Klassik (508/7-338 v.Chr.)

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aventinus antiqua Nr. 6 (Sommer 2006) 

 

Ioannis Charalambakis 

Die „Erste“ Sizilische Expedition 427 – 424 

 

I  Vorgeschichte und Verlauf

Während der ersten zehn Kriegsjahre, dem sogenannten Archidamischen Krieg, der 431 begann und mit dem Nikiasfrieden 421 beendet wurde, kam es von 427 bis zum Kongreß von Gela 424 zu einer ersten Intervention der Athener auf Sizilien. Gemäß der perikleischen Taktik vermied Athen eine direkte Konfrontation der Landheere und beschränkte sich auf Operationen der Flotte rund um die Peloponnes. [1] Während der Einfälle der Spartaner auf Attika wurde die Landbevölkerung hinter die Stadtmauern evakuiert, eine Maßnahme, die sich aus zwei Gründen als fatal erweisen sollte. [2] Zum einen vernichteten die Spartaner ungehindert die Ernten, wodurch ein ökonomischer Schaden entstand, der auch durch die Raubzüge auf die Peloponnes nicht ausgeglichen werden konnte. Zum anderen kam es durch die Ansammlung so vieler Menschen zum Ausbruch der Pest, der 429 auch Perikles selbst zum Opfer fiel und durch die das Soldatenpotential der Polis wesentlich reduziert wurde. Dennoch hielt man weiterhin am bisher eingeschlagenen Kurs fest.

Im Jahre 427 erreichte die Athener ein Hilfegesuch der verbündeten Stadt Leontinoi, die mit dem expandieren Syrakus im Konflikt lag. [3] Die Situation entwickelte sich recht schnell zu einer Auseinandersetzung zwischen einer dorischen und einer ionischen Fraktion, die vorerst von 20 athenischen Trieren unter dem Kommando der Strategen Laches und Charoiades unterstützt wurde. [4] Allerdings hatte diese geringe Anzahl an Schiffen keine nennenswerten Auswirkungen auf die örtlichen Ereignisse. Obwohl etliche Unternehmungen durchgeführt wurden, konnte weder die eine noch die andere Seite einen entscheidenden Vorteil für sich erringen, so dass Athen im Winter 426/5 auf eine Anfrage der Verbündeten reagierte und plante, weitere 40 Schiffe nach Sizilien zu schicken. Zunächst allerdings wurde nur ein kleiner Teil unter dem Strategen Pythodoros entsandt. [5] Der Rest konnte erst im Verlauf des Sommers nachkommen, da die Schiffe der Strategen Eurymedon und Sophokles zunächst bei Pylos und danach bei Kerkyra aufgehalten wurden. [6] Auch die Verstärkungen konnten nichts ausrichten, und so kam es im Sommer 424 zur Konferenz von Gela, in der die sizilischen Städte untereinander, ohne die Anwesenheit Athens, einen Frieden aushandelten. Wortführer war der Syrakusaner Hermokrates, der als Hauptargument eine Gefährdung der Insel durch die Athener sah, falls man sich nicht einigen würde. [7] Die anderen Städte schlossen sich dieser Meinung an und überbrachten den athenischen Generälen ihren Entschluss, den Krieg zu beenden. Den Strategen blieb nichts anderes übrig, als dies zu akzeptieren und zurück in die Heimat zu segeln. Dort wurden zwei von ihnen, Pythodoros und Sophokles, ins Exil geschickt und der dritte, Eurymedon, mit einer harten Geldstrafe belegt, da man ihnen vorwarf, sie hätten sich bestechen lassen, anstatt die Insel unter ihre Kontrolle zu bringen, als sie die Gelegenheit dazu hatten. [8]

II  Beweggründe und Ziele der Unternehmung in den Werken der antiken Autoren

Besonders unter Berücksichtigung der harten Bestrafung, die den athenischen Strategen nach ihrer Rückkehr zuteil wurde, drängt sich die Frage auf, welche Motive zur Durchführung der Expedition geführt haben und welche Ziele damit verbunden waren. Dazu sollen zunächst die Quellen untersucht und danach die Interpretationen in den Darstellungen herangezogen werden. 

