Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert (1990ff.)

  / aventinus / Neuzeit / Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert (1990ff.)

aventinus nova Nr. 22 [20.07.2010] / Perspektivräume Jg. 1 (2010) Heft 1, S. 93-105

 

Christian Hellwig 

„This is totally going into my Blog!“

Wikis, Blogs & Tageszeitungen: Medien am Scheideweg 

Diese Nacht würde nicht nur eine historische, sondern auch eine lange Nacht werden. Die Blicke der ganzen Welt richteten sich gen USA, wo am 4. November 2008 das amerikanische Volk über seinen neuen Präsidenten abstimmte. Als die ersten Bundesstaaten nach Schließung der Wahllokale ihre Hochrechnungen veröffentlichten, zeigte sich schnell, dass es bis zu einer endgültigen Entscheidung noch dauern würde. In vielen Staaten zeichnete sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen McCain und Obama ab. Der Wahlausgang für den Zuschauer am Fernseher: völlig offen. 

Aber wie sah es mit dem Zuschauer aus, der die Wahl in den Weiten des Internets verfolgte? Glücklich musste sich derjenige schätzen, der dem Aufruf von Anchorman Claus Kleber zur »Nacht im Netz« [1] gefolgt war. Da war er nun, der Chef der ZDF-Nachrichtenredaktion. Nicht wie üblich in Krawatte, sondern mit hochgekrempelten Hemdsärmeln saß er inmitten einer Gruppe Studenten der American University in Washington und übte sich im Umgang mit den »neuen« Medien. Im Hintergrund dröhnte der „Yes we can!“-Lärm einer in der Aula der Universität stattfindenden Wahlparty. Derweil stürzten völlig ungeordnet die Informationsfetzen auf die Beteiligten ein: Meinungen von Weblogs, die Internetauftritte der etablierten Medien, dazu Skype und Twitter. „So schnell kann ja kein OECD-Wahlbeobachter zur Stelle sein“, entfuhr es Kleber erstaunt, als ihm mitgeteilt wurde, dass die Wähler damit begonnen hatten, über Twitter zu kommunizieren, ob es in ihrem Wahllokal bei der Stimmabgabe zu irgendwelchen Auffälligkeiten gekommen sei.

Während also die Wahlstudios von ARD und ZDF den TV-Zuschauer darauf vorbereiteten, bis zur endgültigen Entscheidung noch einige Stunden vor dem Fernseher ausharren zu müssen, wussten Kleber und seine Crew scheinbar schon mehr: Lange bevor die Wahl entschieden war, meldete sich George W. Bushs oberster Wahlkämpfer Karl Rove auf seinem persönlichen Blog zu Wort, um schon nach den ersten Hochrechnungen vorauszusagen, dass Barack Obama die Wahl am Ende mit über 300 Wahlmännern gewinnen würde. Doch von dem orakelnden Rove bekamen die meisten wohl nichts mit. Als sich dann schließlich in den Tagen nach der Wahl die „alte Frau ARD“ gramgebeugt auf ihren Krückstock stützte und mit den Worten, dass „man genauso gut auch aus einem Keller in Wanne-Eickel hätte senden können“ [2], die schwache Quote beklagte, hatte man den Eindruck, dass just in diesem Moment der Enkel an der Seniorin fröhlich pfeifend vorbei defilierte: Die Generation Web 2.0 – jung, dynamisch, hipp und sexy?

