Rezensionen

  / aventinus / Varia / Rezensionen

aventinus recensio Nr. 18 (Winter 2008) 

Nicolas Krocker 

P. W. Rhode/G. Toniolo (Hg.), The Global Economy in the 1990s. A Long-Run Perspective, Cambridge 2006, 319 Seiten mit 46 Schwarzweißabbildungen und 54 Tabellen, ISBN 0-521-61790-1, 22,99 £ 

Theodore Levitt führte mit seinem 1983 erschienenem Aufsatz „The globalization of markets“ einen Begriff in die Wissenschaftslandschaft ein, der seit den ausgehenden achtziger Jahren in nahezu allen gesellschaftlichen Diskussionen als Schlagwort und Schlüsselbegriff dient. [1] Unter ökonomischen Vorzeichen ist die Globalisierung als vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung zu sehen, deren Ausgangspunkte der Welthandel in der Frühen Neuzeit bzw. das sich im 19. Jahrhundert konstituierende System der Weltwirtschaft sind. [2] In den 1960er und vor allem in den 1970er Jahren entstand wieder eine Weltwirtschaft im wirklichen Sinne, welche während der „Großen Depression“ Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre  zusammengebrochen war. [3] In diesem Kontext steht die „Gründung“ der damaligen G6 in Rambouillet am 15. November 1975 geradezu als Symbol für die Entfesslung der Marktdynamik einer globalen Wirtschaft. [4] Aufgrund der akuten Krise auf den internationalen Finanzmärkten – gekennzeichnet durch zahlreiche Insolvenzen von Kreditinstituten, staatlicher Finanzhilfe in Milliardenhöhe und einer weit verbreiteten Verunsicherung der führenden Wirtschaftsnationen – gewinnt das Interesse der allgemeinen Öffentlichkeit an der wirtschaftlichen Entwicklung der 1990er Jahre an Bedeutung. [5] Wichtige Determinanten sprechen dafür, dass sich seit ca. 1990 die Weltwirtschaft in einer neuen Phase der Globalisierung befindet: Erstens führte der Zusammenbruch der UdSSR zum Verschwinden des Antagonismus zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Daraus resultierten eine verstärkte Liberalisierung der Weltwirtschaftsordnung und die damit verbundene Abnahme wirtschaftlicher Hemmnisse. Zusätzlich – hervorgerufen durch eine Weiterentwicklung der Netzwerktechnologien – veränderte sich das Kommunikationsverhalten der gesamten Gesellschaft mitsamt ihrer Folgewirkungen für die Wirtschaft. [6]

Das von Paul W. Rhode und Gianni Toniolo edierte Buch stellt den Tagungsband einer Konferenz aus dem Jahr 2004 dar, welche an der Duke-University zum Thema „Understanding the 1990s: the long-run perspective“ abgehalten wurde. Alle Beiträge vergleichen wirtschaftliche Entwicklungen der 1990er Jahre mit denen vergangener Zeiten und zeichnen sich aufgrund der Kombination von narrativen, statistischen sowie theoretischen Elementen durch eine starke inhaltliche Kohärenz und Dichte aus.

Das einleitende Kapitel der beiden Herausgeber ist eine gelungene Mixtur aus stilistisch ansprechender Darstellungsweise und einem Abriss der folgenden Kapitel. Obwohl jeder Autor eine spezielle Herangehensweise zu seinem Untersuchungsgegenstand besitzt, tauchen bestimmte Themen in mehreren Beiträgen gleichzeitig auf: Peter L. Rousseau beschäftigt sich explizit in seiner Darstellung mit der möglichen Rolle des Computers als  „general-purpose technology“. Diese Thematik wird auch von Alexander J. Field, Gavin Wright,  Nicholas Crafts, Peter Temin, Riccardo Faini und Robert J. Gordon in ihren Aufsätzen diskutiert. Ebenso wird die Aktienmarktentwicklung der späten 1990er Jahre mit der Ende der 1920er Jahre von Eugene N. White, Peter Temin und Robert J. Gordon verglichen. Die wachsende Einkommensungleichheit in den USA sowie die europäischen Regulationen des Arbeits- und Produktmarktes tauchen ebenfalls mehrfach in den Darstellungen auf. Gleiches gilt für das Wachstum des totalen Produktivitätsfaktors und der Kapitalinvestitionen sowie der Folgen einer verbesserten Informationstechnologie für den US-amerikanischen und europäischen Markt.