Der offizielle Grund für die Intervention der Athener war der Hilferuf aus Leontinoi, der 427 vom berühmten Redner Gorgias in der Volksversammlung vorgetragen wurde. Thukydides berichtet: „The Leontines and their allies sent an embassy to Athens and urged them, both on the ground of an earlier alliance and because they were Ionians, to send them ships;“. [9] Während diese Schilderung recht nüchtern erscheint, berichtet auch Diodor von dieser Gesandtschaft und legt dabei ein größeres Gewicht auf den Einfluss des bereits erwähnten Redners Gorgias. [10] Die eben dargelegten Gründe sind durchaus plausibel, da Athen zum einen, wie schon oben ausgeführt, mit der Stadt Leontinoi spätestens seit 433/2 verbündet war, und zum anderen, weil es dem eigenen Interesse entsprach, sich für andere Ionier einzusetzen. Allerdings könnte es noch andere Motive für die Expedition gegeben haben, denn es ist fraglich, ob die Athener in ihrer Situation nur aufgrund eines Bündnisses oder Blutsverwandtschaft ein Risiko eingegangen wären. Schließlich hatte die Stadt die verheerenden Folgen der Pest zu verkraften. Es wäre für die Athener vermutlich möglich gewesen, die Hilfe mit Hinweis auf die eigenen Probleme abzulehnen, doch damit hätte das Ansehen sicherlich einen großen Schaden genommen, wenn der Hegemon nicht mehr in der Lage wäre die Verbündeten zu unterstützen.