Auch wenn es die einführenden Worte durchaus suggerieren: Dieser Essay versteht sich nicht als argumentativer Kampfanzug, um eine Superiorität »neuer« Medien [3] gegenüber den »alten« Medien zu postulieren. Es soll an dieser Stelle vielmehr darum gehen, Möglichkeiten aufzuzeigen und nicht in apodiktischer Manier einen Königsweg vorzugeben, der ultimative Geltung beansprucht. Jeder Medientypus hat seine Schwächen, ebenso wie er seine ganz spezifischen Stärken hat. Fernsehen, Radio und Zeitung sehen sich dabei mit den Möglichkeiten alternativer Informationsmöglichkeiten aus dem Internet konfrontiert, die das vorhandene Angebot auf der einen Seite ergänzen können, die sich auf der anderen Seite aber auch immer in einem Spannungsfeld konkurrierender Interessen befinden. Eine Konkurrenz, die – induziert durch ökonomischen Druck – bisweilen seltsame Blüten trägt: „Die Internet-Blogs zersetzen das informierte und unabhängige Urteil“ [4] ist eine jener polemischen Schlagzeilen, die in letzter Zeit für Empörung in der Blogosphäre gesorgt haben. Diese lässt es sich in diesem Generationen- und Kulturkampf dann auch nicht nehmen, just zurück zu keilen: „Sie [Die Journalisten, C.H.] sind über Nacht alt geworden, und dafür hassen sie die Jugend.“ [5]

Auch wenn sich solche Thesen wegen ihres dezidiert vorurteilsbehafteten und wenig weiterführenden Tenors selbst disqualifizieren, zeigen sie doch umso deutlicher, dass es notwendig ist, der Debatte ihre polemische Schärfe zu nehmen. Sinn und Zweck dieses Essays soll es somit sein, einen Diskurs zu eröffnen, der mit den Mythen um Sinn oder Unsinn des informativen Potentials des Internets bricht. Des Weiteren soll in diesem Beitrag auch auf die Möglichkeiten der Partizipation des Einzelnen im World Wide Web eingegangen werden, und zwar – exemplifiziert anhand von Blogs und Wikis – nicht nur hinsichtlich des passiven Rezipierens von Informationen, sondern vor allem eben auch in Bezug auf die eigene, aktive und kreative Beteiligung im Internet. 

Von der Tageszeitung bis zum Weblog: Chancen und Potentiale 

Die Welt ist im Wandel. Die Revolution der Medienlandschaft, ausgelöst durch die vernetzten Möglichkeiten des Internets, ist zur Zeit nicht zu stoppen. In den USA informierten sich 2008 erstmals mehr Bürger im Internet als in den Printausgaben der Tageszeitungen. [6] Neben dem Vorteil der Aktualität – so vermelden Zeitungen stets die Nachrichten von gestern, während das Internet die Nachrichten der letzten Minute verbreitet – ist dies wohl vor allem der Tatsache geschuldet, dass immer weniger Leute dazu bereit sind für Nachrichten zu bezahlen, die es Online auch umsonst gibt. Diese Entwicklung hat die amerikanische Zeitungsbranche in eine tiefe Krise gestürzt und auch in Deutschland ist eine vergleichbare Entwicklung zu beobachten. Das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) kam in seiner jüngsten Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Zeitungen und Fernsehen als Nachrichtenmedien an Bedeutung verlieren, während das Internet massiv zulegt. Mittlerweile nutzen 22,1 Millionen, also 45 Prozent der Bundesbürger im Alter von 14 bis 64 Jahren das Netz täglich. Bei Akademikern unter 40 Jahren sind im Übrigen auch in Deutschland amerikanische Verhältnisse zu finden: Das Internet fungiert als primäre Informationsquelle, noch vor der Tageszeitung. [7]

Renate Köcher, Geschäftsführerin des IfD, bezeichnet diese Entwicklung nicht nur als Verschiebung des Mediengefüges, sondern auch als neue Informationskultur, der folgende Spezifika inhärent sind: Erstens: „Die Nutzung von Informationen erfolgt zunehmend anlass- und ereignisgetrieben, der habituelle Griff zu Zeitung oder Fernbedienung ist passé.“ Zweitens: „Die Nutzer reagieren auf die Informationsfülle mit einer Verengung ihres Interessenspektrums.“ Drittens: „Die Nutzer konzentrieren sich stärker auf Informationen, die ihnen persönlich etwas nützen.“ [8] Die endgültigen Konsequenzen, die sich aus diesem neuen „On-Demand-Informationsverhalten“ [9] ergeben, mögen zwar zur Zeit noch nicht in Gänze absehbar sein, doch evozieren diese ohne jeden Zweifel schon jetzt einen signifikanten Bedeutungsverlust der etablierten Medien.

