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aventinus nova Nr. 39 [22.06.2012] / Skriptum Ausg. 2/2012 (Unveränd. Nachdruck) 

 

Miriam Breß 

Erinnern, Gedenken, Lernen 

Erinnerungsarbeit in Neustadt an der Weinstraße 

Einleitung 

30. Januar 1933 – Die Nationalsozialisten feiern mit Fackelzügen ihre Machtübernahme. Auch in Neustadt. Das idyllische Städtchen, das heute vor allem bei Touristen beliebt ist, wird zum Sitz der Gauleitung. Politische und „rassische“ Gegner werden verfolgt, Bücher unliebsamer Autoren zeremoniell auf dem Marktplatz verbrannt, ca. 2.645 ZwangsarbeiterInnen nach Neustadt verschleppt, die jüdische Gemeinde schrittweise ausgelöscht. Als erster Gau wird die Saarpfalz „judenfrei“ gemeldet. Neustadter Bürger werden – wie überall – zu Tätern, Zuschauern und Wegschauern. Widerstand regt sich kaum. [1]

10. März 1933 – Im Schatten des Hambacher Schlosses, das bis heute gerne als „Wiege der deutschen Demokratie“ bezeichnet wird, entsteht das „erste bayrische Konzentrationslager“. Über 400 Männer und eine Frau aus ca. 60 Gemeinden werden hier einige Tage bis Wochen festgehalten. Die Bewachung übernehmen SS-Männer aus Neustadt, später aus Ludwigshafen. Als die Nazis das Lager auflösen wird ein Teil der verbliebenen Häftlinge nach Dachau verschleppt. [2]

November 2009 – 76 Jahre nach Lagerauflösung wird der Förderverein Gedenkstätte für NS-Opfer, der in dem ehemaligen Lagergefängnis eine Gedenkstätte errichten will, gegründet. Das Motto des Vereins: Erinnern, Gedenken, Lernen. 

Erinnern 

In der Bundesrepublik erinnern zahlreiche Denkmäler, Ausstellungen und Gedenkstätten an die Zeit des Nationalsozialismus. Auch in Neustadt. Die Deutschen scheinen sich gerne als Lehrmeister einer gelungenen Vergangenheitsbewältigung zu sehen. Dass diese aber nicht immer so vorbildlich war – und es oftmals bis heute nicht ist - wird dabei gerne vergessen.

Gegen eine Erinnerung an die NS-Opfer wurde sich lange Zeit gewehrt. Die Kriegsgeneration wollte sich an die NS-Zeit nicht erinnern. Vor allem nicht an die eigene Beteiligung. Man übte sich früh in Verdrängen und Vergessen. Die NS-Verbrechen, die zu grausam waren, um sie aus dem Gedächtnis zu streichen, wurden zu Taten Einzelner erklärt [3] – man sah sich lieber selbst als Opfer, anstatt als Zuschauer, Mitläufer, Täter. [4]

Die Erinnerung an die Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns war Angelegenheit der Überlebenden und ihrer Angehörigen. Man erinnerte sich lieber an die eigenen Kriegsschicksale.  Dies zeigte sich auch in Neustadt. Hier wurde zum Volkstrauertag 1963 vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. ein Gräberfeld für die gefallenen Söhne der Stadt errichtet. Zur gleichen Zeit wurden Straßen nach verlorenen Ostgebieten umbenannt und 1981 ein Gedenkstein zur Erinnerung an die Bombardierung des Stadtteils Winzingen eingeweiht. Die Gräber der ZwangsarbeiterInnen, die im Nachkriegsdeutschland keine Lobby hatten, verfielen, während die der deutschen Soldaten gehegt und gepflegt wurden.