Die antiken Autoren geben auf diese Problematik selbst eine Antwort, denn bei Thukydides heißt es: „And the Athenians sent the ships, professedly on the ground of their relationship, but really because they wished to prevent the importation of grain from Sicily into the Peloponnesus, and also to make a preliminary test whether the affairs of Sicily could be brought under their control.“ [11] Diodor sieht den Hilferuf ebenfalls als vorgeschobenen Grund an und geht davon aus daß „in fact they were eager to get possession of the island“ [12], vor allem nachdem Athen auf die fruchtbaren sizilischen Böden aufmerksam geworden war. Das erste von Thukydides erwähnte Ziel, die Unterbrechung der Getreideversorgungslinien auf die Peloponnes und insbesondere nach Sparta, stimmt mit Sicherheit mit der athenischen Haltung im Peloponnesischen Krieg überein, da es sich dabei um eine Maßnahme im Rahmen der perikleischen Kriegstaktik handelte. Fortgeführt wurde diese Politik von Nikias, der wie Plutarch berichtet, zu Perikles’ engen Gefolgsleuten gehört hatte und nach dessen Tod die Zügel der Stadt in die Hand nahm. [13] Es ist daher auch unverständlich weshalb Diodor dieses wichtige Motiv in seiner Schilderung einfach fallengelassen hat. Beide Autoren erwähnen als zweites und vermutlich auch wichtigeres Ziel: den Wunsch der Athener, die Insel Sizilien zu erobern. Thukydides spricht etwas differenzierter davon, dass Laches den Auftrag erhalten habe, zu erkunden, ob eine Eroberung möglich sei, [14] während Diodor von einem Verlangen nach Inbesitznahme berichtet [15]. Ob dies allerdings eine realistische Einschätzung der Lage widerspiegelt, erscheint zumindest fragwürdig. Zunächst muß man sich deutlich vor Augen führen, dass eine Eroberung der Insel durch die von Laches befehligte Streitmacht völlig unmöglich war. Die 20 Trieren reichten vermutlich nicht einmal aus, um die Blockade gegen Sparta lückenlos aufrechtzuerhalten, außerdem benötigt man für die Besetzung einer Insel außer Schiffen auch Hopliten, welche wenigstens die wichtigen strategischen Punkte in ihre Gewalt bringen müssen. Sämtliche Spekulationen in diese Richtung sind daher von vornherein zum Scheitern verurteilt. Thukydides, der sich dieser Problematik wahrscheinlich bewusst war, schreibt deshalb von einer Erkundung der Lage hinsichtlich einer später möglichen Invasion. Im Einklang mit der perikleischen Strategie und der Politik des Nikias wäre ein solcher Gedanke dennoch nicht. Die Athener sollten den Spartanern durch kleine Operationen, wie mit Nadelstichen, immer wieder Wunden zufügen und somit mürbe machen. Die Erweiterung des eigenen Gebietes stand dabei aber außer Frage. Wenn dies alles gegen einen solchen Auftrag spricht, muss man sich fragen weshalb Thukydides, der immer Wert auf eine korrekte Darstellung legt, davon berichtet. Zum einen ist es möglich, dass er den ungezügelten Herrschaftswillen des athenischen Volkes vor Augen führen wollte, denn er verfasste sein Werk im Exil, nachdem er 424, aufgrund einer militärischen Niederlage, die er als Stratege erlitten hatte, [16] fliehen musste und war den athenischen Demagogen nach Perikles sehr kritisch gegenüber eingestellt. Zum anderen könnte er mit seiner Darstellung auch durchaus die Wahrheit treffen, denn die Entscheidung zu einer solchen Expedition wurde nicht von einem Politiker, sondern von der Volksversammlung als Ganzes gefällt. Obwohl zu dieser Zeit Nikias als Führer der Gemäßigten den größten Einfluss hatte, ist es durchaus möglich, dass sich Kleon [17], sein Kontrahent und Anführer der radikalen Kriegspartei, mit diesem Punkt einbrachte und die Bürger zu überzeugen vermochte. Auch die Bestrafung der Generäle würde insofern wieder Sinn machen, wenn man davon ausgeht, dass den Bürgern mehr als nur Hilfe für die Verbündeten vorschwebte und sie den erfolglosen Abzug der Flotte als Fehler der Befehlshaber werteten. Es gibt demnach gute Gründe den Argumenten Thukydides’ Glauben zu schenken und die athenischen Motive als begründet anzusehen.

Sowohl Diodor als auch Thukydides liefern in ihren Werken, die Begründung für die Entsendung der 40 Schiffe Verstärkung unter Sophokles und Eurymedon im Sommer 425. Bei Diodor lautet die Textstelle wie folgt: „While these events were taking place there arrived forty ships which the Athenian people had sent, deciding to push the war more vigorously;“. [18] Er stimmt in diesem Punkt mit Thukydides überein, allerdings führt jener noch ein weiteres Ziel dieser Verstärkung an: „And the Athenians manned forty ships to send to them, partly because they believed that the war in Sicily could sooner be brought to an end in this way, and partly because they wished to give practice to their fleet.“ [19] Zunächst zur Hoffnung auf eine rasche Beendigung des Konflikts: Anscheinend war den Athenern klar geworden, dass eine Flotte von 20 Schiffen für einen sinnvollen Kriegseinsatz völlig unzureichend sein würde. So hatten die Generäle auch keinen Versuch unternommen den großen Gegner Syrakus direkt anzugreifen, da man im Zweifelsfall unterlegen wäre. Die Verstärkung machte demnach Sinn und sie hat ihren Zweck, wenn auch auf kuriose Weise, erfüllt, da der Konflikt kurze Zeit später durch den Kongreß von Gela 424 tatsächlich beendet wurde. Die Präsenz der athenischen Streitmacht spielte dabei eine große Rolle, denn es gelang dem Syrakusaner Hermokrates, die anderen sizilischen Städte von einer militärischen Gefährdung durch Athen zu überzeugen. Allerdings hätte die Anwesenheit von 60 Trieren für eine Invasion ohnehin nicht ausgereicht, denn es waren nach wie vor keine Truppen entsandt worden. Außerdem hatten es die Streitkräfte von ihrer Ankunft 425 bis zum Kongreß von Gela 424 nicht geschafft, Syrakus anzugreifen und entscheidend zu schwächen. Das zweite, lediglich bei Thukydides erwähnte Motiv, nämlich die Schulung der Mannschaften auf den Schiffen, mutet im ersten Augenblick recht seltsam an. Mitten in einem Krieg, der in Athen fast ausschließlich von der Flotte getragen wurde, sollten Manöver durchgeführt werden. Eine Vorstellung, die allerdings nicht mehr so abwegig erscheint, wenn man sich die Situation in der Polis vor Augen führt. Die Bevölkerung und damit auch die Zahl der wehrfähigen Männer mit Kriegserfahrung war durch die Folgen der Pest stark dezimiert worden, so dass es notwendig geworden war, neue, vor allem junge Männer für den Dienst an Bord der Schiffe auszubilden.

