Klassik (508/7-338 v.Chr.)

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aventinus antiqua Nr. 8 (Sommer 2006) 

 

Mike Wallner 

Die 'Zweite' Sizilische Expedition 415 - 413 

 

Über Thukydides existieren nur wenige gesicherte Lebensdaten, er wurde wohl um 460 v.Chr. in Athen geboren, hatte 424 das Amt der Strategie inne, wurde dann aber für 20 Jahre verbannt, weil unter seiner Führung das für Athen ökonomisch wichtige Amphipolis an Sparta verloren gegangen war. Im Exil sammelte er das Material für sein Geschichtswerk. Ob er nach 404 aus der Verbannung nach Athen zurückkehrte, ist unklar. Er starb nach 400, vermutlich im Jahre 396. 

(...)es ist eine innere Gefahrensituation, aus der sie [die Krise] geboren wird, Krisenhistoriker also ist der, der es zu tun hat mit der Pathologie eines politischen Gebildes. Das ist bei Thukydides der Fall. Er schreibt (...) eine Pathologie Athens, die Beschreibung einer Krankheit, die auch zum Untergang Athens geführt hat und, wie man hinzufügen muss, zum Untergang einer ganzen Welt. Kein Zweifel, dass Thukydides damit historisch richtig geurteilt hat, dass mit dem Fall Athens 404 eine Epoche abgeschlossen war und eine neue beginnt, dass die große alte ,klassische Welt, wie wir sie nennen, hier endet und eine neue Welt heraufkommt. Der Peloponnesische Krieg ist eine Krise, Scheide zweier Zeitepochen. Das ist es, was Thukydides darstellt, in dem klaren Bewusstsein dessen, um was es sich handelt. So nennen ihn wir den ersten Krisenhistoriker,  (...) [1]

Thukydides gilt als Begründer der politischen Geschichtsschreibung, für ihn bestimmen statt der Götter die menschliche Natur und die tyche ( =der irrationale Anteil an der Welt, dessen Begreifen dem  den Lauf der Beschränkten, menschlichen Verstand nicht zugänglich ist Geschichte. Er analysiert die unveränderliche, menschliche Natur, die er in ihrem Hang zur Macht, Aggression und Krieg darzulegen sucht. [2] Thukydides versucht, die Gesetzmäßigkeiten historischer Abläufe zu ergründen, um die überzeitlichen Grundgesetzlichkeiten von Geschichte überhaupt transparent machen zu können. Als treibende Feder allen menschlichen Handelns erkennt er das Machtstreben: Entweder strebt ein Mensch nach Freiheit für sich selbst oder nach Herrschaft über andere. Der Historiker schreibt sein Werk frei von jeglichem Werturteil, um den Machtcharakter politischen Handelns offen zu legen und zu erklären. Dabei stützt er nicht auf Mythisches, sondern nur auf Rede und Tat (logoi kai orga). [3] Politik ist seinem Urteil nach nicht das dikaion eines Gerichtsprozesses, sondern ein kluger Kalkül der Macht zwischen chresimon und pleon echein. [4] In den Reden seines Werkes stellt Thukydides die Grundgedanken des Machtstrebens beispielhaft dar, indem er sich sophistischen Rhetorikmittel der Rede und der Gegenrede bedient. Ein Beispiel hierfür ist die Rede zwischen Nikias und Alkibiades. [5]

Thukydides bemüht sich mit seiner Geschichtsschreibung um die Darstellung des wirklich Geschehen unter Verzicht von ausschmückenden Elementen. "Wer aber klare Erkenntnis des Vergangenen erstrebt und damit auch des Künftigen, das wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird, der wird mein Werk für nützlich halten. Als ein Besitz für immer (...) ist es aufgeschrieben." [6]

Im Melierdialog lässt er die athenischen Feldherren folgendes sagen: "Wir glauben nämlich, dass der Gott wahrscheinlich, der Mensch ganz sicher allezeit nach dem Zwang der Natur überall dort, wo er die Macht dazu hat, herrscht. Wir haben dieses Gesetz weder aufgestellt noch als Bestehendes zuerst befolgt, als gegeben haben wir es übernommen und werden es ewig Gültiges hinterlassen." [7]