Auf Bundesebene rühmt man sich heute gerne mit der Gedenkstätte in Dachau, die gerne auch mal als erste Gedenkstätte Deutschlands bezeichnet wird. Dass das ehemalige Konzentrationslager, in das auch Neustadter Männer verschleppt wurden, nach dem Krieg zu einer Wohnsiedlung ausgebaut werden sollte, vergisst man dabei. Ebenfalls gab es großen Widerstand aus der Bevölkerung gegen das Anliegen der Alliieren dort den Opfern würdevoll zu gedenken. [5] Bis 1963 speiste man in der „Gaststätte zum Krematorium“, ehe diese einer Gedenkstätte wich. [6]  

Die erste Gedenkstätte, welche die deutsche Politik 1952 errichtete, war die in der ehemaligen Hinrichtungsstätte Plötzensee. Hier erinnerte man ausschließlich an die deutschen Opfer. Die Männer und Frauen, die hier aus ganz Europa hingerichtet wurden, sollten vergessen werden. [7] Das  erste zeitgeschichtliche Forschungsprojekt in der Bundesrepublik befasste sich mit Flucht und Vertreibung der Deutschen und nicht wie heute viele gerne glauben würden, mit dem Genozid an den europäischen Juden. [8] Das Volk amnestierte sich selbst – nicht nur rechtlich.

Erst durch den Generationenwechsel und das damit verbundene Hinterfragen der nationalsozialistischen Vergangenheit der eigenen Familie und der bundesdeutschen Führungseliten konnte sich in der deutschen Gesellschaft eine Erinnerung an die Opfer etablieren. Darüber hinaus wirkte die US-amerikanische Serie „Holocaust - Die Geschichte der Familie Weisz“ im Jahre 1979 medienwirksam aufklärend. [9] Was damals nicht wahrgenommen oder verdrängt wurde, hielt – 30 Jahre nach Kriegsbeginn – Einzug in die deutschen Wohnstuben. [10] Aber während die Nachgeborenen die Spuren der NS-Vergangenheit aufzusuchen begangen, wollten ihre Eltern weiter schweigen. Auch in Neustadt. Gegen die eigenen Kinder konnte man sich aber nicht so wehren, wie gegen die „übergestülpte Erinnerungspflicht“ der Alliierten.

50 Jahre später streitet man sich immer noch über die Erinnerung. Man denke nur an die Demonstrationen gegen die Wehrmachtsausstellung und an den 10-jährigen Streit über das Denkmal für die ermordeten Juden in Berlin. Auch in Neustadt führte in den 90er Jahren die Planung eines Denkmals zur Erinnerung an die ermordeten jüdischen Mitbürger zu erheblichen Widerständen aus der breiten Masse der Bevölkerung. 50 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz – in dem auch Neustadter Bürger jüdischen Glaubens ermordet wurden – fällt ein Erinnern an die einstigen Nachbarn immer noch schwer. Nach langwierigen Diskussionen konnte das Denkmal errichtet werden. Allerdings nicht im Zentrum der Stadt sondern auf dem städtischen Friedhof. Direkt neben den Gräbern der Toten aus Wehrmacht und SS. Unweit des Grabes von Gauleiter Bürckel. Man stellt sich der Erinnerung, aber widerwillig. Schon alleine durch den Standort erfolgt auch keine weitere Auseinandersetzung. Nur zwei Jahre nach Denkmaleinweihung wird der jüdische Friedhof der Stadt geschändet – von Rechtsradikalen. 

Heute – noch einmal über 10 Jahre später – will man sich in Neustadt scheinbar der Vergangenheit stellen. Die Verlegung von Stolpersteinen wurde von den Neustadtern mehrheitlich begrüßt. Es ist ein einfaches Gedenken, über das man leicht hinwegschreiten kann. [11] Auch ein kleiner Gedenkstein zur Erinnerung an die Bücherverbrennung wurde auf dem Marktplatz verlegt. Seit 2008 wird der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar mit Neustadter Jugendlichen gestaltet. Bundesweit wurde dieser 1996 – 51 Jahre nach der Befreiung Auschwitz – auf Vorschlag des jüdischen Überlebenden Ignaz Bubis eingeführt.

