Rezensionen

  / aventinus / Varia / Rezensionen

aventinus recensio Nr. 43 [30.10.2014] / Skriptum 4 (2014), Nr. 1 Unv. Nachdruck

Matthias Mader 

Rezension: Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u.a.: Böhlau 2013    


Noch einmal ungeliebte Theorie? So richtig beliebt sind Geschichtstheorie und Methodik nicht, gerne wird ihnen auch mit völligem Unverständnis für die Notwendigkeit der theoretischen Reflexion des eigenen Faches, seiner Grundlagen und Methoden begegnet. Jörn Rüsens ‚Historik‘ wird daran wahrscheinlich wenig ändern können. Nicht, weil es ein schlechtes Buch ist, sondern weil es so etwas wie ein geschichtstheoretisches opus magnum ist, dessen Beschäftigung mit den abstrakten und systematischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft nicht nur Inhalt und Aufbau prägen, sondern zuweilen bis tief in die Sprache reichen: Ein wirkliches Lesevergnügen ist das nicht immer.

Also eine neue ‚Historik‘? Schon der Titel macht klar, in welcher Tradition Rüsen sich selbst sieht. Es geht nicht um eine Theorie der Geschichte, sondern um eine theoretische Begründung der Geschichtswissenschaft –  denn Rüsen versteht, im Anschluss an Droysen, Historik nämlich als „Theorie der Geschichtswissenschaft.“ [1] Ganz so einfach bleibt es dann allerdings nicht, denn Rüsens ‚Historik‘ sieht sich zugleich als eine Fortschreibung Droysens in die Jetztzeit. Und natürlich lebt sie vom starken Bezug auf Rüsens eigene Arbeiten, vor allem natürlich seine großen dreibändigen Grundzüge einer Historik.

Diese neue ‚Historik‘ kann man daher durchaus als ‚Summe‘ der jahrzehntelangen Rüsen’schen Beschäftigung mit dem theoretischen Fundament – oder besser gesagt den Fundamenten – der Geschichte und ihrer Wissenschaft verstehen. Das heißt auch: Wer Rüsen und Droysen kennt, wird viel Bekanntes entdecken; und dennoch ist das Werk in keinem Fall ein müder Wiederaufguss: Rüsen erweitert und modernisiert die Elemente der Theorie der Geschichtswissenschaft – allerdings behutsam. Auf aktuelle Entwicklungen – wie beispielsweise die rege Diskussion um die ‚Digital Humanities‘ und die zahlreichen ‚Nebenkriegsschauplätze‘ der ‚Digital History‘, wie ‚Big Data‘ und Co. [2] – geht Rüsen nicht ein. Seine ganz sparsamen Ausführungen zu ‚Neuen Medien‘ – womit er wohl das Internet meint – zählen daher nicht zu den stärksten Momenten des Buches. Dies ist jedoch zu verschmerzen, gelingt es ihm doch die verschiedenen, teils traditionelleren, Komponenten gekonnt zu einer umfassenden Betrachtung zusammenzustellen. Das Erstellen einer solchen Zusammenschau kann und muss immer wieder neu geschehen – jede Zeit braucht ihre eigene Theorie.

Eine solche Synopsis gelingt natürlich nicht ohne die Konzepte, für die Rüsen in den letzten Jahrzehnten vor allem bekannt geworden ist: Die Typen historischer Sinnbildung etwa und die ebenso bekannten Typen historischer Erzählung, um nur zwei seiner bekanntesten Entwicklungen aufzuführen, spielen auch in der ‚Historik‘ eine große Rolle. [3]

Also: Was macht für Rüsen die Geschichte und ihre Wissenschaft aus? 

Im Kern steht die Idee der Lebensdienlichkeit der Geschichtswissenschaften in ihrer ganzen Breite: „Immer geht es darum, Zeit lebbar zu machen.“ [4] Diese radikale lebenspraktische Orientierung und Forderung aller Beschäftigung mit Vergangenheit als Geschichte erwächst für Rüsen aus der Kontingenzerfahrung der Zeitlichkeit des Menschen. Also aus der zwar individuellen Wahrnehmung von erklärungs- und interpreationsbedürftigen Sinnbrüchen doch aller Menschen zu allen Zeiten: Geschichte – und damit auch die Geschichtswissenschaft im besonderen – beanspruchen in Rüsens System den Status anthropologischer Fundamente. Die Rolle der Gegenwart als Ausgangspunkt von Geschichte und als Zweck oder Ziel für Geschichte wird von Rüsen immer wieder betont:

„Geschichte ist ein ereignishafter zeitlicher Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart (mit einem Ausblick in die Zukunft), der durch seine Repräsentation in der Form einer Erzählung Sinn und Bedeutung für die Orientierung der gegenwärtigen Lebenspraxis hat.“ [5]

Diese ausschließliche Betonung der Orientierungsfunktion für die jeweilige Gegenwart, welche der Geschichtswissenschaft zukommt und die Rüsen mit den Termini der Lebensdienlichkeit oder lebensweltlichen Verwurzelung apostrophiert, lässt (durchaus bewusst) wenig Spielraum für eine interesselose, autonome Wissenschaft. Sie betont doch zugleich eben auch die notwendige Humanität der Geschichte und entwirft damit die Geschichtswissenschaft als eine anthropologisch fundierte Wissenschaft.