Die Perserkriege 490-479 stellen einen völligen Umbruch im klassischen Griechenland dar. Athens Aufstieg zur Großmacht begann mit dem Sieg bei Marathon 490 und wurde unter Themistokles 483/482 mit dem Bau der Flotte fortgesetzt, welche noch bis zur Sizilianischen Expedition das Rückgrat der attischen Streitkräfte bilden sollte. Durch die Bemannung der Schiffe durch die Theten, welche besitzlos und daher bis dahin unbedeutend waren, wuchs deren politischer Einfluss rasch und somit wurde der Demokratisierung ein deutlicher Vorschub geleistet. Nach den Siegen bei Salamis 480 und Plataitai 479 und der Vertreibung der Perser konnte Athen seine Macht in der darauffolgenden Pentekontaëtie - "50 Jahre" Frieden, 478-431 - festigen. Während dieser Zeit wurde das Selbstbewusstsein der Athener gestärkt und diese wurden "zu Rivalen der Vormachtstellung Spartas in Griechenland". 

Um seine Macht zu etablieren, gründete 478/477 Athen den delisch-attischen Seebund und war von da an der unumschränkte Beherrscher der Ägäis; die teilhabenden Inseln werden zu Beitragszahlungen verpflichtet, welche den Grundstock für Athen im Archidamischen Krieg (431-421) bilden sollten. 

Im Jahre 446/445 wurde zwischen Athen und Sparta ein dreißigjähriger Friede abgeschlossen, in welchem beide den jeweils anderen Machtbereich zu respektieren gelobten. Das konnte aber die Konflikte dieses Dualismus nicht dauerhaft beseitigen. 

Der wachsende Konflikt zwischen dem demokratischen Athen und dem Peloponnesischen Bund mit seiner oligarchischen Hegemonialmacht Sparta mündete im Jahre 431 aufgrund des vermehrten Aufeinanderprallens von territorialen und vor allem wirtschaftlichen Interessen [8] in den Peloponnesischen Krieg. Es waren de facto die Peloponnesier, die diesen Krieg wollten, und somit spaltete dieser ganz Griechenland in zwei Lager. [9] Perikles gab Attika preis, überließ es den Peloponnesiern unter Archidamos zur mehrmaligen Verwüstung und zog die Landbevölkerung zwischen die Langen Mauern zurück. Während der Krieg von beiden Seiten mit äußerster Brutalität und Grausamkeit geführt wurde, brach in Athen im Sommer 430 die Pest aus. Dies wurde Perikles angelastet, er wurde ab- und bald darauf aufgrund seiner herausragenden Fähigkeiten als Stratege wieder eingesetzt, worin man leicht die Wankelmütigkeit des  athenischen Volkes erkennen kann. [10] Nach dem Tod des Perikles 429 und einem langwierigen Kriegsverlauf, der von beiden Parteien einen hohen Blutzoll und Materialaufwand verlangte, kam es im Frühjahr 421 endlich zu einem Defensivbündnis zwischen Athen und Sparta - dem so genannten Nikiasfrieden. In den folgenden Jahren relativer Ruhe konnten sich die beiden ausgelaugten Kriegsparteien erholen "von der Seuche und dem ununterbrochenen Krieg hinsichtlich der Zahl kampffähiger Jugend, die nachgewachsen war, und der Anhäufung von Geld in Folge des Waffenstillstandes". [11]