Die Errichtung einer Gedenkstätte im ehemaligen Lagergefängnis wurde 2009 erstmals öffentlich gefordert. Das Vorhaben stieß dabei auf Interesse und Unterstützung. Einige Neustädter erinnern sich an das Leid ihrer eigenen Väter oder Großväter, die als politische Gegner dort nach der Machtübertragung inhaftiert wurden. Aber nicht nur an diese soll und will die zukünftige Gedenkstätte erinnern. Erinnert werden, soll hier auch an die ausgelöschte jüdische Gemeinde, an die nach Neustadt verschleppten Zwangsarbeiter und an die Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde. Daran, dass Neustadt – als Sitz der Gauleitung und der Gestapo – eine starke nationalsozialistische Vergangenheit hat.  

Aber auch die Geschichte der Kaserne, die nach dem 1. Weltkrieg von französischen Truppen erbaut wurde, darf nicht in Vergessenheit geraten. Benannt nach dem französischen Feldherren Turenne. Eine eher unbeliebte Person in der Pfalz während des 30-jährigen Krieges. Die Nutzung der Kaserne als wildes Konzentrationslager spiegelt nur eine kleine Facette ihrer Geschichte wieder. Später zogen von dort aus Wehrmachtssoldaten – Neustädter Söhne – in den Krieg. Nach dem Krieg diente sie für kurze Zeit als Unterkunft für ehemalige Zwangsarbeiter, bevor erneut französische Truppen dort stationiert wurden. Während des Krieges in Jugoslawien fanden schließlich Asylsuchende eine vorübergehende Bleibe in dem Gebäude. [12] Von dieser Zeit stammt noch ein Graffiti an der Neustadter Stiftskirche, das bis heute besteht: „Gestern brannten die Synagogen – Heute die Flüchtlingsheime.“

Gedenken

Fast zur gleichen Zeit kam es zur sogenannten Walser-Bubis-Debatte. Zehn Jahre nach dem Historikerstreit stritt man sich über die Erinnerung an den Genozid an den europäischen Juden. Auslöser war dabei die Dankesrede von Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche 1998. Dabei kritisierte er die Ritualisierung der Erinnerung an den Genozid und den angeblichen Missbrauch dieser zu gegenwärtigen Zwecken („Moralkeule“). Er forderte allerdings nicht eine Änderung der Erinnerungskultur an sich, sondern plädierte für einen Schlussstrich. Er müsse „Unerträgliches (...) nicht ertragen“ und wehre sich gegen die „Dauerpräsentation unserer Schande“. [13] Nach seiner Rede erntete Walser viel Applaus und Zustimmung. Kritik regte sich wenig. Im Folgenden kam es vor allem zwischen Walser und Bubis zu einer Kontroverse über die Erinnerung an den Genozid. Und obwohl die Mehrheit der Deutschen hinter Walser stand, hat die Erinnerung an den Nationalsozialismus kein Ende genommen.

Erinnern ist heute ein fester Bestandteil des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Der Widerstand flacht langsam ab. Erinnern wird zum Ritual. Aber wieso Erinnern wir? Wieso sich mit einer schamhaften, verbrecherischen Vergangenheit auseinandersetzen, die keine positive Identifikation zulässt? Menschen verdrängen und vergessen was sie nicht ertragen können oder sie gehen daran zugrunde, wenn sie nicht lernen damit umzugehen. 