Von der Entsendung bis zur Ankunft des Geschwaders auf Sizilien verging einige Zeit, denn die Strategen hatten vorher noch anderen Aufgaben nachzukommen. Thukydides berichtet von zwei Aufträgen, die unterwegs erledigt werden sollten. 1. „These had instructions, as they sailed past Corcyra, to have a care for the inhabitants of the city, who were being plundered by the exiles on the mountain [...]“. [20] 2. „Demosthenes also [...] recieved permission from the Athenians to use the forty ships at his discretion in operations about the Peloponnesus.“ [21] Offensichtlich erschien den Athenern die Situation auf Sizilien nicht dringlich genug, um die Schiffe auf direktem Weg dorthin zu senden. Außerdem könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass ohnehin wenig Streitkräfte zur Verfügung standen und man deshalb versuchte, verschiedene Aufgaben miteinander zu verknüpfen, anstatt mehrere Verbände einzusetzen. Ihren Anweisungen entsprechend segelten Sophokles und Eurymedon zunächst nach Kerkyra und unterstützen die dortigen demokratischen Kräfte. Danach beorderte sie Demosthenes nach Pylos, ein Befehl dem die beiden Strategen nur widerwillig nachkamen, der sich aber im Nachhinein als äußerst wichtig erweisen sollte, da sie dadurch maßgeblich an der Gefangennahme der Spartiaten auf der vorgelagerten Insel Sphakteria beteiligt wurden. Es handelte sich dabei um einen der größten Erfolge der Athener im Verlauf des Peloponnesischen Krieges.

Insgesamt sind die Beweggründe und die Ziele der sogenannten Ersten Sizilischen Expedition, welche uns die beiden Historiker Diodor und Thukydides liefern, glaubhaft und vor dem Hintergrund athenischer Politik auch nachvollziehbar. Allerdings halten die beiden Autoren ihre Ausführungen recht knapp. Bei Diodor mag dies an seinem Anspruch liegen eine Universalgeschichte zu verfassen, weswegen er sich natürlich auf einige wenige Punkte beschränken musste. Von Thukydides hingegen hätte man eine tiefer gehende Betrachtung erwarten können. Im Gegensatz zur Sizilischen Expedition 415 erfährt man hier nichts über die Vorgänge in Athen, es gibt nicht einmal eine Schilderung der beschlussfassenden Volksversammlung. Somit bleibt das Zustandekommen der Entscheidung für die Entsendung der Schiffe im Dunkeln. Vermutlich maß Thukydides dem Unternehmen keinen sehr hohen Stellenwert bei und hielt die Erzählung deshalb knapp, denn über die notwendigen Informationen muss er aus erster Hand verfügt haben, da er sich zu dieser Zeit noch in Athen befunden hatte. Leider gibt es keine anderen erhaltenen Quellen zu diesem Zeitraum außer einem Fragment, das vermutlich Philistos zuzurechnen ist und aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. stammt. [22] Man nimmt an, dass dieses Werk wesentlich ausführlicher über die Vorgänge berichtet hätte, [23] doch leider ist nicht viel davon erhalten. Es bleibt demnach nichts anderes übrig als sich auf die Äußerungen Thukydides’ zu stützen.