Ein Bedeutungsverlust, der ganz entscheidend zu dem bereits erwähnten Kultur- und Generationenkampf beigetragen haben dürfte. Oft wird in diesem Zusammenhang von Seiten der etablierten Medien auf die schwierige Verifizierbarkeit von Informationen aus dem Internet hingewiesen. Zwar mag ein solcher Skeptizismus hinsichtlich der schier unkontrollierbaren Flut an Informationen im Internet berechtigt sein, doch muss die augenscheinliche und dogmatische Liebe zu einer als Qualitätsausweis apostrophierten Exklusion der »alten« Medien in Bezug auf ihre modernen Abkömmlinge durchaus überraschen. Im Übrigen finden sich derartige Mechanismen der konservativ-elitären Abgrenzung auch bei deutschen Universitäten, an denen es noch viel zu oft zum guten Ton gehört dem humboldtschen Bildungsideal in Bibliotheken zu frönen und eben nicht in den, mit einer missbilligend hochgezogenen Augenbraue versehenen, Weiten des Internets.

Dabei muss diese Abgrenzung, also die dogmatische Unterscheidung in »alte« und »neue« Medien, in der Praxis als durchaus fragwürdig bezeichnet werden. Ist es nicht vielmehr längst so, dass es zwischen Zeitungen, Fernsehen und wissenschaftlicher Literatur auf der einen Seite sowie Blogs, Wikis, und sonstigen Formen des WEB 2.0 auf der anderen Seite zu einem interdependenten Verhältnis gekommen ist? Wenn Zeitungen und Fernsehen in ihrer Berichterstattung auf Twitter, Wikipedia und YouTube als Informationsquellen rekurrieren, muss die Frage nach der Henne und dem Ei in der Tat neu gestellt werden. 

Dass das einem pawlowschen Reflex gleichende Wettern der Alten auf die Jugend mitunter auch zu einem höchst peinlichen Bumerang werden kann, bewies vor kurzem eindrucksvoll ein anonymer Blogger auf Bildblog [10], der anlässlich der Ernennung Karl-Theodor zu Guttenbergs zum Bundeswirtschaftsminister den entsprechenden Eintrag bei der Wikipedia manipulierte. In dem Beitrag ist zu lesen:

„In zu Guttenbergs Wikipedia-Eintrag fielen mir die zahlreichen Vornamen des adeligen Politikers auf. Ich fragte mich, ob es jemand merken würde, wenn ich zu der langen Namensliste einfach einen weiteren hinzufügen würde. Es stellte sich heraus: Niemand merkte es – und etliche Online-Medien, Zeitungen und Fernsehsender schrieben meine Erfindung ungeprüft ab. […] Der Minister und sein neuer Name kamen unter anderem ins „RTL-Nachtjournal“, in die „taz“, die „Rheinische Post“ und die „Süddeutsche Zeitung“ (und andere). Und eben auch auf die Titelseite der „Bild“.“ 

Und die Moral von der »Geschicht«? 

„Weil Journalisten ungeprüft von Wikipedia abschreiben und Wikipedia journalistische Texte als glaubwürdige Quelle betrachtet, wurde der erfundene Vorname schnell zur medialen Wirklichkeit.“ [11]

