Kaiserzeit (30 v.Chr.-284 n.Chr.)

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aventinus antiqua Nr. 4 (Winter 2005) 

 

Katja Kroess 

Vitellius, unfähiger Politiker und Tyrann? 

Eine quellenkritische Untersuchung. 

 

Aulus Vitellius (12 oder 15 - 69 n. Chr.), der dritte Kaiser des so genannten Vierkaiserjahres 69 n. Chr., kommt in der antiken Geschichtsschreibung fast ausnahmslos schlecht weg. Um dies zu verdeutlichen, sei hier ein Ausschnitt aus Sueton (Vit. 13f.) angeführt: 

„Ganz besonders stand ihm der Sinn nach Genußsucht und Grausamkeit. Immer nahm er drei Mahlzeiten, manchmal auch vier über den Tag verteilt zu sich: Frühstück, Mittagessen, Abendessen und ein Gelage; es war für ihn ein Leichtes, sich allen Essen hinzugeben, da er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, ein Brechmittel einzunehmen. [...] Er stopfte sich nicht nur unablässig, sondern auch zu undenklichen Zeiten voll, damit ekelte er jeden an; nicht einmal beim Opfer oder auf einer Reise beherrschte er sich, nicht auch noch vor den Altären gleich die Eingeweide und Stücke des Opferkuchens aus dem Feuer zu holen und in sich hineinzustopfen und in den Garküchen an den Landstraßen Gerichte zu verschlingen, die noch dampften oder vom Vortag übriggeblieben und schon halb aufgegessen waren. Ja, er neigte dazu, jeden Beliebigen aus jedem beliebigen Grund töten und foltern zu lassen. [...] Er geriet auch beim Tode seiner Mutter unter Verdacht...“ [1]

So übertrieben ist diese wie auch andere Schilderungen des Vitellius, dass sich einem die Frage stellt, was denn tatsächlich dahinter steckt. Im Folgenden soll deshalb versucht werden, die Laufbahn dieses Kaisers in groben Zügen zu rekonstruieren, indem der Blick auch auf die Stellen in den Quellen gelenkt wird, die nebensächlich erscheinen und deswegen häufig vom Haupttenor ("Vitellius der Tyrann") überstimmt werden. Da eine ausführliche Darstellung im Rahmen dieses Artikels unmöglich ist, sei an dieser Stelle auf B. Richters sehr gute Dissertation Vitellius. Ein Zerrbild der Geschichtsschreibung. Untersuchungen zum Prinzipat des A. Vitellius verwiesen. 

Vitellius' Vater Lucius überlebte ganze drei Kaiser, nämlich Tiberius, Caligula und Claudius, weitgehend unbeschadet und in hohen Ehren: ein nicht geringes Kunststück zu jener Zeit, das von hohem diplomatischen Geschick und guten freundschaftlichen Verbindungen zu anderen Senatoren zeugt. Sicherlich konnte dies seinem Filius eine politische Laufbahn erleichtern, war jedoch nicht, wie etwa von Tacitus (Hist. I 34,4) behauptet, der einzige Grund: Aulus verfügte durchaus auch über eigene Fähigkeiten, wie ihm die antiken Autoren zumindest im Falle seines afrikanischen Prokonsulats (60/ 61 n. Chr.) zugestehen mussten. So war es nicht ganz abwegig, dass Galba Vitellius im Dezember des Jahres 68 n. Chr. zum Statthalter von Germania inferior bestellte. Dort war der alte Kaiser denkbar unpopulär, und als Vitellius am 1. Dezember 68 n. Chr. in Niedergermanien eintraf, glich die Stimmung einem brodelnden Suppenkessel. Dass er sofort unbeliebte Entscheidungen Galbas zurücknahm oder milderte - Maßnahmen, die, wie selbst Tacitus (I 52,1) etwas widerwillig zugibt, "manchmal nach vernünftigem Urteil" geschahen -, muss nicht unbedingt als Kompetenzüberschreitung und Grundsteinlegung für die spätere Machtergreifung gewertet werden, sondern kann durchaus als taktisch kluger Schachzug zur Beruhigung der Lage gelten. Doch sei es wie es sei, seiner Beliebtheit war es in jedem Falle zuträglich, und als am 1. Januar des Jahres 69 n. Chr. die übliche Eiderneuerung auf den Princeps in Obergermanien verweigert wurde, war Vitellius der Kandidat, der sich als neuer Imperator anbot. Welche Rolle er für die darauf folgende Akklamation am 2. Januar spielte, ist ungewiss. Während Plutarch und Sueton ihn als willfährige Puppe der germanischen Offiziere darstellen, sieht Tacitus ihn durchaus aktiv involviert. Fest steht jedenfalls, dass Vitellius auch hier politisches Fingerspitzengefühl bewies. Um den Senat als rechtliche Legitimationsinstanz nicht vor den Kopf zu stoßen, dennoch aber seinen Herrschaftsanspruch zu behaupten, lehnte er die ihm angetragenen Beinamen "Augustus" und "Caesar" ab und nahm lediglich den des "Germanicus Imperator", eines Prätendanten des germanischen Heeres, nicht aber des gesamten Reiches, an. Erst nach seinem Eintreffen in Rom und der Legalisierung seiner Position durch den Senat sollte er die Beinamen umdrehen und zum "Imperator Germanicus" werden.