Liest man Berichte über die Reichspogromnacht in Neustadt, macht sich oft Fassungslosigkeit breit. Die durch Lektüre und Auseinandersetzung stets aktualisierten Ereignisse dieser Novembernacht im Jahr 1938 sind schlichtweg schwer zu ertragen: Nazi-Schergen zerstörten nicht nur die Synagoge, jüdische Geschäfte und Wohnhäuser, sie zündeten auch das Israelitische Altersheim an, in dem sich zu dieser Zeit ca. 90 BewohnerInnen aufhielten. Polizei und Feuerwehr griffen nicht ein. Eine schaulustige Menge jubelte als wehrlose, alte Frauen in die Flammen getrieben wurden. Jubelte als sie bei lebendigem Leib verbrannten. Jüdische Männer, die helfen wollten, wurden von Neustadter Bürgern mit Steinen beworfen – von denselben Bürgern Neustadts, die nach dem Krieg Hitler als Alleinschuldigen sehen wollten und ihr eigenes Verhalten dem Vergessen anheim gaben – die Vergangenheit verschwiegen. (Mit-)Täter, die schlichtweg ihre Taten und ihr Mitwirken nicht wahrhaben wollten und sich zu Unmündigen erklärten, die am Lauf der Geschichte nichts hätten ändern können. [14]

Die Opfer selbst wurden vergessen. Jahrzehntelang hatten sie keinen Namen. Ein Erinnern in Form eines namentlichen Gedenkens gab ihnen ihre Namen zurück. Alleine deshalb ist eine Erinnerung schon notwendig. Bei Jahrestagen werden oftmals von Jugendlichen Lebensgeschichten damaliger Opfer vorgetragen, um sie dem Vergessen zu entreißen. Oft untermauert durch Reden von Politikern, die „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Auschwitz“ fordern.  

Lernen 

Eine Erinnerung an die NS-Verbrechen und das Gedenken an die Opfer wird immer wieder mit einem gegenwärtigen Zweck untermauert. Verhindert werden soll, dass sich Auschwitz wiederholt, wie es Adorno in seiner Erziehung nach Auschwitz schon forderte. Bereits 1947 hat er dabei begonnen „der weltgeschichtlichen Katastrophe“ – dem Genozid an den europäischen Juden – den Namen des größten nationalsozialistischen Vernichtungslagers zu geben. [15] Die Gefahr dabei ist, dass Vernichtungslager wie Belzec, Sobibor und Treblinka vergessen werden. Genauso wie die nationalsozialistischen Tötungsanstalten, Ghettos, Arbeitslager und erste Konzentrationslager wie Neustadt, die Auschwitz erst möglich machten.

Der ehemalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Jürgen Rüttgers erklärte, dass „nur wenn wir alles daran setzen, dass Auschwitz nie wieder sein darf, (...) wir Freiheit und Solidarität dauerhaft bewahren können.“ [16] Um diese Freiheit und Solidarität zu wahren, gründete er auch eine Stiftung, die jedem Jugendlichen aus Nordrhein-Westfalen eine Reise zur Gedenkstätte Auschwitz finanziell ermöglichen soll. [17]

Genügt es aber alleine Auschwitz zu verhindern? Auschwitz hat sich bisher nicht wiederholt. Nicht als das deutsche Volk in Rostock-Lichtenhagen, Solingen und Mölln wütete. Auch nicht beim Verfall von Jugoslawien oder dem Bürgerkrieg in Ruanda. „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeiten“ gehören in Deutschland aber nach der aktuellen Heitmeyer-Studie in Deutschland zur Normalität. Besonders Führungskräfte und Politiker nutzen in ihrem Interesse Vorurteile gegenüber Fremden in der Gesellschaft aus, und verstärken sie somit. [18] Genau dies tat auch Jürgen Rüttgers, als er den Unmut über die Schließung des Nokia-Werkes nicht dazu nutze die Missstände der Wirtschaft anzuprangern, sondern sich auf mehreren Wahlkampfveranstaltungen negativ über die angeblich schlechte Arbeitsmoral der Rumänen äußerte. [19]

Von Anfang an wollte eine von Adorno geprägte Erziehung nach Auschwitz für Menschenrechtsverletzungen sensibilisieren und Vorurteile bekämpfen. Alleine Auschwitz zu verhindern genügt nicht. Dies würde noch viel zu vielen Menschenrechtsverletzungen Raum bieten. Aber wie aus der Geschichte lernen?  