III  Die Unternehmung im Spiegel der modernen Interpretationen

Die meisten modernen Autoren nehmen direkten Bezug auf die Schilderung des Thukydides und erkennen dessen Argumente an. Außerdem liefern sie teilweise einige neue Gründe, welche die Athener möglicherweise zu dieser Expedition veranlasst haben. So argumentiert Bleicken, dass Athens wichtigstes außenpolitisches Ziel die Ausübung von Herrschaft und damit der Erhalt von Macht gewesen sei. [24] Er belegt dies auch mit einer ganzen Reihe von Quellennachweisen über die Verhaltensweise der Polis gegenüber anderen. [25] Da sich seine Ausführungen allerdings auf die Sizilische Expedition von 415 beziehen, sollen sie zu einem späteren Zeitpunkt genauer dargelegt werden. Festzuhalten bleibt allerdings, dass der Auftrag eine Eroberung der Insel ins Auge zu fassen mit einer derartigen Einstellung korrelieren würde. Eine ähnliche Einschätzung wird auch von Finley vorgebracht, der davon ausgeht, dass die athenische Politik im Grunde imperialistischer Natur war und somit zwangsläufig zu Auseinandersetzungen mit anderen Gemeinwesen führen musste. [26] Welwei geht ebenfalls davon aus, dass es sich um eine gezielte Aktion gehandelt habe, die den Einfluss Athens auf Sizilien dauerhaft sichern sollte. Er erinnert an die Bemühungen, die im Westen schon in den 50er Jahren in Form von Bündnissen unternommen wurden. Die Ziele der Unternehmung seien demnach dreierlei gewesen. Erstens, wie schon erwähnt, die Sicherung des eigenen Einflusses, zweitens die Kontrolle der Handelsrouten, insbesondere der Kornlieferungen auf die Peloponnes und drittens die Schaffung einer besseren politisch-strategischen Ausgangsposition gegenüber Sparta. [27] Sicherlich ist die Wahrung des Einflusses eines der Motive für die Expedition gewesen und darin lag auch der Grund, weshalb Athen das Hilfegesuch aus Leontinoi nicht ablehnen konnte, da man sonst die bereits aufgebauten Verbindungen zerstört hätte. An anderer Stelle wurde bereits besprochen warum die Kontrolle der Handelsrouten der athenischen Strategie entsprach, ein Ziel, welches von Thukydides explizit erwähnt wird. Die Schaffung einer besseren Ausgangslage gegenüber Sparta wäre allerdings nur durch eine Eroberung der Insel oder zumindest durch eine Zerstörung von Syrakus möglich gewesen, und es muss nach wie vor bezweifelt werden, ob dies überhaupt in den Rahmen der Unternehmung passen konnte. Das Problem resultierte im wesentlichen aus der Stärke der syrakusanischen Flotte, die zum einen gegen die Verbündeten im Ionischen Meer eingesetzt werden konnte und zum anderen bei einer Vereinigung mit Sparta auch eine Gefahr für Athen selbst darstellen würde. Die Stadt hätte durch die Landstreitkräfte Spartas und die Schiffe Syrakus’ regelrecht eingeschnürt werden können.