Syrakus war während der Perserkriege zu einer der mächtigsten, griechischen Städte aufgestiegen und erstrebte die Hegemonie auf Sizilien. Im Winter 416/415 lag Egesta mit Selinus und Syrakus im Nachbarschaftskrieg, geriet in Bedrängnis und schickte Gesandte nach Athen aufgrund eines Bündnisses aus dem Jahre 426. [12] Sie baten um 60 Schiffe, deren einmonatigen Sold sie selbst stellen wollten, und versuchten die Athener auf folgende Weise zu überzeugen: Greife Athen nicht ein, werde Syrakus seine letzten Kontrahenten auf Sizilien vernichten und die Alleinherrschaft über die Insel erringen. Dann könnte es den Peloponnesischen Bund unterstützen und diese könnten gemeinsam Athen stürzen. [13] Athen war aber seinerseits auf die Herrschaft über die reiche und mächtige Insel aus, [14] um so die Peloponnes in die Knie zwingen zu können und seinen eigenen politischen und vor allem seinen wirtschaftlichen Einfluss durch den Reichtum Siziliens zu mehren. Gesandte Athens hatten in Egesta Geldmittel im Überfluss vorgefunden und somit schien der finanzielle Rückhalt der Unternehmung gesichert. [15] Dies sollte sich aber später zum Leidwesen der Athener als arglistige Täuschung durch die Egestaner herausstellen.

 So beschloss die Volksversammlung (ekklesia), dem Gesuch stattzugeben und als Feldherren wurden Alkibiades, Nikias und Lamachos bestimmt. Nikias erkannte als Kommandant die beträchtlichen Gefahren dieses Feldzugs, war deshalb dessen heftigster Gegner [16] und versuchte die ekklesia umzustimmen, indem er sie beschwor, das Heil der Stadt dem Risiko vorzuziehen. Er sieht den späteren Zusammenschluss von Syrakus und Sparta vorher, prangert die Inkonsequenz der militärischen Führung an, tritt für angemessenes und umsichtiges Handeln ein und stellt den langfristigen Nutzen eines etwaigen Erfolgs in Frage. [17]

Hier erweist sich Nikias als ein sehr verantwortungsvoller Politiker, indem er hier sagt, "dass derjenige ein Amt richtig verwaltet, der dem Vaterland soviel wie möglich nützt oder zumindest nicht schadet". [18] Hier besteht bemerkenswerter Weise eine fast wörtliche Übereinstimmung mit dem Amtseid des deutschen Bundeskanzlers. [19] Das beweist, dass die Politik schon seit dem klassischen Altertum kontinuierlich durch eine solche Haltung geprägt sollte, bei welcher man den Nutzen für das eigene Land der Herrschaft voranstellen sollte.

Alkibiades, ebenfalls Kommandant, vertrat den dazu absolut konträren Standpunkt, wodurch sich schon Konflikte in der Führungsstrategie abzeichneten. Er suchte mit der Expedition nicht nur den eigenen Bündnispartnern zu helfen, sondern "hoffte, dabei Sizilien und Karthago zu erobern und gleichzeitig, wenn er Glück habe, für sich selbst (Gewinn an) Reichtum und Ruhm Nutzen zu ziehen". [20] Die weiteren Absichten des Alkibiades werden im weiteren Verlauf noch genauer untersucht.

Er vertrat vor dem Demos seine "These von der Zwangsläufigkeit des Konflikts großer Mächte". [21] Seine Absicht war es, den Demos von den Vorteilen eines Präventivschlages zu überzeugen: Man könne im Falle eines Sieges den Peloponnesischen Bund zurückdrängen und die eigene "Macht noch mehr vergrößern" [22]. Athen könne nach Syrakus' Vernichtung selbst eine Hegemonialstellung im zentralen Mittelmeer erlangen und sich der florierenden Wirtschaft und des regen Handels Siziliens bedienen. Bei einem Scheitern bestünde aber keine Gefahr, da man aufgrund der eigenen Seemacht gefahrlos wieder heimwärts segeln könne. Verharre die Stadt aber untätig und wehre sich nicht, werde sie sich selbst aufreiben. [23] Denn diese Expedition bot unter günstigen Umständen die Möglichkeit, "das jahrzehntealte Problem attischer Politik, nämlich die Trennung der peloponnesischen von der sizilischen Macht und die Schwächung beider, auf Dauer zu lösen. In dieser Situation fielen außerdem die politisch und militärisch notwendigen Ziele erstmals mit den Wünschen des Demos zusammen." [24] Diese Expansionspläne waren ganz im Sinne des Demos, dieser war sich aber völlig im Unklaren über die Größe der Insel und die Zahl der dort lebenden Menschen und wusste nur, dass Sizilien von jeher als der "Goldene Westen" mit unglaublichem Reichtum und wirtschaftlichen Möglichkeiten galt. Deshalb hielten sie es für ein leichtes und sehr verlockendes Unternehmen und erkannten nicht, "dass sie darangingen, einen nicht geringeren Krieg anzufangen als gegen die Peloponnesier" [25].