Jahrelang wollte man nicht lernen, sondern mahnen. Soldatenfriedhöfe und Gedenkstätten wurden als Schutzimpfung angesehen, die alleine durch ihr Vorhandensein – genauso wie das Wissen über die Verbrechen – dazu befähigen würden, die Würde des Menschen zu achten. Der hessische Staatsanwalt Fritz Bauer meinte dazu, dass „die Auseinandersetzung mit unserer jüngsten Vergangenheit [...] gewiss ein Wissen um Fakten [erfordert], aber das“ dies nicht genüge, „nötig [sei] auch der Versuch ihrer Deutung, ohne die keine Folgerung und keine Lehre gezogen werden könne.“ [20]

Ein Wissen ist dabei notwendig, schützt aber nicht vor Menschenrechtsverletzungen. Die Behandlung des Themas Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg ist heute in allen 9. und 10. Jahrgangsstufen aller 16 Bundesländer verbindlich vorgeschrieben. Dennoch ist das Wissen über die NS-Zeit in Deutschland gering, wie es die empirische Studie „Die unbequeme Vergangenheit. NS-Vergangenheit, Holocaust und die Schwierigkeit des Erinnern“ [21] an der Universität in Essen zeigt: 24% der befragten Studierenden [sic] war die Bedeutung der „Reichskristallnacht“ unbekannt, 77% die der Wannsee-Konferenz und gar 71% waren die Nürnberger Gesetze unbekannt. Fast ein Drittel konnte das Jahr das Kriegsbeginns und 91% das Kriegsende nicht benennen. 8% konnten keine Opfergruppen angeben und 4% wussten nicht was „Auschwitz“ ist.

Eine Erziehung nach Auschwitz richtet sich heute an die Nachgeborenen, die keine eigenen Erfahrungen mehr mit dem Nationalsozialismus haben. Sie sind geprägt durch eigene Familiengeschichten und der medialen Verarbeitung in Kino und TV. In der Schule herrscht ein Leistungs- und Notendruck. Lehrer behandeln oft immer wieder dieselben Themen, ohne auf Interessen der Schüler einzugehen. Bis heute werden ganze Schulklassen routinemäßig zu Gedenkstätten geführt; meist kurz vor den Ferien. Mitarbeiter der Gedenkstätten kritisieren immer wieder mangelnde Vor- und Nachbereitung. Für viele Lehrer soll der authentische Ort an sich bereits beweisen, dass es wirklich zu nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen gekommen ist. [22] Die gerne noch angewandte Betroffenheitspädagogik achtet nicht darauf, dass Gefühle und Emotionen etwas persönlich zu schützendes sind, achtet nicht darauf, dass sich Jugendliche dagegen wehren, für Verbrechen anderer Generationen verantwortlich gemacht zu werden, achtet nicht darauf, dass Jugendliche ihre Großeltern nicht als Teil eines verbrecherischen Regimes sehen wollen und oftmals nicht sehen können, wenn sie doch gleichzeitig deren Geschichten über Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg hören. [23] Zudem beachtet sie nicht, dass wir heute in einer multikulturellen Gesellschaft leben und vielen einfach der persönliche Bezug zur NS-Zeit fehlt. [24]

Für ein Lernen benötigen Jugendliche auch immer einen Bezug zu ihrer eigenen Lebenswelt. Hier kann man den Blick auf das Herkunftsland oder auf die lokale Ebene richten. Fakt ist, dass das  Bild, der Genozid an den europäischen Juden sei von hohen NS-Funktionären in Berlin geplant worden und alleine in Auschwitz ausgeführt worden, für ein Lernen wenig hilfreich ist, da es nicht zuletzt Handlungsspielräume der Menschen außer Acht lässt. Aufgezeigt werden muss, dass es auch in der alltäglichen Umgebung der Jugendlichen zu Verbrechen kam. Dass auch dort Zuschauer und Wegschauer, Opfer und Täter lebten. Sonst – so Brumlik – bleibe der Gedenkstättenbesuch „häufig (nur) eine touristische Randerscheinung im schulischen Alltag“. [25]