Für die Geschichte als Wissenschaft ist insofern die Matrix historischer Sinnbildung von besonderer Bedeutung, die Rüsen in verschiedenen Ansätzen beleuchtet. Im Kern kreist er dabei aber immer um das Konzept der sogenannten historischen Sinnbildung. Dieses dient einerseits dazu, das Wesen der Geschichte zu erfassen, andererseits soll es dazu verhelfen, das Wesen der Geschichtswissenschaft mittels des historisch sinnbildenden Erzählens darzustellen.

Die Arbeit am historischen Sinn, zwischen Sinnvorgaben, Sinnpotenzialen und den eigentlichen Sinnbildungen steht also im Mittelpunkt der Geschichtswissenschaft. Das geschieht auf verschiedenen Ebenen, die Rüsen als fungierend, reflexiv oder pragmatisch klassifiziert.

Wesentlich für das Arbeiten mit Geschichte mit wissenschaftlichem Anspruch sind dabei – wie bei allen Wissenschaften – nicht nur Methode und Systematik sowie der immanente Wahrheitsanspruch, sondern auch Theorien als Erklärungsmuster. Rüsen identifiziert dabei als spezifische Modi der Geschichtswissenschaft ein auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten abzielendes nomologische Erklären, ein intentionales Erklären, welches ein Verstehen der Absicht der Handelnden anstrebt, und ein narratives Erklären, das mit dem Erzählen von Veränderungen arbeitet.

In Bezug auf die eigentliche Methode der Geschichtswissenschaft, also die kontrollierte und nachvollziehbare Herstellung von Sinn, bleibt Rüsen nahe bei Droysen. Zur Methodik gehören also die Heuristik, welche er in das Suchen – die historische Frage – und das Finden – die Empirie – unterteilt, die Kritik, als gemeinhin übliche Quellenkritik, und die Interpretation sowie als Ergänzung die von Rüsen nicht mehr den kognitiven Vorgängen der Methode zugerechnete Repräsenation im Narrativ. Diese Vorgänge bilden den Kern der geschichtswissenschaftlichen Methode des Buches. An ebendieser Stelle kommen dann auch die wohlbekannten vier Typen des historischen Erzählens der Sinnbildung ins Spiel: Das traditionale und exemplarische wie das  genetische und das kritische Erzählen. Alle vier Ausprägungen sind für Rüsen insofern, beziehungsweise nur dann, wissenschaftlich, wenn sie argumentativ arbeiten. Und das kann eben durchaus in allen vier narrativen Typen geschehen.

Auch wenn er seine Nähe oder Verwandtschaft zu Droysens ‚Historik‘, von der er nicht nur den Begriff entlieh, keineswegs verbirgt, sondern im Gegenteil durchaus betont, ist das Werk als solches – wie oben bereits betont – kein gestriger Entwurf.

Der Autor bemüht sich, aktuelle Debatten aufzugreifen und in sein System zu inkorporieren – genannt seien hier etwa der Gedächtnis-Erinnerungs-Diskurs [6] – oder diese zu relativieren beziehungsweise zurückzuweisen (so ergeht es vielen im weitesten Sinne als postmodern zu verstehenden Überlegungen wie etwa, ganz pauschal gesagt, dem Konstruktivismus.) [7] Manchmal mag das überzeugen, manchmal regt es durchaus zu Widerspruch oder zu eigenständigem und engagiertem Weiter-Fragen an – nicht unbedingt der schlechteste Impuls für eine theoretische Grundlagenarbeit.

Generell unbefriedigend bleibt jedoch Rüsens Umgang mit Narrativitätstheorien. Kein Wunder, möchte man sagen, dass Rüsen deren Grundüberlegungen skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, wenn Rüsen nach Stangl und Lämmert von der Narratologie nichts mehr wahrgenommen zu haben scheint, tauchen doch wesentliche narratologische Entwicklungen der letzten fünf Jahrzehnte nicht auf. Dies wird augenfällig, wenn man den Blick auf die Anmerkungen des Autors zur Intertextualität lenkt. An dieser Stelle wird schnell klar, dass in diesem Bereich wesentliche Positionen der Forschungen nicht wahrgenommen oder ignoriert wurden: Seltsam ist etwa der Vorwurf, die  Intertextualitätstheorie leiste keinen Bezug auf die Geschichte und deren Quellen – wo doch Julia Kristeva schon 1972 in Anschluss an Michail Michailowitsch Bachtin genau dies als wesentliches Merkmal der Intertextualität herausstellte und Intertextualität als Bewegung verstand, die „den Text in die Geschichte und die Gesellschaft“ [8] stellt.