In diese Richtung argumentiert auch Westlake, der einerseits wie Welwei davon ausgeht, daß eine Ablehnung des Hilfegesuchs aufgrund der Lage in Griechenland nicht möglich gewesen war. [28] Andererseits sieht er den Hauptgrund für die Intervention in der Angst Athens vor einer Unterstützung Syrakus’ für Sparta, die aus den eben genannten Gründen verheerende Folgen haben könnte. Bisher wurden die Streitkräfte von den Verbündeten auf der Insel beschäftigt, doch falls sie diese Auseinandersetzung verloren hätten, wären zumindest die Flottenverbände zur freien Verfügung gestanden. In diesen Zusammenhang gehört auch die Überlegung, dass die Generäle trotz Überlegenheit zur See bewusst keinen direkten Angriff gegen Syrakus lancierten, da sie ihre Aufgabe lediglich in der Unterstützung der antidorischen Gruppierung um Leontinoi sahen. [29] Diese Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, besonders wenn man bedenkt, dass die Athener zunächst nur 20 Schiffe zur Verfügung stellten und die Verstärkung vor ihrer Ankunft noch andere Aufgaben zu erledigen hatte. So betrachtet hat es den Anschein als ob Athen tatsächlich nur an einer Eindämmung der syrakusanischen Expansionsversuche interessiert gewesen wäre. Kagan beurteilt die Situation genau wie Welwei, er nennt sogar die drei gleichen Beweggründe für die Expedition. Erstens das Hilfegesuch Leontinois, zweitens die Gefahr durch ein starkes Syrakus und drittens die Aufgabe der Verbündeten die Streitkräfte auf der Insel zu halten. [30] Außerdem geht er noch auf die Vorgänge in Athen selbst ein und behauptet, daß die Expedition sowohl von Kleon, dem Anführer der Kriegspartei, als auch von Nikias, dem Anführer der Gemäßigten unterstützt wurde. Allerdings unterschieden sich die beiden in ihrer Zielsetzung, denn während Kleon eine Eroberung und dadurch die Beschaffung von finanziellen Mitteln erhoffte, dachte Nikias, der im Sinne Perikles zu handeln pflegte, sicherlich nicht an eine Invasion. [31] Meiggs unterstreicht diese Aussage indem er die Schilderung des Thukydides heranzieht und behauptet, dass die beiden unterschiedlichen Ziele, Verhinderung von Kornlieferungen einerseits und Eroberung der Insel andererseits, die wechselhafte Politik Athens widerspiegelten, die aus den Gegensätzen zwischen Kleon und Nikias resultierte. Vermutlich setzte sich bei der Bestrafung der Generäle Kleon durch, der nach dem Sieg bei Pylos großen Einfluss gewonnen hatte und seine persönlichen Kriegsziele durch die drei Strategen verraten sah. [32] Diese Erklärung erscheint durchaus plausibel doch leider verfügen wir über keinerlei antike Quellen über die Vorgänge in der entscheidenden Volksversammlung, so dass man sich letzten Endes mit Spekulationen begnügen muss.

Bei einer Gesamtbetrachtung der vorliegenden Darstellungen moderner Autoren lässt sich eine grobe Unterscheidung in zwei Gruppen vornehmen. Auf der einen Seite stehen diejenigen, welche davon ausgehen, dass Athen von Anfang an eine aggressive, auf Eroberung ausgelegte, Politik betrieben habe, auf der anderen die Vertreter der gemäßigten Linie, die das Hauptmotiv in der Eindämmung der Macht Syrakus’ sehen. Beide Seiten können sich auf die Ausführungen antiker Historiker berufen, wenngleich die Äußerung Thukydides’, man solle lediglich erkunden ob eine Eroberung möglich sei, auf einen Mittelkurs Athens hinweist, der in erster Linie defensiv ausgerichtet war und nur die Möglichkeit offensiver Maßnahmen in Erwägung zog. Besonders wichtig ist die Arbeit der modernen Autoren, weil sie als einen der Beweggründe die Angst Athens vor Syrakus herausgearbeitet haben, eine Tatsache die von Thukydides und Diodor verschwiegen wird. Eine endgültige Beurteilung der Expeditionsziele soll erst im letzten Kapitel dieser Arbeit erfolgen.