Während Vitellius in Germanien seine Machtbasis ausbaute und einen Feldzug auf Rom vorbereitete, war am 15. Januar 69 n. Chr. in Rom Otho durch einen Putsch auf den Kaiserthron gekommen. Ein von den Quellen bezeugter Briefwechsel zwischen den beiden legt nahe, dass sich letzterer der aus dem Norden drohenden Gefahr durchaus bewusst gewesen zu sein scheint - eine Gefahr, die wohl nicht nur von der Anzahl der Truppen und der die herausragenden taktischen Fähigkeiten des Vitellius verratenden guten Organisation des Feldzugs herrührte, sondern auch von den guten Kontakten, die dieser zu zahlreichen Senatoren hatte. Dass diese bestanden, kann mehreren Fakten entnommen werden. Bereits zu Beginn von Othos Regierungszeit traten die zusammen mit einigen Prätorianern zu Vitellius geschickten Senatoren zu diesem über. Zudem wurden einige Senatoren gezwungen, Otho auf seinem Feldzug gegen die Vitellianer zu begleiten, und Tacitus berichtet davon, dass sie nach seiner Niederlage bei Bedriacum in der Nähe von Cremona am 14. April von den sie bewachenden Soldaten bedroht wurden. Schließlich zeugen auch die Reaktionen in Rom von einer Vitellius zumindest nicht grundsätzlich ablehnenden Grundhaltung: Nach dem - in den Quellen viel gelobten - Selbstmord Othos zwei Tage nach der Entscheidungsschlacht wurden nämlich die Stadtkohorten auf Veranlassung von Flavius Sabinus, dem Bruder des späteren Kaisers Vespasian, auf Vitellius vereidigt, das Volk spendete dem Beifall, und am 19. April zog der Senat mit Vitellius" Anerkennung als Princeps und dessen Ausstattung mit sämtlichen kaiserlichen Befugnissen nach. Vitellius selbst, der sich aufgrund von Verzögerungen noch auf dem Weg nach Italien befand, erhielt die Nachricht vom Sieg seiner Truppen nach neueren Forschungsergebnissen vermutlich erst knappe zwei Wochen später. Die Maßnahmen, die er daraufhin ergriff, waren größtenteils durchaus politisch klug, wie etwa die ehrenvolle Entlassung der Prätorianerkohorten, die Hinrichtung der Mörder Galbas oder die im Sinne der senatorischen clementia großmütige Verzeihung der Anhänger Othos inklusive dessen Bruders. Andere jedoch sollten sich als verhängnisvoll erweisen, darunter vor allem die von Tacitus überlieferte Hinrichtung der bedeutendsten Zenturionen Othos als Abschreckungsmaßnahme, was ihm die Abneigung der jeweiligen Legionen bescherte, sowie die Auszeichnung der germanischen Truppen, was den Neid der übrigen erweckte. Im Frühjahr zeigten sich allerdings noch keine Anzeichen für den frühen Sturz des Vitellius. Langsam zog er nach Rom, wo er vermutlich am 17. Juli ankam. Zuvor hatte er das Schlachtfeld bei Bedriacum und das Grab Othos besichtigt. Die berühmte Beschreibung, die Sueton (Vit. 10,3 - 11,1) davon liefert, insbesondere der Hinweis, dass Vitellius dieses mit den Worten, "ein Feind, den man getötet habe, rieche sehr gut, und noch besser rieche ein Mitbürger" betreten habe, ist bezeichnend für das negative Bild dieses Princeps in der Überlieferung, doch gleichzeitig so unrealistisch, dass eine Anzweiflung desselben fast zwingend erscheint.