Nikias versuchte abermals, den Demos davon abzubringen oder zumindest eine deutliche Aufstockung der Flotte zu erreichen, was ihm aber noch immer waghalsig erschien. Denn Nikias hielt es für unwahrscheinlich, dass das zur Hegemonialmacht aufgestiegene Syrakus sich bald gegen Athen wenden würde, [26] und weist auf Probleme der Versorgung der Expeditionskorps hin, womit er letztlich recht behalten sollte. [27] Auf sein Ersuchen hin ließ die Volksversammlung die Flotte auf 134 Trieren mit über 25000 Mann Besatzung [28] aufstocken und so wurde die Expeditionsstärke mehr als verdoppelt. Durch seine Bitte wollte Nikias eigentlich die Gefahren des Feldzuges verdeutlichen, erreichte aber nur, dass der Optimismus vieler Athener nur noch deutlich gesteigert wurde und mit einem derartigen Kontingent mehr als nur die Unterstützung Egestas zu erreichen schien. "Das war der größte Flottenverband, den jemals eine Polis entsandt hatte." [29] "Die Mehrzahl der Versammlungsteilnehmer stimmte in Überschätzung der Kräfte ihrer Polis und unter dem Eindruck der Argumentation des Alkibiades für ein Abenteuer, dessen Ausgang niemand voraussehen konnte." [30]

Die Heerführer hatten den Auftrag, den Egestanern die erbetene Hilfe leisten und "alles in Sizilien so zu regeln, wie sie es für Athen am günstigsten erachteten". [31] Dadurch wurden sie als Strategen mit unumschränkter Vollmacht ausgestattet. Durch diese neuartige Omnipotenz und das Nichtvorhandensein von konkreten Kriegsplänen sahen sich die Strategen neben den rein militärischen Aufgaben, erstmals auch umfassenden, politischen Aufgaben in Sizilien gegenüber gestellt, was ein zögerliches Handeln zur Folge hatte.

Alkibiades gehörte mütterlicherseits einem athenischen Adelsgeschlecht an, zu dem auch Kleisthenes und Perikles zählten. [32] Er wuchs im Hause seines Onkels Perikles auf, war aber durch die Sophistik der 420er Jahre geprägt und hatte "eine skeptische Distanz zum politischen System der athenischen Demokratie entwickelt. Ehrgeizig und skrupellos drängte er in die Politik. Was für ihn allein zählte, waren persönliche Macht und Einfluss." [33] Er war von einer außerordentlichen Arroganz geprägt und blieb gerade dadurch dem einfachen Mann in der Volksversammlung suspekt. [34] Mit nur 30 Jahren wurde er 420 zum Strategen gewählt und hintertrieb von da an die Annäherung zwischen Athen und Sparta mit allen Mitteln. [35] Der Staat war für ihn nur Mittel zur Befriedigung seines persönlichen Ehrgeizes. [36]

Sein ganzes Handeln konzentrierte sich auf das Mehren seines eigenen Ruhmes und Erfolges. Bei den Olympischen Spielen 416 errang er einen Dreifachsieg, stellte diesen aber nicht nur als seinen persönlichen Ruhm dar, sondern als Ruhmgewinn für die ganze Polis. So suchte er, sein eigenes Machtstreben als Nutzen für die Gemeinschaft zu verklären und damit den Aufwand zu rechtfertigen. 