Durch die Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte, sollen vor allem Jugendliche dazu befähigt werden, Missstände in der Gesellschaft zu erkennen, um dagegen einschreiten zu können.  Allerdings gibt es hier „trotz vieler oder aller gut gemeinten Beispiele eine kaum entfaltete Didaktik – vielleicht (könne es) sie auch gar nicht geben.“ [26]

Die Arbeit mit Jugendlichen sollte primär eine selbstständige Urteilsbildung ermöglichen und ein Hinterfragen zulassen. Fragestellungen und Interessen sollten im Voraus vereinbart werden. Von jeglichen Zwängen ist abzusehen, ebenso von Leistungs- und Notendruck. Ziel ist dabei Empathie mit den Opfern zu wecken, Faktenwissen zu vermitteln, eine Selbstreflexion zu fördern und einen Gegenwartsbezug herzustellen. Fakt ist, dass nur durch ein ehrliches Erinnern und Gedenken gelernt werden kann. Eine bloße Instrumentalisierung des Gedenkens mit hohlen Phrasen wie „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Auschwitz“ verfällt zur Farce. Vor allem wenn sich Politiker und Personen des öffentlichen Lebens im nächsten Satz gleich wieder in den Dienst einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit stellen. Das Wesen des Vorurteils muss hinterfragt werden.  

Und Neustadt?

Der Weg nach Auschwitz war nicht zwingend. Er wurde geebnet. Nicht nur von hohen NS-Funktionären. Auch von den Männern und Frauen in der Nachbarschaft. In Neustadt kam es zu keinem Widerstand bei der Errichtung des wilden Konzentrationslagers in der Turenne-Kaserne, obwohl die Bevölkerung präzise genau über Verhaftungen in den Medien informiert wurde. Es gab auch keinen Widerstand als die jüdische Bevölkerung schrittweise ausgelöscht wurde. Boykotte, Pogrome und Deportationen waren sichtbar. In der unmittelbaren Nachbarschaft wurde das Gas für den nationalsozialistischen Krankenmord hergestellt – von den IG Farben Ludwigshafen. [27]

Im April 1937 sprach Martin Niemöller in der Alten Winzinger Kirche in Neustadt. Kurz danach wurde er verhaftet. Im Rückblick auf die Zeit des Nationalsozialismus und die eigenen Handlungsspielräume entstand folgendes bekannt gewordene Zitat: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr der protestierte.“ [28] – und wie Niemöller zulange schwieg, schwieg auch Neustadt.

Die Nationalsozialisten überzogen ganz Europa mit einem System von Lagern und lösten den 2. Weltkrieg aus. Die Täter waren aber keine Dämonen, wie sie jahrzehntelang dargestellt wurden. Sie waren ganz gewöhnliche Menschen. Auch aus Neustadt. Sie kamen aus denselben Orten und Gemeinden wie ihre Opfer. Nach dem Krieg flüchteten sie sich in den deutsche Biedermeier.   Partisanenbekämpfung im Osten und der Wachdienst im nationalsozialistischen Lagersystem wurde zum normalen Frontschicksal erklärt, den einstigen Kameraden ehrenvoll gedacht. Die Untaten in der eigenen Stadt als „unsichtbar“ erklärt, von denen man nichts wusste.

Und die Opfer? Sie besitzen oftmals nicht einmal ein Grab. Neustadter Bürger jüdischen Glaubens wurden nach Gurs, Theresienstadt, Majdanek und Auschwitz verschleppt, wenn sie nicht noch in der Heimat den Tod fanden. Neustadter, die dem Nationalsozialismus die Stirn boten, kämpften im Strafbataillon 999, standen vor NS-Gerichten und kamen nach Dachau. Ihre Zahl ist allerdings gering. Aber es gab sie und sie zeigen uns heute noch die Möglichkeiten des freien Handelns.  