In Rom zeigte sich, welche Bedeutung Vitellius, anders als seine Vorgänger, dem Senat beimaß. Er zog nicht als siegreicher Feldherr in die Urbs ein, sondern bekleidet mit der toga praetexta, dem traditionellen Kleidungsstück der Senatoren, und präsentierte sich somit als primus inter pares. Doch nicht nur optisch lag ihm viel daran, diese seine Stellung zu betonen, wie eine etwa von Tacitus berichtete Episode nahe legt, nach der der designierte Prätor Priscus Helvidius ihm im Senat widersprochen, er die nach diesem Vorfall beunruhigten Senatoren aber mit den Worten beruhigt habe, dass es nichts Ungewöhnliches sei, dass zwei Senatoren verschiedene Meinungen hätten. Ebenso erkannte er den 19. April als dies imperii an, nicht aber den 2. Januar, dem Tag der Akklamation durch das Heer - wie es etwa Vespasian, Inbild eines bonus princeps, tat. Er holte verbannte Senatoren aus ihrem Exil zurück und verschaffte ihnen Möglichkeiten zu einem erneuten finanziellen und gesellschaftlichen Aufschwung, und schließlich fand er sich häufig im Senat ein, auch wenn lediglich unwichtige Angelegenheiten diskutiert wurden. Kurzum, Vitellius scheint dem Senat eine politische Rolle zugesprochen haben, wie er sie wohl seit Tiberius nicht mehr gekannt hatte. Auch gegenüber den anderen Ständen, so lässt sich aus den Quellen entnehmen, ließ Vitellius sein diplomatisches Geschick spielen. So stufte er beispielsweise die seit Claudius in wichtige Ämter vorgedrungenen Freigelassenen zurück und setzte dafür wieder vermehrt Ritter ein, und eine zusätzliche soziale Aufwertung erfuhren diese durch das Verbot der Teilnahme an Gladiatorenkämpfen. Das ihm von Sueton vorgeworfene ungerechte Verhalten diesem Ordo gegenüber ist wohl nur ein Topos; die Treue, die sie Vitellius bis zu dessen (bereits aussichtslosem) Ende bewiesen, spricht nämlich eine andere Sprache. Auch die Plebs konnte er nicht nur durch Spiele, sondern auch durch bescheidenes Auftreten für sich gewinnen, und auch sie sollte ihm bis zu seinem Sturz die Treue halten. Dass sich Tacitus in diesem Punkt in Ungereimtheiten verzettelt und zuerst vom aktiven Eintreten des Volkes für Vitellius (Hist. III 80,1), drei Kapitel weiter aber von ihm als passivem Zuschauer spricht (Hist. III 83,1), kann angesichts seiner antivitellianischen Einstellung durchaus als Argument für diese Ansicht gelten. Insgesamt zeichnet sich hier also das Bild eines Kaisers, der sich bestrebt zeigte, den maßgeblichen Kreisen entgegenzukommen und sie für sich zu gewinnen, ein Bild, das zusätzlich auch die erhaltenen Münzinschriften ("CONCORDIA [...]", "CONSENSUS [...]", "FIDES [...]"; "CLEMENTIA [...]") belegen. Dennoch aber darf dieser Eindruck nicht überbewertet werden. Vitellius war zu kurz an der Macht, um von diesen ersten Monaten seiner Herrschaft auf ein tatsächliches Regierungsprogramm zu schließen, denn gerade zu Beginn einer Herrschaft sind machtkonsolidierende Maßnahmen von entscheidender Bedeutung - wie sich diese im Laufe der Jahre entwickeln, ist, wie die Geschichte vielfach gezeigt hat, wieder eine andere Sache. 