Mit anderen Worten: Die Verifizierung von Nachrichten und Informationen, ob nun im Fernsehen, in der Zeitung oder eben auch im Internet ist eine äußerst diffizile Angelegenheit. Abgesehen davon, dass sowieso jede Nachricht auf Grund der eingenommenen Perspektive subjektiven Charakters ist, ist das Vorurteil, dass die etablierten Medien per se zuverlässiger seien als die Konkurrenz aus dem Internet, in das Reich der Mythen zu verbannen. Noch mögen Zeitungen, Fernsehen und Radio dabei die institutionalisierteren Medientypen sein, doch ist dieser Status einem offensichtlichen Erosionsprozess ausgesetzt. Deshalb ist es auch für die »alten« Medien unerlässlich, die Potentiale des Internets und damit auch die von Renate Köcher ventilierte neue Informationskultur zu erkennen und zu nutzen, anstatt die vermeintlichen Unterschiede oder gar die eigene Superiorität zu betonen. Michail Gorbatschows geflügelter Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ scheint auch in Bezug auf die durch das Internet induzierte Demokratisierung der Informationen äußerst passend: Wenn der Nutzer in den etablierten Medien die gewünschten Informationen nicht findet, dann sucht er sie in Blogs und Wikis eben selbst.

Gerade die sogenannten Weblogs erweisen sich in dieser Hinsicht als probates Mittel, um dem personalisierten Bedürfnis nach Information Rechnung zu tragen. Auch deshalb, weil diese die Hürden zur Veröffentlichung eigener Texte, Bilder oder anderer multimedialer Inhalte im Internet weiter gesenkt haben. [12] Mit anderen Worten: Bloggen kann jeder. Doch was sind eigentlich Blogs?

„Weblogs (oder kurz Blogs) sind regelmäßig aktualisierte Webseiten, die bestimmte Inhalte in umgekehrt chronologischer Reihenfolge darstellen und üblicherweise durch Verweise und Kommentare untereinander sowie mit anderen Online-Quellen verbunden sind.“ [13]

Die Blogosphäre als solche ist dabei extrem heterogen: Neben Blogs, die sich zuvorderst als persönliche Tagebücher verstehen, können Blogs ebenso als Medien der (internen wie externen) Organisationskommunikation und des persönlichen Wissensmanagements auftreten wie auch als journalistische Publikationen. Zusammenfassend: Weblogs lassen sich „in ihren unterschiedlichsten Ausformungen irgendwo zwischen privater Homepage und professioneller Nachrichtenagentur“ ansiedeln. Gerade auch diese Fraktionierung der Erscheinungsformen dürfte erheblich dazu beigetragen haben, dass sich das Weblog als relativ neues Mittel der Kommunikation in seiner Beurteilung zwischen den Extremen einer „demokratischen Partizipation“ einerseits und der „Banalisierung des Alltages“ andererseits wiederfindet. [14]

Noch fristet die deutschsprachige Blogosphäre in diesem Zusammenhang im internationalen Vergleich ein relatives Schattendasein. Gerade bezüglich dieses Aspekts steht eine historisch-kulturelle Untersuchung noch aus, die der Frage nachgeht, warum Deutschland das Land mit der zweitgrößten Wikipedia-Ausgabe ist, das Weblog bislang aber nur eine untergeordnete Rolle spielt. [15] An der Tatsache, dass die Deutschen ihre Ferien extrem ernst nehmen, der Blogger an sich aber keine Ferien kennt, so eine der Thesen des amerikanischen Bloggers Felix Salmon, wird es mit Sicherheit nicht liegen. [16] Fakt ist jedoch, dass Blogs gerade in den USA längst zu einem etablierten, alltäglichen und ernstzunehmenden Medium der Kommunikationsvermittlung geworden sind. Abzulesen ist dies auch und vor allem an der amerikanischen Populärkultur. „This is totally going into my blog!“ ist einer der geflügelten Sätze von Barney Stinson, einer von Neil Patrick Harris verkörperten, und mit den Attributen des modischen und hippen Lifestyles versehenen Figur aus der US-amerikanischen Sitcom »How I met your Mother«. Eine entsprechende Referenz in einer deutschen (Comedy-)Serie ist bislang – nicht ohne Grund – nur schwer vorstellbar. Die kommenden Jahre werden somit Aufschluss darüber geben müssen, wie sich die Blogosphäre in Deutschland weiter entwickelt.