Anmerkungen

  • [1]

     Zu den Besonderheiten in der Kriegsstrategie des Perikles siehe Meier, Christian: Die Rolle des Krieges im klassischen Athen. In: HZ 251 (1990), 580 ff.

  • [2]

     vgl. Dreher, Martin: Athen und Sparta. München 2001, 128.

  • [3]

     Während bei Thukydides kein Angreifer benannt wird, schreibt Diodor von einem Überfall Syrakus’ auf Leontinoi. vgl. Thuk. 3,86,2 u. Diod. 12,53,1.

  • [4]

     vgl. Diod. 12,54,4. Thuk. 3,86,1.

  • [5]

     vgl. Thuk. 3,115,5.

  • [6]

     vgl. Thuk. 4,49. Diod. 12,54,6.

  • [7]

     Zum weiteren Inhalt der Rede des Hermokrates siehe Thuk. 4,59-64.

  • [8]

     Bei Diodor wird die Bestrafung der Generäle nicht erwähnt. vgl. Thuk. 4,15,2-3 u. Diod. 12,54,7.

  • [9]

     Thuk. 3,86,3.

  • [10]

     vgl. Diod. 12,53.

  • [11]

     Thuk. 3,86,4.

  • [12]

     Diod. 12,54,1.

  • [13]

     vgl. Plut. Nik. 2,2.

  • [14]

     vgl. Thuk. 3,86,4.

  • [15]

     vgl. Diod. 12,54,1.

  • [16]

     Thukydides war 424 an der Verteidung von Amphipolis beteiligt, konnte aber den Angriff des Spartaners Brasidas nicht abwehren.

  • [17]

     Kleon erreichte den Höhepunkt seines Einflusses erst 425, nachdem er sich die Gefangennahme der Spartiaten auf der Insel Sphakteria bei Pylos auf die Fahnen scheiben konnte.

  • [18]

     Diod. 12,54,6.

  • [19]

     Thuk. 3,115,4.

  • [20]

     Thuk. 4,2,3.

  • [21]

     Thuk. 4,2,4.

  • [22]

     vgl. Jacoby, Felix (Hrsg.): Die Fragmente der griechischen Historiker, Teil 3. Geschichte von Städten und Völkern. Leiden 1950, Nr. 577 F2 (S. 679 f.).

  • [23]

     vgl. Westlake, Henry D.: Athenians Aims in Sicily 427-424 B. C. In: Historia 9 (1960), 385.

  • [24]

     vgl. Bleicken, Jochen. Die athenische Demokratie. Paderborn u.a. 1995, 382 f.

  • [25]

     vgl. Bleicken: 638.

  • [26]

     vgl. Finley, Moses I.: Demokratie, Konsens und nationales Interesse. In: Ders.: Antike und moderne Demokratie. Stuttgart 1980, 48.

  • [27]

     vgl. Welwei, Karl-Wilhelm: Das Problem des „Präventivkrieges“ im politischen Denken des Perikles und des Alkibiades. In: Gymnasium 79 (1972), 297.

  • [28]

     vgl. Westlake, 388.

  • [29]

     vgl. Westlake, 396 ff.

  • [30]

     vgl. Kagan, Donald: The Archidamian War. London u.a. 1974, 183.

  • [31]

     vgl. Kagan: The Archidamian War, 183 ff.

  • [32]

     vgl. Meiggs, Russell: The Athenian Empire. Oxford 1972, 321.

Empfohlene Zitierweise

Charalambakis, Ioannis: Die Erste Sizilische Expedition 427-424. aventinus antiqua Nr. 6 (Sommer 2006), in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7755/

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Erstellt: 25.05.2010

Zuletzt geändert: 25.05.2010

ISSN 2194-1947