Trotz der hier dargelegten Einschränkungen legt Rüsen ein durchaus zeitgemäßes systematisches Verständnis der Geschichtswissenschaften mit ihren Möglichkeiten und Leistungen vor. Dass vieles davon in den letzten Jahren und Jahrzehnten an anderen Orten – oft ausführlicher – schon einmal ausgeführt wurde, schadet kaum und ist wohl bei einem derartigen opus magnum unvermeidlich. Denn als umfassende „Theorie der Geschichtswissenschaft“ bietet die ‚Historik‘ eben eine über die Einzelstudie hinausgehende systematisch-synoptische Verknüpfung bekannter Konzepte und Theoriebausteine aus Rüsen’scher Feder. Und dazu gehört eben auch, und dies ist einer der unbedingten großen Vorzüge von Rüsens ‚Historik‘, dass auch die Geschichtsdidaktik und das Problemfeld Geschichtsbewusstsein im gesamten Raum des kulturellen Lebens elementarer Teil seiner vieldimensionalen Historik sind – wie es sich für die Theorie einer Geschichtswissenschaft, die sich als unmittelbar und unbedingt lebenspraktische Wissenschaft begreift, ja fast von selbst versteht.

Matthias Mader ist Student der Germanistik und der Geschichte im Studiengang Staatsexamen Lehramt für Gymnasien an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Lizenz für den Text und die Anmerkungen: Creative Commons Namensnennung-Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland (CC BY-ND 3.0)

Unveränd. Zweitpubl. von Matthias Mader: Rezension: Historik – Theorie der Geschichtswissenschaft – Jörn Rüsen, in: Skriptum 4 (2014), Nr. 1, URN: urn:nbn:de:0289-2014051754.  

Anmerkungen

  • [1]

    Rüsen, Historik, S. 23. 

  • [2]

    Siehe beispielsweise Landes, Lilian: (Digital) Humanities Revisited – Challenges and Opportunities in the Digital Age. Oder: Wie man Gräben isst, in: Rezensieren – Kommentieren – Bloggen: Wie kommunizieren Geisteswissenschaftler in der digitalen Zukunft? (ISSN: 2197-7569), URL: http://rkb.hypotheses.org/576 (04. 05. 2014) und Graham, Shawn, Ian Milligan, Scott Weingart: „Putting Big Data to Good Use: An Overview.“ In: The Historians Macroscope – working title. Under contract with Imperial College Press. Open Draft Version, Autumn 2013, URL: http://themacroscope.org. (04. 05. 2014) – Brian Croxall versucht Digital Humanities und Big Data auf den Punkt zu bringen, wenn er ausführt, dass „what digital humanities is about, […], is a type of pattern recognition. We are looking to have a computer help us find patterns in whatever we are studying.“ (Mitschrift eines Videobeitrages unter http://www.briancroxall.net/2014/03/07/the-red-herring-of-big-data/ (04. 05. 2014)).

  • [3]

    Siehe hierzu beispielweise Rüsen, Jörn: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983 sowie Rüsen, Jörn: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens. Frankfurt am Main 1990. 

  • [4]

    Rüsen, Historik, S. 243. 

  • [5]

    Rüsen, Historik, S. 46. 

  • [6]

    Rüsen bezieht sich hier vor allem auf den von Aleida und Jan Assmann sowie Maurice Halbwachs angestoßenen Diskurs. Siehe daher die einschlägigen Werke Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und poliltische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992 sowie Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt 1985 und den „terminologischen“ (Peschel, Panel 2) Vortrag „Soziales und kollektives Gedächtnis“ Aleida Assmanns unter URL: http://www.bpb.de/system/files/pdf/0FW1JZ.pdf (04. 05. 2014) in Peschel, Sabine: Panel 2: Kollektives und soziales Gedächtnis (Kulturelles Gedächtnis. China zwischen Vergangenheit und Zukunft), URL: http://www.bpb.de/veranstaltungen/dokumentation/128665/panel-2-kollektives-und-soziales-gedaechtnis (04. 05. 2014).

  • [7]

    Siehe beispielhaft Norden, Jörg van: Was machst Du für Geschichten? Didaktik eines narrativen Konstruktivismus. Freiburg 2011, den Rüsen wohl noch als „reinen“ Konstruktivismus auffassen würde, und Matthias Mader: Rezension: Was machst du für Geschichten? – Didaktik eines narrativen Konstruktivismus, in: Skriptum 2 (2012), Nr. 1, URN: urn:nbn:de:0289-2012050376.

  • [8]

    So in ihrem Aufsatz „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, hier zitiert nach dem Abdruck in: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, hrsg. von Dorothee Kimmich u.a., Stuttgart 1997, S. 335. 

Empfohlene Zitierweise

Mader, Matthias: Rezension: Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u.a.: Böhlau 2013. 322 Seiten. ISBN 978-3412211103.. aventinus recensio Nr. 43 [30.10.2014] / Skriptum 4 (2014), Nr. 1, in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/9877/

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Beitrags hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse.



Erstellt: 30.10.2014

Zuletzt geändert: 30.10.2014

ISSN 2194-2137