Auch wenn Blogger mit ihren Posts (Beiträgen) nur in den seltensten Fällen ein Massenpublikum erreichen können, anders etwa als Formate wie »Spiegel-Online«, so sind auch Blogs – im umgekehrten Sinne – Massenphänomene, da jede Person mit Zugang zum World Wide Web über die Möglichkeit verfügt, zum Produzenten eigener Nachrichten zu werden. [17] Man könnte dies im weitesten Sinne unter dem Schlagwort des »Journalismus von unten« zusammenfassen, doch würde diese Bezeichnung der Vielfältigkeit der Blogosphäre nicht gerecht werden. Zum einen würden sich nur die wenigsten Blogger selbst als Journalisten bezeichnen, und zum anderen fallen circa 70 Prozent aller Blogs unter die Rubrik des persönlichen Online-Tagebuchs (Stand 2003). [18]

„Die Öffentlichkeit [des WWW, C.H.] ist dabei gewollt, aber es ist eine andere Öffentlichkeit als die der Massenmedien: Sie ist das Mittel zum Zweck, um andere Menschen zeit- und ortsunabhängig am eigenen Leben teilhaben zu lassen und die Chance zu eröffnen, bislang unbekannte Personen mit ähnlichen Interessen kennen zu lernen.“ [19]

Möglichkeiten, die gerade auch durch die Kommentarfunktion von Weblogs geschaffen werden, die eine interaktive Kommunikation zwischen Autor und Leser ermöglicht. 

Weblogs, die sich als Instrument der Selbstdarstellung [20] und des Identitätsmanagements [21] verstehen, machen somit einen großen Teil der Blogosphäre aus, stehen jedoch nur selten im Fokus des öffentlichen Interesses. Ganz im Gegensatz zu jenen Blogs, die dezidiert für sich beanspruchen, Informationen von gesellschaftlicher und nicht nur persönlicher Relevanz im Internet zu verbreiten. Dies können zum Beispiel Blogs als Mittel des zivilen Widerstands gegen ein politisches System sein (Iran, China), oder aber auch Blogs, welche die etablierte Medienlandschaft kritisch kommentierend begleiten (in Deutschland u. a. BILDblog) und somit quasi journalistischer Natur sind. Es wäre an dieser Stelle wenig zielführend, auf sämtliche Erscheinungsformen von Weblogs eingehen zu wollen. Wesentlich wichtiger ist die Frage nach dem persönlichen Nutzen, den das Betreiben eines Blogs mit sich bringen kann. Es wurde im Vorigen bereits gezeigt, dass Blogs für die Leser als Informationsinseln spezifischer Interessen („News that are relevant to me.“ [22]) dienen können. Doch welche Vorteile können Blogs für den Blogger an sich bieten?

Die These, dass Weblogs die Formen der persönlichen und beruflichen Selbstdarstellung verändern und die Möglichkeiten der Identitätsbildung beeinflussen können, ist nicht von der Hand zu weisen. [23] Zum einen bringt das schier unerschöpfliche Gedächtnis der Suchmaschinen unweigerlich mit sich, dass einmal ins Netz gestellte Informationen für einen sehr langen Zeitraum abrufbar bleiben, und zum anderen führt die einfache Bedienung von Weblog-Software (Wordpress, Blogger) dazu, dass sich jeder in nur ein paar Minuten einen eigenen Blog erstellen kann. [24] Wer bloggt, der möchte sich oder seine Inhalte präsentieren. Sei es aus Spaß an der Freude, zur Verbesserung der eigenen Schreibkompetenzen, um auf sich selbst aufmerksam zu machen, oder aber auch schlicht und ergreifend aus der Hoffnung heraus, sich mit dem Betreiben eines Blogs ein berufliches Sprungbrett schaffen zu können, denn mit Blogs lässt sich immer öfter auch Geld verdienen. Mit anderen Worten:

