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aventinus recensio Nr. 20 [04.08.2010] 

Alexander Klaehr 

Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009. C.H. Beck Verlag, ISBN: 978-3-406-58357-5, 602 Seiten 

Das 20-jährige Jubiläum des Mauerfalls und der Ereignisse des Herbstes 1989 hat eine Vielzahl neuer Publikationen hervorgebracht, von denen Ilko-Sascha Kowalczuks Endspiel als ein geschriebenes Gemälde einer politischen und kulturellen Gesellschaftskrise hervorsticht, an deren Ende die „Machthabenden nicht mehr konnten wie sie wollten, und die Gesellschaft nicht mehr wollte, was ihr die Herrschenden bislang abverlangt hatten“ (S. 15).

Seine in drei Kapitel untergliederte Darstellung begreift sich explizit nicht als Vereinigungsgeschichte, weshalb das Buch auch mit dem 18. März 1990 – dem Tag der ersten und zugleich letzten freien Volkskammerwahlen in der DDR – schließt. Kowalczuks Darstellung bedient sich einer sozialhistorisch ausgerichteten Perspektive und begreift die große Politik als Rahmenhandlung, auf die die Gesellschaft reagiert. Und genau diese Reaktionen der Menschen auf die Taten ihrer Herrschenden machen diese Studie sehr lesenswert.

Kowalczuk begreift die Revolution als Bürgerbewegung“ (S. 15), da Menschen auf die Straße gegangen seien, die die ihnen zustehenden Bürgerrechte von ihrer Obrigkeit einforderten. Hierbei könnte man kritisch anmerken, dass Kowalczuk durch die Einbeziehung von Bürgerrechtlern auf der einen und den protestierenden Massen auf der anderen Seite einen sehr unscharfen Begriff gewählt hat. Denn einerseits porträtiert er in seiner Studie sehr differenziert und ausführlich die Bürgerrechtsbewegung vor 1989, und andererseits all jene, die sich erst ab September 1989 offen zu ihren Bürgerrechten bekannten, vorher aber eher passiv waren. Trotz dieses Widerspruchs macht seine Einteilung aber Sinn, die darin besteht, bewusst von Bürgern nur dann zu sprechen, wenn sie sich auch so verhielten – im Sinne zivilgesellschaftlichen Engagements und mit dem Bewusstsein eines kritischen Citoyen (S. 16). Von Bürgern zu sprechen, wo keine Bürgerrechte herrschten, mache keinen Sinn, und so unterlässt er dies dann auch konsequent und spricht stattdessen von „‚DDR-Menschen‘“ (S. 16).   

Das erste und auch umfangreichste Kapitel (S. 21-300) beschreibt die Gesellschaft der 1980er Jahre in ihrer ganzen Breite, führt kurz und prägnant die Stützen der Herrschaft vor Augen und verortet die DDR im internationalen System (Verhältnis zur Bundesrepublik, Stellung im östlichen Wirtschafts- und Militärbündnis sowie die Haltung der DDR zu den Reformen in der Sowjetunion). Es bildet das breite Spektrum der Ursachen für die vor allem um die Mitte dieses Jahrzehnts für die Menschen in der DDR gut sichtbar und spürbar einsetzenden Krise ab. 

Umfassend und detailliert beschreibt er, wie es durch diesen Unmut vermehrt zur Bildung von Oppositionsgruppen kam. Kowalczuk arbeitet dabei nicht nur die Heterogenität dieser Gruppen heraus, sondern hebt auch die intensiven Verbindungen zur evangelischen Kirche hervor, die ihrerseits oppositionellen Gruppen Schutz und Freiraum bot. Neben ihrer Bedeutung als Ort des Rückzugs für die Opposition zeigt Kowalczuk aber auch deutlich, wie die Konfliktlinien innerhalb der Kirche verliefen (Anpassung versus Opposition).

Durch die Beschreibung der jugendlichen Subkulturen wie Punks und Skins gewinnt der Leser Einblicke in die Alltags- und Lebenswelt junger Menschen, deren Freiheitsdrang in der DDR durch das Tragen von Jeans, zerfetzten Parkas und des Hörens von westlicher Musik zumindest eine imaginäre Erfüllung fand – zum Preis kulturell-gesellschaftlicher Ächtung und Kriminalisierung (S. 154f.).   