Ein äußerst grausames Beispiel für den Machtgedanken des Alkibiades' ist die Vernichtung der neutralen und damit wehrlosen Insel Melos mitten im Frieden im Jahre 416. Im sogenannten Melierdialog [37] beleuchtet Thukydides Athens außenpolitisches Machtdenken im Sinne des Recht des Stärkeren und die daraus folgende Zuspitzung des Gegensatzes von Macht und Recht. Alkibiades ließ hier wegen Verweigerung der Bündnisfolge alle Männer ermorden und die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkaufen.

Kurz vor der Ausfahrt der Flotte nach Sizilien ereignete sich der sogenannte Hermenfrevel [38]; allen an Kreuzungen und Weggabelungen aufgestellten Hermesstatuen wurde der Kopf abgeschlagen. In der Bevölkerung wurde das "als übles Vorzeichen für das Unternehmen" [39] gewertet, da man den Schutz Hermes' als Gott des Geleits für eine weite Reise benötigte. Hier sieht man, dass  der Aberglaube in dieser Zeit noch sehr ausgeprägt war, durch welchen Athen sich immer wieder selbst behinderte. Die Feinde des Alkibiades beschuldigten ihn neben diesem Verbrechen auch noch an der Profanierung der eleusischen Mysterien beteiligt gewesen zu sein. Letzteres hatte neben der religiösen, auch noch eine politische Brisanz, da den Symposien, die solche Veranstaltungen abhielten, die Planung eines oligarchischen Staatsstreiches vorgeworfen wurde. Als Alkibiades auf eine möglichst schnelle Anhörung drängte, zögerten seine Kontrahenten die Verhandlung hinaus, um in seiner Abwesenheit leichter Verleumdungen gegen ihn erstellen zu können und ihn wieder aus seinem Kommando "zurückberufen und vor Gericht stellen zu lassen". [40] "Er beschwor sie, in seiner Abwesenheit nicht Verleumdungen über ihn anzuhören, sondern eher ihn gleich zu töten." [41]Trotzdem ließ man ihn erst einmal mit der Flotte nach Sizilien ausfahren und begann anschließend mit dem Prozess in Alkibiades' Abwesenheit.

In Unteritalien fanden die athenischen Feldherren anfangs keine Bündnispartner und machten sich auf die langwierige Suche nach Verbündeten, was viel Zeit in Anspruch nehmen sollte. Bei den athenischen Verbündeten in Sizilien fand die Größe der Flotte nur wenig Zustimmung, einige Städte mussten sogar mit Waffengewalt zur Bündnisfolge gezwungen werden wie zum Beispiel Katane. Dies war natürlich keine freiwillige Partnerschaft mehr, sondern die reine Ausbeutung unterlegener Städte zur eigenen Machterweiterung. Athen handelte hier außenpolitisch wieder einmal ganz klar nach dem Recht des Stärkeren. 

Das athenische Kommando verzichtete auf einen direkten Angriff auf Syrakus und somit ungewollt auch auf das Überraschungsmoment. Syrakus wäre es bei einem raschen attischen Angriff nicht verteidigungsfähig gewesen, da es den Berichten über einen athenischen Angriff zu Beginn keinen Glauben schenken wollte. Dass diese günstige Gelegenheit von Athen nicht genützt worden ist, ist wohl einer der Gründe für das spätere Scheitern der Expedition. 

Als äußerst verhängnisvoll sollte sich die Uneinigkeit unter den Strategen bezüglich des Kriegsplanes und die fehlende materielle Unterstützung aus Egesta erweisen. Die von Egesta in Aussicht gestellten Mittel für die Versorgung waren nämlich gar nicht vorhanden. Die Egestaner hatten ihren vermeintlichen Reichtum nur durch zahlreiche Leihgaben von befreundeten Städten vorgetäuscht, um so Athen zu Hilfe bewegen zu können. [42]

In Abwesenheit des Alkibiades' wurde der Prozess über die Hermokopiden wieder aufgerollt und seine Schuld festgestellt, obwohl niemand etwas Genaues über die Täter wusste - "weder damals noch später" [43]. Deshalb wurde er aus Sizilien nach Athen zurückbeordert, um sich wegen der Vorwürfe zu verantworten. Hierin bestand ein zweiter großer Fehler in der Ausführung der Expedition, weil somit man das Unternehmen seiner Seele beraubt hatte. [44]

