Münster 1998. 

Johnny Erling: China - Der große Sprung ins Ungewisse. 2002. 

Weigui Fang, Das Internet und China - Digital sein, digitales Sein im Reich der Mitte. Hannover. 

Lutz Geldsetzer, Hong Han-Ding: Grundlagen der Chinesischen Philosophie. 1998. 

Jacques Gernet: Die chinesische Welt. Frankfurt/M.1988. 

Sebastian Heilmann: Das politische System der Volksrepublik China. Wiesbaden 2002. 

James Kynge: China. Aufstieg einer hungrigen Nation. Hamburg 2006. 

Gregor Paul (Hrsg.), Caroline Y Robertson-Wensauer (Hrsg.): Traditionelle chinesische Kultur und Menschenrechtsfrage. 1997. 

Karl H. Pilny: Das asiatische Jahrhundert. Hamburg 2005. 

Charles Reeve, Xuanwu Xi, Die Hölle auf Erden: Bürokratie, Zwangsarbeit und Business in China. Hamburg 2001. 

Anmerkungen

  • [1]

     Napoleon hat den Ausspruch getan, China sei ein schlafender Gigant.

  • [2]

     Gibt es chinesische Fremdwörter in westlichen Sprachen? Ein Vorhandensein würde eine Kulturkompatibilität kennzeichnen; dies aber ist nicht der Fall.

  • [3]

     Ähnlich dazu die Beziehungen China-Sowjetunion, die mit unterwürfiger chinesischer Aufnahmebereitschaft für Ideologie und Technik begannen und schließlich in Feindschaft und schweren Grenzkonflikten umschlugen.

  • [4]

     Dies soll keineswegs eine Wertung, Erklärung oder Simplifizierung der chinesischen Kultur sein, die keinerlei Vergleich zu scheuen braucht. Mir geht es um die Wirkung Chinas auf die übrige Welt.

  • [5]

     Eine vielleicht diskussionswürdige Überlegung: garantiert gerade die übertriebene gesellschaftliche Sanktionierung der amerikanischen Lebensart (diese vereinfacht erklärt: nur der materielle Erfolg zählt) eine gewalttätige Gesellschaft? Denn schließlich kann nicht jeder die vorgesetzten Ideale auf legale Weise erfüllen, also wählt er das Verbrechen als Weg zum Erfolg. Etwas anders – nämlich friedlicher - präsentiert sich der asiatische Raum, der seine Ideale auf anderen Ebenen ansiedelt.

  • [6]

     Russland und Amerika haben ähnliche Probleme wegen ihrer enormen ethnischen und territorialen Vielfältigkeit. Die autokratischen Tendenzen ihrer Regierungen sind vielleicht so zu erklären. Daraus folgt, dass großflächige Staaten am besten zentral und mit autokratischer Orientierung regiert werden.

  • [7]

     Samuel P. Huntingtons These scheint sich immer mehr zu bewahrheiten: das 21. Jahrhundert ist von einem Kampf unterschiedlicher Kulturkreise geprägt. Die westliche Welt stößt derzeit mit der islamischen zusammen, was auf beiden Seiten zu einer zunehmenden Identitätsdifferenzierung führt (religiöse, zum Fundamentalismus entwicklungsfähige Besinnung ist auch hierzulande keine Rarität mehr). Es bleibt zu erwarten, dass sich andere Kulturräume durch Nachahmung diesem Kampf anschließen, so etwa der indische oder chinesische.

  • [8]

     Interessante Fragestellung: kann ein Land nur durch seine Wirtschaft eine Supermacht werden, oder gehören dazu kriegerische Konflikte? Die Sowjetunion war wirtschaftlich marode, militärisch aber gut gerüstet und siegreich. Die USA hingegen, wirtschaftlich, militärisch und politisch/ideologisch hochentwickelt, haben die Konfrontation mit der SU für sich entschieden.

Empfohlene Zitierweise

Weber, Albert: China, die kommende Weltmacht. aventinus varia Nr. 10 (Winter 2006), in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7561/

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Erstellt: 15.05.2010

Zuletzt geändert: 28.05.2010

ISSN 2194-1971