Im zweiten Kapitel wird die Krise der Diktatur beschrieben, deren Kennzeichen nach wie vor harte Repressionen waren. Kowalczuk macht durch individuelle Schicksale wie in der Ossietzky-Affäre deutlich, wie mit andersdenkenden Schülern umgegangen wurde (S. 291-297). Aber auch das Beispiel Martin Rohdes, der Parolen an Häuserwände malte, verdeutlicht, wie perfide und repressiv auf Abweichler reagiert wurde, die grundlegendste Bürgerrechte von ihrem Staat einforderten (S. 343-346).

Mit der inneren Erosion der DDR 1989 (S. 343) und der Fälschung der Kommunalwahlen im Mai desselben Jahres beginnt bei Kowalczuk der Untergang des Systems. Die Krisensymptome, die Kowalczuk mit Witzen und Anekdoten aus der DDR immer wieder anregend darstellt, lassen erahnen, warum im Herbst 1989 eine dermaßen hohe, explosionsartige Entladung des Unmuts und der Protestdemonstrationen zu verzeichnen war: jahrelang aufgestauter Frust. Aber es lässt sich eben nur erahnen. Die scheinbare Stabilität der DDR bis zum Sommer 1989 wird in der Studie zwar durch das Abbilden des Denkens und Handelns der verschiedenen sozialen Gruppen im DDR-Alltag verdeutlicht. Und es wird daraus auch ersichtlich, dass die Unzufriedenheit immens gewesen sein muss und genügend Potential für eine Revolution barg. Eine psychologisch schlüssige Begründung für die plötzlich einsetzende soziale Massenmobilisierung zu finden, gelingt ihm aber nicht. Zwar stuft auch Kowalczuk die Fluchtbewegung im Sommer 1989 als ein bedeutendes Ereignis ein (S. 346-354). Doch fehlt die Feststellung, dass die Flucht eine Neuorganisierung der Opposition (zu Neuem Forum oder der SDP etwa) forcierte und die Flüchtlinge somit indirekt zu den Massenprotesten beitrugen. [1] Es wäre sehr interessant gewesen zu erfahren, warum die in der DDR gebliebenen Menschen ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ihrem Ärger über das stagnierende System Luft verschaffen wollten. Etwa nur deshalb, weil die DDR aufgrund des Flüchtlingsproblems drohte, wirtschaftlich und gesellschaftlich auszubluten? Hier wäre es wünschenswert gewesen, eine neue These zu dem plötzlichen Anschwellen der Proteste zu lesen. Wie konnten sich so schnell neue zivilgesellschaftliche Strukturen bilden? Könnte man gar die Praxis der sozialistischen Massenmobilisierung für die kurzfristige Entstehung und Etablierung zivilgesellschaftlicher Strukturen verantwortlich machen, wie es Philipp Ther als möglichen Aspekt in die Diskussion miteinbringt? [2]     

Für Kowalczuk sind drei große Zäsuren entscheidend, die für den revolutionären Prozess markante Wegmarken setzten: der 9. Oktober 1989 in Leipzig, an dem es nicht zu einer chinesischen Lösung kam, der 9. November mit dem Mauerfall in Berlin sowie die Wahlen vom 18. März 1990 als Vollendung eines revolutionären Demokratisierungsprozesses (S. 15). Doch ist seine Darstellung dabei nicht ganz frei von Widersprüchen. Einerseits sieht er im 9. November das historisch endgültige Ende der SED-Diktatur“ (S. 460), andererseits sei die SED-Diktatur unwiderruflich am 18. März 1990 Geschichte geworden (S. 15).