Alkibiades entkam aber und setzte sich nach Sparta ab, da ihm bewusst war, dass er in Athen nicht einmal im Falle seiner Unschuld hätte freikommen können. Denn die Stimmung im Volk war nicht für ihn, sondern loyal gegenüber den Entscheidungen der Polisgemeinschaft, die sich nun gegen ihn gestellt hatte. Nach seiner Flucht wurde Alkibiades in absentia zum Tode verurteilt wurde. [45] So beraubte sich die blind wütende Menge ihres fähigsten Führers. "Chauvinismus, Misstrauen und Dummheit einten sich zu Orgien des Blutrauschs." [46] "So ist Alkibiades, der Heros der attischen Demokratie, zum Landesverräter geworden; die Befriedigung persönlicher Rachegefühle hat er höher gestellt als das Wohl und das Leben seiner Vaterstadt, die er in das größte Abenteuer seiner Geschichte gestürzt hatte." [47]

In Sparta legte Alkibiades den Kriegsplan der Athener dar. Dieser bestand nach seiner Aussage darin, dass die Athener nach der Unterwerfung von Sizilien und Unteritalien auch Karthago erobern wollten, um so die Peloponnes zu okkupieren und "hernach sogar das ganze Hellenenvolk zu beherrschen" [48]. Hier bleibt offen, ob diese Pläne wirklich so konzipiert waren oder ob sich in dieser Rede nur die übersteigerten Ambitionen des Alkibiades' widerspiegeln. Denn ein offener Krieg gegen Sparta lag zu Beginn der Expedition 415 sicherlich nicht im Interesse Athens. [49]

Sparta entsandte auf Anraten des Alkibiades' ein Heer unter der Führung des erfahrenen Offiziers Gylippos nach Syrakus, um dessen drohende Niederlage abzuwenden. Bis zum Eintreffen von Verstärkung aus Athen im Mai 414 konnte Nikias, der nun der dominierende Kommandeur war, nur wenig Erfolg erzielen. [50] Danach gelang es ihm, die strategisch wichtige Hochebene Epipolai vor Syrakus zu erobern und dieses vom Hinterland abzuschneiden, indem er Mauern zur Einschließung der belagerten Stadt errichten ließ. [51] Eine syrakusanische  Kapitulation konnte nur mehr durch die Nachricht vom nahen Eintreffen der spartanischer Unterstützung abgewendet werden. [52] Bevor aber die Athener die Stadt völlig abriegeln konnten, trafen die Lakedämonier unter Gylippos ein, konnten die Epipolai zurückerobern und durch Errichtung von Gegenmauern die Belagerung sprengen. [53] Das war der entscheidende Wendepunkt in der Belagerung von Syrakus. Die athenischen Truppen gerieten nun selbst in Bedrängnis. Sie waren nun vom Hinterland abgeschnitten und, nachdem sie die Landspitze Plemmyrion an der Zufahrt zum Großen Hafen verloren hatten, waren sie auch vom Nachschub aus Athen abgeschnitten. In Anbetracht der prekären Lage ersuchte Nikias die Heimatstadt, schellst möglich eine weitere Expedition ähnlichen Umfangs nach Sizilien zu schicken. Zur gleichen Zeit waren spartanische Truppen in Attika eingefallen, da Athen seinerseits den Nikiasfrieden gebrochen hatte. Die Lakedämonier befestigten die Burg Dekeleia nahe Athen und setzten der Stadt in der Folgezeit sehr zu. Athen war nun in die Bredouille geraten, einen Zwei-Fronten-Krieg führen zu müssen, wollte man Nikias nicht zurückbeordern. Trotz der eigenen Bedrängnis und Geldnot stellte Athen eine weitere Flotte von 73 Trieren unter dem Kommando des Demosthenes auf und sandte sie dem Nikias zu Hilfe, um dort die Belagerung aufrecht zu erhalten. Athen hatte sich so sehr in die Eroberung Siziliens verrannt, dass sie unter Entblößung der eigenen Stadt Truppen weit weg von der Heimat stationierten. Perikles hatte seiner Zeit zum Erhalt der Stadt gefordert, den Machtbereich in Kriegszeiten nicht auszuweiten. [54]