Bereits am 1. Juli, also bevor Vitellius überhaupt in Rom angelangt war, wurde Vespasian nämlich in Ägypten durch den praefectus Aegypti zum Imperator ausgerufen, seine Truppen folgten zwei Tage später dessen Beispiel. Zeit zum Regieren hatte Vitellius demnach nicht, sondern dem Feldzug gegen Otho folgten fast anschließend die Vorbereitungen zum Feldzug gegen den Usurpator im Südosten. Zunächst sah es recht gut aus für den in Rom verweilenden Kaiser. Ein weiteres Mal bewies er militärisches Geschick, indem er durch Truppenanforderungen aus Germanien, Britannien und Spanien sowie die Verstärkung der in Afrika weilenden Legionen offenbar plante, an zwei Fronten gegen Vespasian vorzugehen. Doch Unruhen in den erstgenannten Provinzen brachten seinen Plan zum Scheitern, die geforderte Verstärkung blieb aus, und so war Vitellius allein auf seine in Italien stationierten Truppen angewiesen, während Vespasian Zulauf von den sich vom Kaiser benachteiligt fühlenden Balkanlegionen erhielt. Zudem finden sich in den Quellen Anzeichen dafür, dass just zu jener Zeit eine Epidemie in Italien ausbrach, die die dortigen Legionen zusätzlich schwächte. Der etwa in den Historien (III 2,2) gemachte Vorwurf, die Truppen seien "durch Zirkus und Theater sowie das angenehme Leben in der Hauptstadt" verweichlicht worden, ist hingegen zurückzuweisen - die beiden Feldzüge lagen zu eng beieinander, als dass die Soldaten wirklich die Zeit gefunden hätten, durch Lustwandeln ihre Kampfeskraft zu verlieren.

Als im September Antonius Primus, ein Feldherr Vespasians, überraschend in Norditalien einfiel und einen ersten Sieg gegen die dort stationierten Truppen errang, ergab sich für Vitellius die gleiche Situation wie für Otho einige Monate zuvor: Er war zu langsam gewesen beziehungsweise Vespasian zu schnell, und musste nun deswegen versuchen, die Invasion in Italien aufzuhalten. Ein Großteil der durch Krankheit geschwächten Truppen brach auf, Vitellius selbst blieb zurück - nach Tacitus (Hist. III 36,1) unbekümmert der Lage "wie das träge Vieh", seinem "ausschweifenden Lebenswandel" frönend, doch andere Andeutungen in den Historien sprechen dafür, dass auch er erkrankt und deshalb verhindert war, persönlich am Feldzug teilzunehmen. Die Lage verschlimmerte sich zunehmend. Caecina, einer seiner beiden Feldherren, wurde abtrünnig, wodurch die dringend benötigte Einigkeit im Heer zerbrach und Primus im Oktober bei Bedriacum einen zweiten Sieg verzeichnen konnte. In dieser Situation versuchte Vitellius verzweifelt alles, um die sich abzeichnende Niederlage zu verhindern, er vergab Konsulate für Jahre im Voraus, um sich der Zuneigung der Senatoren zu versichern und nahm nach Tacitus nun auch den Beinamen "Caesar" an, um sich eine zusätzliche Legitimationsbasis in der Konfrontation gegen Vespasian zu verschaffen, bot den Bundesgenossen neue Verträge an, verlieh das lateinische Bürgerrecht oder versprach Steuerprivilegien. Doch trotz kleinerer Erfolge einer zweiten Heeresgruppe waren alle diese Maßnahmen obsolet: Die Vitellianer mussten kapitulieren, und im Dezember standen die Flavianer vor den Toren Roms. 