Eine besondere Stärke des Buches liegt in der Einordnung der Ereignisse ab dem 9. Oktober 1989, die im zweiten und dritten Kapitel vorgenommen wird. Kowalczuk erteilt implizit dem Krenz'schen Wende-Begriff dadurch eine Absage, indem er auf die Glückwünsche der SED an die KP Chinas zur Niederschlagung der dortigen Proteste verweist (S. 401). Darüber hinaus skizziert er auch die bürgerkriegsähnlichen Vorbereitungen durch die SED (S. 388f.) und verweist anhand von Quellen auf den Vorschlag Krenz' zur Herbeiführung von Zuständen in der DDR, die eine chinesische Lösung gerechtfertigt hätten (S. 382). Den Wortschöpfer der Wende als scheinbaren Reformer entzaubert er dadurch als Hardliner und zeigt, dass bei der Verwendung des Wende-Begriffs Vorsicht geboten ist.

Die bewusst vorgenommene Trennung von Revolution und Wiedervereinigung als eigenständige Prozesse unterscheidet Kowalczuks Darstellung von manch anderen [3], was auf die Uneinigkeit über die Interpretation der Ereignisse von 1989/90 hinweist. Er betrachtet den revolutionären Prozess nicht aus der Perspektive des 3. Oktobers 1990, sondern vom Standpunkt des 18. März 1990, den er als Kulminationspunkt der revolutionären Ereignisse insofern versteht, als mit den Wahlen alle vormals gestellten politischen Forderungen nach Respektierung der Bürgerrechte und demokratischer Partizipation nun gänzlich erfüllt worden seien.

Ilko-Sascha Kowalczuk ist es gelungen, die intensiv recherchierte Geschichte einer Revolution anhand ihrer ursächlichen Zusammenhänge zu schreiben. Dabei vermeidet er teleologische Interpretationen, die den Umbruch 1989/90 geradlinig in Richtung des Regime-Sturzes, des Demokratie-Aufbaus oder der verhandelten Wiedervereinigung – die er aber nicht mehr erläutert – deuten würden. Kowalczuk unterstreicht das aktive Element der Demonstranten, die das Ende der Diktatur herbeiführten und attestiert den Ereignissen einen revolutionären Charakter. Er schließt sich damit einem breiten Konsens seiner Fachdisziplin an, [4] ohne sich dadurch der Geschichtspolitik, die Revolution als gesamtstaatliches Identifikationsobjekt herauszustellen,  verdächtig zu machen.

Insgesamt ist zu konstatieren, dass Kowalczuk ein angenehm lesbares Buch vorgelegt hat, das sich an Historiker und Nichthistoriker gleichermaßen wendet. Endspiel darf unter den Darstellungen der Ursachen und des Verlaufs der Revolution von 1989 in der DDR als bedeutender Beitrag gelten.

Anmerkungen

  • [1]

     Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Berlin 21998, S. 825.

  • [2]

     Vgl. Ther, Philipp: 1989 – eine verhandelte Revolution, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte 11.2.2010, URL: http://docupedia.de/docupedia/index.php?title=1989&oldid=69805 (letzter Zugriff 01.08.2010).

  • [3]

     So etwa das Buch von Ehrhart Neubert: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München – Zürich 2008.

  • [4]

     Vgl. dazu zum Beispiel Kocka, Jürgen: Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995; Steffanie, Winfried: Wende oder Umbruch?, in: Deutschland Archiv 31 (1998) 2, S. 282-285; Grieder, Peter: ’To Learn from the Soviet Union is to Learn How to Win‘: The East German Revolution, in: McDermott, Kevin; Stibbe, Matthew (Hrsg.): Revolution and Resistance in Eastern Europe. Challenges to Communist Rule, Oxford 2006, S. 157-174; Oxford et al. 1995; Wielgohs, Jan; Schulz, Marianne: Die revolutionäre Krise am Ende der achtziger Jahre und die Formierung der Opposition, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), herausgegeben vom Deutschen Bundestag, Band VII/2, Baden-Baden – Frankfurt am Main 1995, S. 1950-1994.

Empfohlene Zitierweise

Klaehr, Alexander: Rezension Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009. C.H. Beck Verlag, ISBN: 978-3-406-58357-5, 602 Seiten. aventinus recensio Nr. 20 [04.08.2010], in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7927/

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Erstellt: 01.08.2010

Zuletzt geändert: 05.12.2010

ISSN 2194-2137