Mit dieser Verstärkung im Sommer 413 konnten die Athener zwischenzeitlich das Blatt wenden, wurden aber bei einem nächtlichen Angriff zurückgeschlagen und mussten erkennen, dass der Kampf um die Stadt nun nicht mehr zu gewinnen war. [55] Im folgenden wurde die einst so stolze Flotte Attikas in der Enge des Hafenbeckens immer mehr aufgerieben, da sie ihre Schlagkraft dort nicht entfalten konnte. Nach langer Uneinigkeit unter den Strategen [56], deren Zögern der Truppe oftmals geschadet hatte, wurde ein Rückzugsbeschluss gefasst. Als just während des Aufbruchs eine Mondfinsternis auftrat, wurde der Abmarsch um einen weiteren Monat verschoben. [57] Die Verzögerung durch diesen Aberglaube hatte nun das Schicksal der Expedition endgültig besiegelt. Ein Ausbruchsversuch zur See scheiterte an der Hafenblockade durch die syrakusanische Flotte [58] und der Rückzugsversuch auf dem Landweg wurde zum Desaster. Die desillusionierten, ausgemergelten Truppen boten den Verfolgern unter Gylippos eine leichte Beute. [59] Athen musste kapitulieren, die Führer Nikias und Demosthenes wurden hingerichtet und die Soldaten, die noch am Leben geblieben waren, wurden unter menschenunwürdigen Bedingungen in den berüchtigten Steinbrüchen gefangen gehalten, bevor man sie in die Sklaverei verkaufte. [60]

Das Scheitern des athenischen Expeditionskorps ist die Peripetie des Peloponnesischen Krieges geworden und stellte somit den Wendepunkt in der gesamten Alten Welt dar. Der Verlust seiner Flotte bedeutete für Athen sowohl militärisch, als auch wirtschaftlich das Ende. Von diesem Schlag sollte es sich nie wieder erholen. Die Expedition war vom Ansatz her verfehlt gewesen. Alkibiades hatte Kriegsgefahr an die Wand gemalt, die in einem solchen Ausmaß keineswegs bestand. [61] Eine weitere Ursache für das Scheitern lag für Thukydides in der inkonsequenten Führung.

Quelle 

Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Stuttgart 2000. 

Literatur 

BENGTSON, Hermann: Griechische Geschichte: Von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit. 2.Aufl. München 1960. 

FUNKE, Peter: Athen in klassischer Zeit. München 1999. 

OTTMANN, Henning: Philosophie und Politik bei Nietzsche. Berlin 1987. 

SCHACHERMEYR, Fritz: Griechische Geschichte. Stuttgart 1960. 

SCHADEWALDT, Wolfgang, Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen. Frankfurt am Main 1982. 

WEILER, Ingomar (Hrsg.), Grundzüge der politischen Geschichte des Altertums. 2.Aufl. Wien 1995. 

WELWEI, Karl-Wilhelm: Das klassische Athen. Darmstadt 1999. 

WENTKER, Hermann: Sizilien und Athen. Heidelberg 1956. 

Anmerkungen

  • [1]

     SCHADEWALDT, Wolfgang: Die Anfänge der Geschichtsschreibung bei den Griechen, Frankfurt am Main 1982, S. 229.

  • [2]

     THUKYDIDES: Der Peloponnesische Krieg, Stuttgart 2000, S. 5.

  • [3]

     OTTMANN, Henning: Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin 1987, S. 221-226.

  • [4]

     OTTMANN: Nietzsche, S. 221.

  • [5]

     THUKYDIDES: VI 9-23.

  • [6]

     THUKYDIDES: I 22,4. (Methodenkapitel)

  • [7]

     THUKYDIDES: V 105,2.

  • [8]

     WEILER, Ingomar (Hrsg.): Grundzüge der politischen Geschichte des Altertums. 2.Aufl. Wien 1995, S. 61-64. THUKYDIDES: I 67.

