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aventinus recensio Nr. 31 [31.05.2012] 

Madeleine Therstappen 

Rezension zu: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band I (A-Cl), Stuttgart: Metzler Verlag 2011. ISBN: 978-3-476-02501-2.  

 

Der Stuttgarter Metzler Verlag legt den ersten Band einer auf sechs Bände und einen Registerband angelegten „Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur“ (EJGK) vor, der im Auftrag der Sächsischen Akademie in Leipzig von dem in Leipzig und Jerusalem lehrenden Historiker Dan Diner herausgegeben wird. Enzyklopädien zur jüdischen Überlieferung blicken auf eine große Tradition zurück und haben mit der 26-bändigen „Encyclopaedia Judaica“, die 1928 in deutscher Sprache begonnen wurde, bereits ein bedeutendes Standardwerk. Nun versteht sich die 6-bändige Metzler-Ausgabe weder als Auszug aus der „Encyclopaedia Judaica“, noch als deren Fortschreibung, sondern als ein „kanonisches Vorhaben postkanonischen Charakters“, wie Diner einleitend schreibt. (VII) Mit dieser programmatischen Aussage meint der Herausgeber einerseits das Aufgreifen von „über die Zeiten erfolgten Verdichtungen von Wissenstraditionen“, andererseits die „dekonstruierende Verfremdung dieses Wissens“, mit der ein neuer „Erkenntnisgewinn“ erzielt werden soll. (VII) Was dies konkret bedeutet, lässt sich am Aufbau des ersten Bandes, an seinem Verweissystem und an der Wahl der Einträge ablesen. Als erstes fällt auf, dass der Titel „Enzyklopädie“ den mit Enzyklopädien seit dem 18. Jahrhundert verbundenen Anspruch möglichst umfassender Darstellung aufgegeben hat. Vorgestellt werden einzelne Artikel zu „Wissensbereichen und Themenfeldern“ in denen „Ortsgedächtnis und Textgedächtnis“ miteinander verbunden werden sollen. (XV) Gleichwohl muss bei einer solchen Konzeption dem Bedürfnis des Lesers Rechnung getragen werden, die Themenfelder jüdischen Wissens tatsächlich repräsentativ, also alles Wesentliche zumindest streifend, dargestellt zu wissen. Hieraus ergeben sich, trotz der bemerkenswerten Qualität einzelner Artikel, zwei kritische Fragen an das Projekt.  

Zunächst stehen zwischen allgemeinen Artikeln, deren Behandlung in vorliegendem Kontext unmittelbar einleuchtet, wie z.B. „Ausschwitz“, „Aufklärung“, „Amerika“, „Antwerpen“, „Aschkenas“ oder „Assimilation“, Einträge sehr speziellen Charakters, deren Auswahl verwundert und die anderes zugleich vermissen lassen. Einige Beispiele dafür: Das Gedicht von Czesław Miłosz “Campo di Fiori“ wurde bedacht, nicht aber z.B. Paul Celans Gedichtzyklus „Atemkristall“, der ebenfalls den Holocaust behandelt. Primo Levi findet sich nicht unter „Ist das ein Mensch?“, dem wohl bekanntesten Buch über die nationalsozialistischen Vernichtungslager, sondern unter dessen Fortsetzung „Atempause“. Und damit kommen wir zum nächsten Problem bei der Handhabung der Enzyklopädie. Das Verweissystem scheint äußerst beliebig. Es gibt keinen Artikel zum „Antisemitismus“, sondern lediglich ein Verweis zu dem in einem späteren Band folgenden Eintrag „Verschwörung“. Ein Verweis unter dem Stichwort „Buber-Rosenzweig“ ist nicht vorhanden, obwohl die Buber-Rosenzweigsche Bibelübersetzung in dem Eintrag „Bibelübersetzung“ gleichwohl erwähnt wird. Als Nachschlagewerk handhabbar wird die Enzyklopädie angesichts dieser fehlenden Verweise erst durch den abschließenden Registerband. Durch den „dekonstruierenden“ (VII) Ansatz und der Konzentration auf „emblematische“ Werke „ikonischer Autoren“(XV), wie es der Herausgeber ausdrückt, sucht man herkömmliche Namenseinträge vergebens. Das Nachschlagen wird dadurch deutlich erschwert, denn es ist im Voraus nicht ersichtlich, unter welchen Stichworten wichtige Personen behandelt werden. Walter Benjamin ist unter dem Titel „Angelus Novus“ zu finden, Gustav Mahler unter „Auferstehung“ und Joseph Roth unter seinem Herkunftsort „Brody“. Diese recht eigentümliche Form der Darstellung kann wiederum erst durch den ausstehenden Registerband abgemildert werden.

Werfen wir abschließend einen kurzen Blick auf die inhaltliche Qualität der Artikel. Etliche Beiträge stehen in der Tradition herkömmlicher Lexikonartikel und bieten in zugleich informativer und überschaubarer Form grundlegende Darstellungen, die keiner Vorkenntnisse bedürfen. Als Beispiel sind hier die Einträge über „Ausschwitz“, den „Ausschwitz-Prozess“ oder über den „Chassidismus“ zu nennen. Andere Beiträge bieten interessant zusammengefasstes Spezialwissen in Form kleiner Exkurse, so z.B. der bereits genannte „Brody“ Artikel. In manchen Artikeln allerdings stellt der Umstand, dass ein sehr weites Wissensgebiet zumeist nur von einem einzelnen Gelehrten bearbeitet wurde, ein Manko dar. So fehlt etwa beim Frankreich-Abschnitt des Eintrags „Bibelübersetzung“ der Hinweis auf die bekannte französische Chouraqui-Edition. 

Dem Band sind zahlreiche Karten und Fotografien beigegeben, welche für die Lektüre hilfreich sind. Studierende, die sich im Bereich jüdischer Geschichte und Kultur – die Enzyklopädie konzentriert sich auf die Zeit von 1750 bis 1950, geht aber in etlichen Punkten darüber hinaus – noch nicht auskennen, bietet die Ausgabe eine gute Orientierungshilfe. In der bislang vorliegenden Form lädt die Enzyklopädie allerdings eher zum partiellen Lesen als zum Nachschlagen ein. Mit einem Preis von 229,95 € pro Band ist diese Ausgabe zudem für Studierende leider nahezu unerschwinglich und wird deshalb wohl nur in Bibliotheken konsultiert werden können. 

Empfohlene Zitierweise

Therstappen, Madeleine: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band I (A-Cl), Stuttgart: Metzler Verlag 2011. ISBN: 978-3-476-02501-2. . aventinus recensio Nr. 31 [31.05.2012], in: aventinus, URL: https://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/9450/

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Erstellt: 29.05.2012

Zuletzt geändert: 31.05.2012

ISSN 2194-2137

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