Was nun folgte, beschreibt Tacitus (Hist. III 68,1) fast fassungslos mit den Worten "nihil tale viderant, nihil audierant", niemals sei derartiges gesehen, niemals derartiges gehört worden: Vitellius wollte abdanken. Das, was heute nach dem Scheitern eines Politikers als selbstverständlich gilt beziehungsweise gelten sollte, war damals undenkbar. Das Prinzipat war keine Magistratur, die auf einem Mandat basierte, ein Kaiser konnte nicht abdanken. Die einzige Möglichkeit, sich dieser Verpflichtung zu entziehen, war Ergebung oder aber der Tod - egal ob natürlicher Tod, Tod im Feld, Ermordung oder, wie Otho es "vorgestorben" hatte, Selbstmord, der in der römischen Mentalität als durchaus ehrenvoll angesehen wurde. Vitellius brachte diese Größe (in antikem Verständnis!) nicht auf, und versuchte es auf unkonventionellem Weg. Ob man nun der Version Suetons (Vit. 15,2-4) folgt, der von drei Abdankungsversuchen weiß - vor den drei Gruppierungen Heer, Plebs und Senat, die ihn auch zum Kaiser gemacht hatten -, oder der des Tacitus (Hist. III 67,2 - 68,3), der von einem einzigen spricht: Die Instanz, der Vitellius die Macht zwischen dem 18. und dem 20. Dezember übergeben wollte, die de facto aber nicht existierte, war der Senat, der trotz Propagierung seiner (republikanischen) Bedeutung in der senatorischen Literatur (etwa eines Tacitus) mit solchen Kompetenzen nichts mehr anzufangen wusste. Ähnlich wie bei Tiberius' Versuch fünfeinhalb Jahrzehnte zuvor, diesem etliche Aufgaben zurückzugeben, fiel auch nun die Reaktion der ehemals zentralen politischen Körperschaft aus, und Vitellius stieß auf völliges Unverständnis. Ob sein Abdankungsversuch ehrlich gemeint war oder aber eine Art antiker Vertrauensfrage darstellte, ist unmöglich zu beantworten. Fakt ist jedenfalls, dass er das Vertrauen aufgrund fehlender Alternativen erhielt, und in die Verantwortung gezwungen wurde.

Darauf folgende Auseinandersetzungen innerhalb der Stadt zwischen Vitellius-Anhängern und der flavianschen Partei, die sich unter Flavius Sabinus und dem Konsul Atticus auf das Kapitol als den sichersten Ort in Rom zurückgezogen hatte, führten zum Brand des Kapitols, unklar ist jedoch, welche der beiden Gruppierungen das Feuer gelegt hatte. Den Tod Sabinus' konnte Vitellius, vor den die beiden Anführer gezerrt wurden, wie Tacitus berichtet, nicht verhindern- die durch die Schändung ihres bedeutendsten Heiligtums aufgebrachte Plebs habe ihn regelrecht zerrissen -, jedoch den Konsul vor demselben Schicksal bewahren. Selbst angesichts seines unausweichlichen Endes bewies Vitellius also eine Milde, die seiner Attribuierung als grausamen Herrscher Lügen straft. Doch der Kampf ging weiter. Obwohl am 20. Dezember die in der Stadt verbliebenen Prätorianertruppen gegen die Vorhut des Primus vor den Toren Roms einen Sieg erringen konnten, mussten sich die Vitellianer spätestens am 21. Dezember den Flavianern ergeben; Verhandlungen mit den gegnerischen Feldherrn schlugen aufgrund deren Wut über die Geschehnisse auf dem Kapitol fehl. Noch am selben Tag wurde Vitellius ermordet, nach Tacitus und Sueton auf seiner Rückkehr in den Palast durch den Pöbel, nach Cassius Dio auf der Flucht durch die Soldaten. Auch wenn ihm damit ein ruhmreiches Ende verwehrt wurde, findet sich bei letzterem zumindest der Versuch einer Ehrenrettung dieses unglücklichen Kaisers. Schmutzig und mit Blut besiedelt, die Kleider vom Körper gerissen, verhöhnt und misshandelt von den Soldaten, sei er an einem Strick die Via Sacra entlang gezerrt und schließlich erschlagen worden, als er sich seiner Würde besinnte und ausrief "'Und ich war doch einmal euer Kaiser!'" 