Drei Beiträge setzen sich wegen ihrer spezielleren Thematik ein wenig ab. Barry Eichengreen schildert die Entwicklungen der internationalen Handels- und Finanzmärkte im letzten Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende, die gekennzeichnet sind von ansteigender Kapitalmobilität, Handelsverhandlungen, dem „Washington Consensus“ und der Asienkrise. Peter H. Lindert untersucht die  Sozialausgaben in den 1990er Jahren und wagt hierbei einen Ausblick auf die zukünftigen Aussichten für das System des Sozialstaates in Osteuropa sowie Ostasien. Das Schlusskapitel bildet Michael A. Bernstein, der die US-amerikanische Finanz- und Ordnungspolitik behandelt, hierbei leider streckenweise ins Polemische abgleitet.

Auffällig an den Darstellungen ist die teilweise starke Zentrierung auf den Analysebegriff der „general-purpose technology“ unter Vernachlässigung anderer für die 1990er zentralen Ereignisse wie z. B. der wirtschaftliche Aufschwung Großbritanniens oder die Transformationen der osteuropäischen und russischen Volkswirtschaften nach dem Ende des Kalten Krieges. Trotzdem liefert dieser Sammelband einen gründlichen und ausgezeichneten wirtschaftshistorischen Einblick in ein - aus Sicht des Historikers - noch schwer zu beurteilendes Jahrzehnt, welches aber gerade durch seine Dynamik und Umbrüche die aktuelle Entwicklung der globalen Wirtschaft entscheidend beeinflusst. Gleichzeitig wird die Forderung nach einer stärkeren Einbringung der fachlichen Kompetenz von Historikern zum Thema Globalisierung bzw. Globale Weltwirtschaft überzeugend eingelöst gemäß dem Postulat: „‘History’ becomes important.“ [7]

Anmerkungen

  • [1]

     Th. Levitt, The globalization of markets, in: Harvard Business Review 61 (1983), S. 92-102.

  • [2]

     Vgl. M. A. Denzel, Einführung, in: Ders. (Hg.), Vom Welthandel des 18. Jahrhunderts zur Globalisierung des 21. Jahrhunderts. Leipziger Überseetagung 2005 (Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte 92), Stuttgart 2007, S. 9-14, S. 9.  

  • [3]

     Vgl. H. James, Der Rückfall. Die neue Weltwirtschaftskrise, München 2003, S. 27.

  • [4]

     Vgl. Ders., Rambouillet, 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft, München 1997, S. 14.

  • [5]

     W. Wagner, Das verlorene Jahrzehnt. Was Amerika aus den Fehlern der Japaner lernen kann, in: Der Spiegel Nr. 41 (2008), S. 62.

  • [6]

     Vgl. P. E. Fäßler, Globalisierung. Ein historisches Kompendium, Köln 2007, S. 155-157.

  • [7]

     W. B. Arthur, Competing Technologies, Increasing Returns, and Lock-In by Historical Events, in: The Economic Journal 99 (1989), S. 116-131, S. 128. Vgl. Fäßler, S. 23.

Empfohlene Zitierweise

Krocker, Nicolas: Rezension P. W. Rhode/G. Toniolo (Hg.), The Global Economy in the 1990s. A Long-Run Perspective, Cambridge 2006, 319 Seiten mit 46 Schwarzweißabbildungen und 54 Tabellen, ISBN 0-521-61790-1, 22,99 £. aventinus recensio Nr. 18, in: aventinus, URL: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/7547/

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Beitrags hinter der URL-Angabe in runden Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse.



Erstellt: 14.05.2010

Zuletzt geändert: 27.05.2010

ISSN 2194-2137