„Weblogs steigern somit die Chancen für gelingende Kommunikationen und können – insoweit sie den Erwerb sowohl personenbezogener als auch beruflich relevanter Kompetenzen fördern – funktional für eine Gesellschaft sein.“ [25]

Davon, dass Weblogs das informierte Urteil zersetzen, kann also keine Rede mehr sein. Vielmehr können und müssen Blogs als wertvolles Mittel interpersoneller Kommunikation und individueller Nachrichtengenerierung verstanden werden. Es soll an dieser Stelle natürlich nicht unterschlagen werden, dass sich bei der ungeheuren Anzahl von Blogs, die im Internet kursieren, auch ein ganz erheblicher Anteil gedanklicher Ausschussware finden lassen wird. Doch wer schon einmal durch die Zeitschriften in einem Bahnhofskiosk geblättert hat, wird bestätigen können, dass dies beileibe kein Spezifikum des Internets ist.

Während Blogs in der deutschen Öffentlichkeit noch relativ wenig beachtet werden, ist die Wikipedia zu einer der wichtigsten Informationsquellen für die Gesellschaft geworden. Die deutsche Version stellt mit rund 894.000 Artikeln (Stand: Mai 2009) die zweitgrößte Ausgabe des im Selbstverständnis basisdemokratischen Onlinelexikons. Wer im Internet nach einem Stichwort sucht, der wird früher oder später (eher früher) bei der Wikipedia landen. Dabei ist die Wikipedia nicht unumstritten, und auch hier – wie so oft – ist zu beobachten, dass sich die Debatte vor allem um die Deutungshoheit des Wissens dreht. Zum einen sehen sich die Herausgeber traditioneller Enzyklopädien in ihrer Stellung bedroht, und zum anderen sehen weite Teile der etablierten Wissenschaft in der Wikipedia den Untergang des Deutungsmonopols eben dieser begründet. [26] Diese Auseinandersetzung kulminiert regelmäßig in einen intensiv geführten und noch nicht entschiedenen Streit um die Qualität, also Richtigkeit, der in der Wikipedia offerierten Informationen. [27]

All dieser dogmatischen Debatten zum Trotz:  

„Mit geringsten Mitteln, ohne klare Organisationsstruktur, allein durch eine erhebliche Anzahl an Freiwilligen, entsteht die größte Wissenssammlung der Welt.“ [28]

Ein Prinzip, das auf Grund seines in der Theorie basisdemokratischen Anspruches durchaus faszinierend ist. Ohne die regulierende Funktion eines Peer-Review-Verfahrens vertraut die Wikipedia auf die sich selbst kontrollierende und reinigende Kraft ihrer Nutzer. Doch natürlich ist nicht alles Gold, was glänzt: Dass das Ideal einer kollaborativ schreibenden Gemeinschaft, die untereinander völlig gleichberechtigt ist, letztlich ein eben solches bleiben muss, zeigt sich auch an der Wikipedia, die bei weitem nicht frei von Problemen ist. 

Eine intensive und ausführliche Auseinandersetzung mit den Strukturen der Wikipedia würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, so dass es bei einer kurzen Aufzählung aktuell virulenter Problemfelder der Wikipedia, die sich für den nach Informationen suchenden Nutzer ergeben, belassen werden soll. Erstens: Die Autorenschaft einzelner Artikel ist nur schwer zu verifizieren. Nicknames und/oder IP-Adressen sind kein verlässlicher Maßstab. Zweitens: Die hierarchischen Strukturen innerhalb der Wikipedia sind nur schwer nachzuvollziehen. Zum Beispiel ist bezeichnenderweise im deutschen Artikel über »Wikipedia« zu lesen: „Die Einflussstruktur der Wikipedia ist komplex und erschließt sich in der Regel erst nach längerer aktiver Teilnahme.“ [29] Drittens: Qualität, Zuverlässigkeit, Vandalismus sowie die Wahrung von Urheberrechten innerhalb der Artikel sind für den Nutzer nur schwer zu eruieren.