Die Tyrannentopik ist in der Schilderung des Vitellius omnipräsent: Gefräßigkeit, verbunden mit körperlicher und geistiger Untätigkeit, schlechter Umgang, Unentschlossenheit, Grausamkeit, kein Geschick für Politik, zusätzlich eine bei Sueton überlieferte, an Nero erinnernde Freude am Brand des Kapitols, kurzum die Inkarnation des malus princeps. Wie ist das zu erklären? Wie ist zu erklären, dass Tacitus, ein Senator, die Bemühungen des Vitellius um den Senat nicht schätzt, Otho hingegen, der gegen den Willen des Großteils eben dieser Körperschaft und nur mit Hilfe der Prätorianer Princeps wurde, im Vergleich besser abschneiden lässt? Nun, die Geschichtsschreibung ist immer eine Geschichtsschreibung der Sieger. Es liegt im Interesse eines senatorischen Geschichtsschreiber wie Tacitus, die Beteiligung des Senats an der Kaiserwerdung des Vitellius und dessen anscheinend hohen Akzeptanz in diesen Kreisen möglichst klein zu halten, wenn denn ein Totschweigen schon nicht möglich ist: Die Senatoren hatten sich schlicht und einfach für den falschen, den Verliererkaiser entschieden. Gleichzeitig wird die Usurpation Vespasians durch diese negative Charakterisierung des Vitellius zumindest moralisch legitimiert und der hässliche Beigeschmack, der einer solchen in der Regel anhaftet, abgeschwächt. Dennoch, von Vitellius als einem bonus princeps zu sprechen, wäre ebenso Schwarzweißmalerei. Auch wenn seine strategischen Fähigkeiten sicherlich bemerkenswert gewesen sind, die Zeitspanne, die ihn an der Macht sah, war, wie bereits erwähnt, zu kurz und bereits zu sehr von der Erhebung des Vespasian überschattet, um seine Politik angemessen beurteilen zu können. Zum Regieren kam Vitellius gar nicht: Kaum war der eine Krieg - dank taktischem Geschick - glücklich beendet, beendete ein für ihn unglücklicherer Krieg bereits die Möglichkeit, sich als fähiger Kaiser und Politiker zu profilieren. Die Wahrheit ist deshalb wohl irgendwo dazwischen zu suchen.

Die Quellen 

Tacitus (v.a. Historien I-III) 

Sueton (v.a. Vitellius) 

Plutarch (Otho, Galba) 

Cassius Dio (v.a. Römische Geschichte 64) 

Flavius Iosephus (Bellum Iudaicum 9) 

Ausgewählte Literatur 

Engel, Rudolf: Das Charakterbild des Kaisers A. Vitellius bei Tacitus und sein historischer Kern, in: Athenaeum 55/1977, 345-368 

Flaig, E.: Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich, Frankfurt a. M./ New York 1992 

Greenhalgh, P.A.L.: The Year of the Four Emperors, New York 1975 

Grenzheuser, B.: Kaiser und Senat in der Zeit von Nero bis Nerva, Paderborn 1964 

Murison, C.L.: Galba, Otho and Vitellius. Careers and Controversies, Hildesheim u.a. 1993 

Richter, B.: Vitellius. Ein Zerrbild der Geschichtsschreibung. Untersuchungen zum Prinzipat des A. Vitellius, Frankfurt a. M. 1992 

Timpe, D.: Untersuchungen zur Kontinuität des frühen Prinzipats, Wiesbaden 1962 

Wellesley, K.: The Year of the Four Emperors, London u.a. 2000 

Anmerkungen

  • [1]

     Sueton (Vit. 13f.)

Empfohlene Zitierweise

Kröss, Katja: Vitellius, unfähiger Politiker und Tyrann? Eine quellenkritische Untersuchung. aventinus antiqua Nr. 4 (Winter 2005), in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7711/

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Erstellt: 21.05.2010

Zuletzt geändert: 24.05.2010

ISSN 2194-1947