Literaturverzeichnis 

Literatur 

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Brumlik, Micha: Aus Katastrophen lernen? Grundlagen zeitgeschichtlicher Bildung in menschenrechtlicher Absicht. Wien & Berlin 2004.

Brumlik, Micha: Zeitgeschichtliche Bildung in menschenrechtlicher Absicht. Einführende Thesen. In: Kulturreferat der Landeshauptstadt München (Hrsg.): Der Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus. Perspektiven des Erinnern. Gesprächsreihe im Rahmen der Projektvorbereitung für ein NS-Dokumentationszentrum in München. München 2007, S. 34-27.

Claussen, Detlev: Nach Auschwitz. Ein Essay über die Aktualität Adornos. In: Diner, Dan (Hrsg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main 1988, S. 54-69.

Eschebach, Insa / Ehresmann, Andreas: „Zeitschaften“. Zum Umgang mit baulichen Relikten ehemaliger Konzentrationslager. In: Frank, Petra / Hördler, Stefan (Hrsg.): Der Nationalsozialismus im Spiegel des öffentlichen Gedächtnisses. Berlin 2005, S. 111-120.

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Habermehl, Paul / Schmidt-Häbel, Hilde (Hrsg.): Vorbei - Nie ist es vorbei. Beiträge zur Geschichte der Juden in Neustadt. Neustadt 2005.

Klee, Ernst: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Frankfurt am Main 2001.

Kößler, Gottfried: Auschwitz als Ziel von Bildungsreisen? Zur Funktion des authentischen Ortes in pädagogischen Prozessen. In: Kiesel/ Kößler/ Nickolai/ Wittmeier (Hrsg.): Pädagogik der Erinnerng. Didaktische Aspekte der Gedenkstättenarbeit. Frankfurt am Main 1997, S. 109-120.

Manemann, Jürgen: Demokratiefähigkeit. Münster 1995 (= Jahrbuch politische Theologie).

Meyer, Hans-Georg / Roth, Kerstin: Wühler, Saboteure, Doktrinäre. Das Schutzhaftlager in der Turenne-Kaserne Neustadt an der Haardt. In: Benz, Wolfgang / Distel, Barbara (Hrsg.): Instrumentarium der Macht. Frühe Konzentrationslager 1933-1937. Berlin 2003 (=Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945, Bd. 3), S. 221-239.

Schmidt-Häbel, Hilde: Das Israelitische Altersheim für die Pfalz. In: Habemehl, Paul / Schmidt-Häbel, Hilde (Hrsg.): Vorbei – Nie ist es vorbei. Beiträge zur Geschichte der Juden in Neustadt. Neustadt 2005, S. 87-102.

Internetliteratur 

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Walser, Martin: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche am 11. Oktober 1998. URL: http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/WegeInDieGegenwart_redeWalserZumFriedenspreis/index.html (Aufgerufen am 20.10.2011).


Miriam Breß ist Studentin der Geschichte und Politikwissenschaft im Studiengang Bachelor of Arts an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Unveränd. Zweitpubl. v. Miriam Breß: Erinnern, Gedenken, Lernen – Erinnerungsarbeit in Neustadt an der Weinstraße, in: Skriptum. studentische onlinezeitschrift für geschichte und geschichtsdidaktik Ausg. 2/2011, URN: urn:nbn:de:0289-2011110231.
 

Anmerkungen

Empfohlene Zitierweise

Bress, Miriam: Erinnern, Gedenken, Lernen. Erinnerungsarbeit in Neustadt an der Weinstraße. aventinus nova Nr. 39 [22.06.2012] / Skriptum Ausg. 2/2012, in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/9561/

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Erstellt: 18.06.2012

Zuletzt geändert: 27.11.2013

ISSN 2194-1963