Unter Berücksichtigung dieser Probleme ist wohl Jan Sebastian Schmalz zuzustimmen, der davon ausgeht, dass das basisdemokratische Wiki-Ideal der freien Partizipation langfristig kaum erfüllt werden kann (was sich ja auch in der konkreten Praxis der Wikipedia zeigt):  

„Denn während dieses Ideal eine völlige Gleichwertigkeit von Beiträgen und Gleichrangigkeit von Akteuren propagiert, ist eine funktionale, teilweise auch hierarchische Differenzierung in verschiedene Rollen nicht nur notwendig, sondern sie geschieht auch automatisch bzw. ohne zentrale Steuerung. Das ist durchaus zweckmäßig, denn jede Heterarchie und damit jedes Wiki braucht verschiedene Rollen und dazugehörige Leistungserbringer, um handlungs- und entscheidungsfähig zu sein.“ [30]

Dass die Wikipedia deswegen noch lange nicht undemokratisch ist, zeigt ein ver­gleichender Blick auf das politische System der Bundesrepublik Deutschland: Das Volk als Souverän („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“) hat seine im Prinzip unveräußerlichen Rechte auf vom Volk gewählte Entscheidungsträger übertragen. Auch in diesem Fall ist die direkte Demokratie zu Gunsten einer hierarchisierten und funktionaleren Staatsform, also der parlamentarischen Demokratie, aufgegeben worden. 

Das Wiki-Prinzip des kollaborativen Schreibens findet aber natürlich nicht nur in der Wikipedia, dem prominentesten Beispiel, Verwendung. Der persönliche Nutzen, sich an einer Wiki aktiv zu beteiligen, liegt klar auf der Hand: Es können sowohl Schreib- als auch Diskussionskompetenzen erworben werden. Gerade deshalb scheint das Prinzip der Wikis auch im Kontext von (universitären) Lehrangeboten nicht ohne Reiz. Gemäß des Prinzips der kollaborativen Arbeitsweise kann jeder gleichberechtigt und unter Berücksichtigung seiner persönlichen Fähigkeiten an der Lösung eines Problems mitarbeiten. 

„Rechte, Pflichten und Aufgaben der einzelnen Akteure werden also nicht zentral und explizit definiert [im Unterschied zum Prinzip der Kooperation], sondern ergeben sich dynamisch aus dem Arbeitsprozess heraus – Rollen und Akteure sind nur temporär miteinander verbunden.“ [31]

Gleichzeitig determiniert allerdings der universitäre Rahmen die Grundbedingungen von Wikis. Christoph Koenig, Antje Müller und Julia Neumann bringen es auf den Punkt, wenn sie im Ergebnis ihres „Feldversuchs“ darauf hinweisen, dass die Bedingung der universellen Lehre, die Freiwilligkeit der Beiträge, ansonsten spezifisches Charakteristikum der Wikis, aufgehoben wird, so dass konstatiert werden muss: 

„Ein Wiki scheint sich hervorragend als Lernangebot zu eignen, aber wenn Verpflichtungen oder Garantien erfüllt werden müssen, entstehen Probleme.“ [32]

So sind sie eben, die Studenten (nicht nur) von heute. 

Fazit 

Auch wenn sich der vorliegende Essay nicht als »Kampfanzug« versteht, ist in den vorigen Ausführungen doch eine klare Position vertreten worden. Die strikte Unterscheidung in »alte« und »neue« Medien ist in das Reich der Mythen zu verweisen. Wenn ein professioneller Journalist bloggt, ein Journalist sich bei Laien (z. B. Wikipedia und Twitter) bedient, Wissenschaftler bei der Wikipedia schreiben und ein Laie journalistisch tätig ist, dann muss von einem wechselseitigen, kaum noch zu trennenden Verhältnis zwischen etablierten und neuen Formen von Kommunikation und Information ausgegangen werden. Es können an dieser Stelle keine definitiven Antworten auf die Frage offeriert werden, wie sich die Medienlandschaft in den nächsten Jahren verändern, sich das Gefüge verschieben wird. [33] Doch es ist offensichtlich, dass zur Zeit eine Entwicklung stattfindet, die noch lange nicht am Ende ist.