  • [9]

     THUKYDIDES: II 9.

  • [10]

     BENGSTON, Hermann: Griechische Geschichte: Von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit. 2.Aufl. München 1960, S. 219-221.

  • [11]

     THUKYDIDES: VI 26,2.

  • [12]

     THUKYDIDES: VI 6,2.

  • [13]

     ebd.

  • [14]

     THUKYDIDES: VI 6,1.

  • [15]

     THUKYDIDES: VI 8,2.

  • [16]

     THUKYDIDES: VI 8,4.

  • [17]

     THUKYDIDES: VI 9-14.

  • [18]

     THUKYDIDES: VI 14

  • [19]

     Artikel 56 und 64 des GRUNDGESETZES für die Bundesrepublik Deutschland: "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohl des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe."

  • [20]

     THUKYDIDES: VI 15,2.

  • [21]

     WELWEI, Karl-Wilhelm: Das klassische Athen, Darmstadt 1999, S.202.

  • [22]

     THUKYDIDES: VI 18,4.

  • [23]

     THUKYDIDES: VI 15-18.

  • [24]

     WENTKER, Hermann: Sizilien und Athen, Heidelberg 1956, S. 133.

  • [25]

     THUKYDIDES: VI 1,1.

  • [26]

     WELWEI: Athen, S. 202.

  • [27]

     THUKYDIDES: VI 21,2.

  • [28]

     BENGSTON: Griechische Geschichte, S. 233.

  • [29]

     FUNKE, Peter: Athen in klassischer Zeit, München 1999, S. 93.

  • [30]

     WELWEI, Karl-Wilhelm: Das klassische Athen, S. 203.

  • [31]

     THUKYDIDES: VI 8,2.

  • [32]

     THUKYDIDES: Der Peloponnesische Krieg, Stuttgart 2000, S. 765.

  • [33]

     FUNKE: Athen, S. 91f.

  • [34]

     WELWEI: Athen, S. 206.

  • [35]

     FUNKE: Athen, S. 91f.

  • [36]

     THUKYDIDES: Der Peloponnesische Krieg, S. 765f.

  • [37]

     THUKYDIDES: V 85-113.

  • [38]

     THUKYDIDES: VI 27-29.

  • [39]

     THUKYDIDES: VI 27,3.

  • [40]

     THUKYDIDES: VI 29,3.

  • [41]

     THUKYDIDES: VI 29,2.

  • [42]

     THUKYDIDES: VI 46.

  • [43]

     THUKYDIDES: VI 60,2.

  • [44]

     BENGSTON: Griechische Geschichte, S. 235.

  • [45]

     THUKYDIDES: VI 61,7.

  • [46]

     SCHACHERMEYR, Fritz: Griechische Geschichte. Stuttgart 1960, S. 204.

  • [47]

     BENGSTON: Griechische Geschichte, S. 234.

  • [48]

     THUKYDIDES: VI 90,3.

  • [49]

     THUKYDIDES: VI 105,2.

  • [50]

     THUKYDIDES: VI 67-71.

  • [51]

     BENGSTON: Griechische Geschichte, S. 235.

  • [52]

     THUKYDIDES: VII 2,1.

  • [53]

     THUKYDIDES: VII 3-6.

  • [54]

     THUKYDIDES: II 65,7.

  • [55]

     THUKYDIDES: VII 43-46.

  • [56]

     THUKYDIDES: VII 47-49.

  • [57]

     BENGSTON: Griechische Geschichte, S. 236.

  • [58]

     THUKYDIDES: VII 69-71.

  • [59]

     THUKYDIDES: VII 72-81.

  • [60]

     THUKYDIDES: VII 82-87.

  • [61]

     WELWEI: Athen, S. 210.

Empfohlene Zitierweise

Wallner, Mike: Die Zweite Sizilische Expedition 415-413. aventinus antiqua Nr. 8 (Sommer 2006), in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7704/

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Erstellt: 20.05.2010

Zuletzt geändert: 24.05.2010

ISSN 2194-1947