Nicht zuletzt wird sich auch das alltägliche Arbeiten für den Historiker signifikant verändern. Neben den erwähnten neuen Arbeitsmethoden und Möglichkeiten für Forschung, Studium und Lehre (Stichwort: Wikis) wird sich auch die Quellenarbeit weiter verändern. Weblogs, Foren und sonstige Plattformen gesellschaftlicher Kommunikation werden in naher Zukunft den gleichen Stellenwert einnehmen, den zum Beispiel Tagebücher als historische Quellen heute schon haben. Herausforderungen warten auch auf anderen Gebieten: Wie sich der Historiker zum Beispiel in Zukunft den E-Mail Beständen wirtschaftlicher Unternehmen annehmen will, ist nur eines der kommenden Problemfelder. Dabei ist im Moment nur schwer einschätzbar, wie schnell diese Entwicklungen weiter vonstatten gehen und wohin sie führen werden. Eines ist jedoch gewiss: Der fest eingefahrene Stellungskrieg der Grabenkämpfe mit seinen verhärteten Fronten muss überwunden werden, wollen beide Seiten voneinander profitieren. Für den Nutzer ist dabei vor allem eines entscheidend: Ob nun institutionalisierter Journalismus »von oben« oder aber die Demokratisierung der Informationen »von unten«, stets ist es für den nach Informationen Suchenden unabdingbar, die Stichhaltigkeit seiner Quellen zu überprüfen. Das auch in diesem Fall gilt, dass nicht per se von einer Überlegenheit der bislang etablierten Medien ausgegangen werden kann, wurde im Verlauf der Argumentation ebenfalls mehr als deutlich. Worauf es wirklich ankommt, hat Stefan Niggemeier jüngst wieder sehr eindrücklich auf den Punkt gebracht: 

„Die Front verläuft nicht zwischen Profis und Amateuren oder Redakteuren und Freien oder Verlagen und Einzelkämpfern oder zwischen Print und Online. Sie verläuft zwischen gutem Journalismus und schlechtem Journalismus. Es ist wirklich so einfach.“ [34]

Vor allem aber versteht sich dieser Essay auch als dezidierte Aufforderung zur aktiven Partizipation eines jeden. Nie war es einfacher, kreativ tätig zu sein und mit seinem Schaffen eine interessierte Öffentlichkeit zu erreichen. Die Verbesserung eigener Kompetenzen, die Erweiterung der eigenen Fähigkeiten oder aber auch das Schaffen von Netzwerken, all dies sind Chancen und Möglichkeiten, die einem das Internet mit seinen kommunikativen Möglichkeiten bieten kann. Ob man diese Potentiale angesichts der durchaus vorhandenen Nachteile, wie zum Beispiel den teilweisen Verlust der Privatsphäre, nutzen möchte, muss aber letztlich jeder für sich entscheiden. Ich habe meine Entscheidung jedenfalls längst gefällt und handele gemäß der in der Überschrift dieses Textes ventilierten Prämisse: »This is totally going into my Blog!« [35]

Unveränderter Abdruck aus Perspektivräume. Historische Zeitschrift aus studentischer Hand Jg. 1 (2010) Heft 1, S. 93-105, http://www.perspektivraeume.uni-hannover.de.

Anmerkungen

Empfohlene Zitierweise

Hellwig, Christian: „This is totally going into my Blog!“ Wikis, Blogs & Tageszeitungen: Medien am Scheideweg. aventinus nova Nr. 22 [20.07.2010] / Perspektivräume Jg. 1 (2010) Heft 1, S. 93-105, in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7885/

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Beitrags hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse.



Erstellt: 20.07.2010

Zuletzt geändert: 20.07.2010

ISSN 2194-1963